Nach Rassismus-Streit um Abitur-Lektüre: Kultusministerin geht auf Kritik ein

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STUTTGART. Für die einen ist es eine Demütigung, für andere ein literarischer Schatz. Koeppens «Tauben im Gras» spaltet die Gemüter. Im Abi an beruflichen Gymnasien von Baden-Württemberg soll es zur Pflicht werden. Aber nach der scharfen Kritik an dieser Auswahl wird es nun doch eine Alternative geben. Zunächst hatte die Landesregierung keinen Handlungsbedarf gesehen.

„Vulnerable Gruppen schützen“: Baden-Württembergs Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne). Foto: Kultusministerium Baden-Württemberg

ach der Kritik an der Abitur-Lektüre «Tauben im Gras» ist das Kultusministerium auf der Suche nach einer Alternative fündig geworden. Ab dem Abitur 2025 können Lehrkräfte selbst entscheiden, ob sie statt Wolfgang Koeppens umstrittenem Roman aus dem Jahr 1951 das Buch «Transit» von Anna Seghers lesen lassen und besprechen. Das teilte ein Sprecher von Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) am Mittwoch in Stuttgart mit.

Koeppens Werk wird wegen seines rassistischen Vokabulars scharf kritisiert. Eine Ulmer Lehrerin hatte die Debatte ausgelöst, weil sie sich geweigert hatte, das Buch im Unterricht zu behandeln. Eine Petition gegen die Pflichtlektüre hat im Internet bis heute mehr als 12 300 Befürworter gefunden, darunter auch Lehrkräfte von Universitäten und Kulturschaffende. Nach Ansicht der Ulmer Lehrerin ist das Buch nicht für den Unterricht geeignet, da betroffene Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte während dessen Besprechung immer wieder rassistischer Diskriminierung ausgesetzt würden, «indem rassistische Begriffe, in diesem Fall das „N-Wort“, laut in der Unterrichtssituation vorgelesen werden».

Mit dem Begriff «N-Wort» wird heute eine früher gebräuchliche rassistische Bezeichnung für Schwarze umschrieben.

In ihrem von persönlichen Erlebnissen inspirierten Roman «Transit» aus dem Jahr 1948 erzählt Anna Seghers von einem deutschen Flüchtling, der vor den Nazis von Paris nach Marseille flieht, um von dort mit einem Schiff aus Europa entkommen zu können. Seghers gilt als eine der bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen («Das siebte Kreuz»). Als NS-Verfolgte ging auch sie nach Mexiko ins Exil.

Im baden-württembergischen Abitur kann damit in Zukunft Katharina Hackers «die Habenichtse» (2006) entweder mit Wolfgang Koeppens «Tauben im Gras» oder mit Seghers Exilroman verglichen werden. «Der Roman ermöglicht im Hinblick auf den geforderten Werkvergleich vielfältige Vergleichsaspekte, sie nehmen eine Gesellschaft in historischen Umbruchzeiten und damit auch die Welt der heutigen Leserinnen und Leser in den Blick», erklärte das Ministerium zur Entscheidung für Seghers.

«Bis zu einer Gesellschaft ohne Rassismus und Diskriminierung ist es ein weiter Weg»

Dass Koeppens Roman auch zur Wahl stehe, habe das Haus «nach reiflicher Überlegung» entschieden. «Wir vertrauen der Kompetenz in der Lehrerschaft in Baden-Württemberg und sind uns sicher, dass dieses kontroverse Thema mit der größtmöglichen Sorgfalt und der erforderlichen Sensibilität behandelt wird und insofern auch den Gesamtdiskurs weiterbringen kann», sagte der Sprecher des Ministeriums. Vor der Lektüre müsste aber in Fortbildungsangeboten und Begleitmaterialien die Verwendung des «N-Wortes» im Zusammenhang mit dem Thema Rassismus aufgegriffen werden, um für den Umgang im Unterricht zu sensibilisieren.

Man habe Handlungsbedarf erkannt, um vulnerable Gruppen im Unterricht zu schützen, sagte Schopper zudem dem SWR. Sprache verändere sich, auch wenn dieser Begriff für Schwarze Menschen früher häufig benutzt worden sei. Sie appellierte an die Lehrkräfte, keine diskriminierenden Worte im Unterricht zu benutzen.

«Tauben im Gras» soll bereits ab 2024 Teil der Abiturprüfung an beruflichen Gymnasien sein, die Alternative Seghers erst ab 2025. «Eine Ergänzung um ein zusätzliches Werk bereits zur Abiturprüfung 2024 ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr möglich», teilte das Ministerium mit. Das Werk Koeppens werde bereits seit Beginn des vergangenen Schuljahres an den Schulen unterrichtet. Für die Schülerinnen und Schülern dieser Schulen oder Kurse dürften aber keine ungleichen Rahmenbedingungen in der Qualifikationsphase zum Abitur entstehen.

Koeppens Roman wird von den einen als zu rassistisch für den Unterricht empfunden. Die anderen sehen das Werk im Kontext der Zeit. Auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat die Entscheidung für den Roman bislang verteidigt. Die Einführung jeder Lektüre werde umfassend begleitet, hatte er im März gesagt. Außerdem setze sich der Roman ja gerade mit dem Rassismus gegenüber den damaligen afroamerikanischen US-Soldaten in Deutschland auseinander. «Ich bin der Meinung, dass jede gymnasiale Lehrkraft imstande ist, das ihren Schülern entsprechend zu vermitteln», hatte der Ministerpräsident argumentiert. Es sei nun mal eine Tatsache, dass man heute bestimmte Wörter nicht mehr verwende, historisch dies aber getan habe.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hält die Debatte über die Lektüre für wichtig. «Bis zu einer Gesellschaft ohne Rassismus und Diskriminierung ist es ein weiter Weg», sagte Monika Stein, die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). «Auch die Schulen trifft diese Debatte täglich.» Lehrkräfte müssten bei ihren Bemühungen stärker unterstützt werden. «Wir brauchen eine bessere Fortbildung, mehr Angebote und multiprofessionelle Teams mit Schulsozialarbeiterinnen, damit wir auf Rassismus schnell und gut reagieren können», sagte Stein. News4teachers / mit Material der dpa

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AvL
9 Monate zuvor

Die Spracbhpolizei erreicht mit ihren Aktionen der Diffamierung von antirassistischen Büchern, die die damals üblichen und gebräuchlichen N -Begriffe als Stilmittel verwenden, um ein realistisches Bild der damaligen Sprache wiederzugeben, genau das Gegenteil, denn Rassisten werden sich darüber freuen, dass dieses antirassistische Wetk zensiert wird und schließlich in ferner Zukunft ganz vom Lehrplan gestrichen wird.

Georg
9 Monate zuvor
Antwortet  AvL

Geliefert wie bestellt…

Bei entsprechender Einordnung kann und soll man Schülern durchaus harte Kost unzensiert vorsetzen.

A.J. Wiedenhammer
9 Monate zuvor

Was für eine Debatte!
Niemand, der das Buch gelesen hat, kann diesem Rassismus unterstellen. Es BESCHREIBT Rassismus! So wie er stattgefunden hat und es immer noch tut. Sich dafür nur eines PC-Vokabulars bedienen zu müssen, bedeutete vermutlich schon einmal, auf direkte Rede komplett zu verzichten. Wie will man drastische Verhältnisse beschreiben, wenn man keine drastischen Worte verwenden darf?

Ich warte eigentlich schon auf die Neufassungen von Werken, die Sklaverei thematisieren: Dann brüllt in „Roots“ oder „Onkel Toms Hütte“ der brutale Aufseher, der einen aufmüpfigen Sklaven blutig prügelt, nicht mehr „Du verdammter N….“, sondern nur noch „Du verdammter Angehöriger einer afroamerikanischen Bevölkerungsgruppe mit dunkler Hautfarbe….“.
Absurd.

Last edited 9 Monate zuvor by A.J. Wiedenhammer
Georg
9 Monate zuvor
Antwortet  Redaktion

Dieser Lehrerin darf man aus dem Grund fehlende Neutralität unterstellen, die sich hoffentlich nicht auf ihren Unterricht auswirkt.

Was ist denn mit dem Geschichtsunterricht, bei dem deutschen Schülern andauernd die Nazizeit vor Augen geführt wird? Sollen sie die Streichung aus dem Lehrplan fordern? Ich hoffe nicht.

Georg
9 Monate zuvor
Antwortet  Redaktion

Eine Abiturprüfung prüft das im Unterricht erworbene Wissen ab. Die Aufarbeitung findet also im Unterricht davor statt. Außerdem dürfte auch in Baden Württemberg eine Aufgabenauswahl möglich sein. Es wurde im Abitur selbst also niemand gezwungen, den Text zu behandeln.

Walter Hasenbrot
9 Monate zuvor
Antwortet  Georg

Was meinen Sie denn mit „fehlender Neutrlität“?

Die Kollegin tritt gegen rassistische Diskriminierung ein. Das sollte jede Lehrkraft tun. ( Auch wenn sie sachlich in diesm Fall meiner Meinung nach daneben liegt.)

Wenn es um Rassismus geht, darf keine Lehrkraft neutral sein. Wir haben alle einen Eid auf das Grundgesetz abgelegt Dazu geört es, sich gegen Rassismus einzusetzen.

Ihre Aussagen zur Nazizeit kommentiere ich lieber nicht. Die sind eines Lehrers unwürdig.

Walter Hasenbrot
9 Monate zuvor
Antwortet  Redaktion

Das Wort kommt keineswegs auf fast jeder Seite vor.

Walter Hasenbrot
9 Monate zuvor
Antwortet  Redaktion

Aber eben nicht auf fast jeder Seite. Diese Darstellung und die bloße Zählung des Wortes erweckt ein falsches Bild des Romans

Herzliche Grüße

Ihr Walter Hasenbrot

A.J. Wiedenhammer
9 Monate zuvor
Antwortet  Redaktion

Das habe ich durchaus verstanden.
Zwischen Rassismus und Sprechen ÜBER Rassismus ist ein gewaltiger Unterschied, der MIR durchaus klar ist.

Besagte Lehrerin scheint da größere Probleme zu haben. Aus verlinktem Artikel:“…es wird ein rassistisches Bild (s)chwarzer Soldaten vermittelt…“, statt z.B.: Es wird mit drastischem Vokabular ein Bild vom Rassismus gezeichnet, dem schwarze Soldaten ausgesetzt waren.

Ihrer Schülerschaft scheint sie diese Differenzierungdfähigkeit einfach komplett abzusprechen. „Man könne (…) nicht von Schülern an beruflichen Gymnasien (!) erwarten, dass sie distanziert und sprachsensibel das Thema erörter(ten).“
Nein? Das darf man also nicht von Lesern einer Abiturlektüre erwarten?
Dann entspringt ein Großteil der Empörung vermutlich doch einer nicht ausreichenden Differenzierung?

Und selbst wenn nicht: persönliche Empfindlichkeiten von Einzelpersonen sind in diesem Zusammenhang irrelevant. (Anders sähe es aus, wenn diese Einzelpersonen tatsächlich inhaltlich durch einen Text diskriminiert würden.)
Ein Text , der so gefällig, flach und kantenlos ist, dass Nienandes Animositäten geweckt werden, ist m.M.n. für eine Abiturlektüre zu belanglos und vollkommen ungeeignet.

Georg
9 Monate zuvor

Genau das, was Sie detailliert ausführen, meinte ich mit neutral.

Walter Hasenbrot
9 Monate zuvor

Auch wenn die Kritik an „Tauben im Gras“ sachlich nicht begründet ist, ist die Wahlmöglichkeit im Sinne eines Kompromisses eine gute Lösung.

Maggi
9 Monate zuvor

Wenn man Personen, die den höchsten schulischen Bildungsabschluss machen nicht zutraut sich adäquate mit einer Lektüre auseinanderzusetzen, die dieses schwierig Thema behandelt, wem soll man es sonst zutrauen? Natürlich sind die Personen mit afrikanischen Wurzel damit betroffen und es ist nicht einfach sensibel mit dem Thema umzugehen, aber das ist unser Job.
Man kann nicht einfach jeden geschichtlichen Aspekt durch eine Zensur verschwinden lassen, so kann man nichts daraus lernen. Wie fühlt sich ein jüdisches Kind, das mit dem Antisemitismus der NS-Zeit durch Quellen im Geschichtsunterricht konfrontiert wird? Nicht gut, aber deshalb dieses Themengebiet zu streichen ist keine Option. Wie fühlen sich Kinder aus den früheren Kolonien, wenn sie mit Quellen dieser Zeit konfrontiert werden? Genauso.
Dieses Werk ist antirassistisch, auch wenn das N-Wort 100 mal darin vorkommt, ich muss es als Lehrkraft einfach einordnen können und dies meinen Schüler*innen vermitteln, dass sie, wenn sie über das Buch sprechen, dieses Wort nicht gebrauchen dürfen, außer sie zitieren wörtlich. So schwer ist das echt nicht.

mabi
7 Monate zuvor

Katharina Hackers „Die Habenichtse“ würde eigentlich viel mehr Diskussionsstoff liefern, besonders dann, wenn man ihr Interview dazu angehört hat (Lehrerfortbildung)
https://pt01.lehrerfortbildung-bw.de/w/6dfa5272-3eda-46e7-894e-773459c3247b.

Koeppen hat seinerzeit den Ton benutzt, der herrschte und Worte, die Verwendung fanden und somit ist sein Werk authentisch. Dass sprachliche Entwicklungen später Veränderungen fordern, konnte er nicht antizipieren.