Zu wenig Aussagekraft? Experten fordern differenziertere Noten

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NÜRNBERG. Mehr Schulnoten statt weniger: Nach Meinung zweier Nürnberger Schulexperten sind Zeugnisse zu wenig aussagekräftig. Dadurch falle es Unternehmen schwer, die Stärken von Schulabgängern richtig einzuschätzen.

Zeugnisse, und dann ab in die Ferien! Viele Schüler dürfte aber wundern, was zwei Nürnberger Schulexperten jetzt fordern: «Besser wären mehr statt weniger Noten», sagt der Leiter des Instituts für Pädagogik und Schulpsychologie Nürnberg (IPSN), Bernhard Jehle. Die Kompetenzen der Schüler würden heute in jedem Fach auf eine einzige Note reduziert, sagte er. Wo die Stärken der Schüler wirklich lägen, sei deshalb nur schwer abschätzbar, erklärte die Diplompsychologin Elka Stradtner. Ein Interview.

News4Teachers: Der Verband der psychologischen Berater appelliert an Eltern, Kinder mit schlechten Noten am Zeugnistag liebevoll zu unterstützen, nicht allein zu lassen und keinesfalls zu schimpfen. Das hört sich dramatisch an. Sind Schulnoten noch zeitgemäß?

Noten, Berichte oder zum Ankreuzen: Die Vielfalt der Grundschulzeugnisse verwirrt nicht nur Schüler. Foto: Felipe Lorente / Flickr (CC BY 2.0)
Bringen Schüler gute Noten nach Hause, wird das System nicht in Frage gestellt, sagen die Experten. Foto: Felipe Lorente / Flickr (CC BY 2.0)

Elka Stradtner: Diese Frage wird meistens nur bei schlechten Noten gestellt. Bei guten Noten wird das System selten hinterfragt. Eine Rückmeldung über die eigene Leistung ist wichtig. Allerdings sollte man in Noten auch nicht zu viel hinein interpretieren: Ein Schüler, der mathematisch begabt ist und deshalb eine 1 im Zeugnis stehen hat, hat ja vielleicht sogar weniger Leistung erbracht, als ein Schüler, der stundenlang büffelte, um sich von einer 5 auf eine 4 zu verbessern.

Bernhard Jehle: Auch gute Noten sind zu hinterfragen. Denn ob jemand mit einem Einser-Schnitt automatisch später die bessere Erzieherin oder der bessere Automechaniker ist als jemand mit einem schlechteren Zeugnis, das sei erst mal dahingestellt. Das Notensystem ist dazu nicht differenziert genug.

News4Teachers: Wie könnte das geändert werden?

Bernhard Jehle: Das hört sich vielleicht zunächst komisch an: Durch mehr Noten! Denn was bedeutet denn eine 2 in Deutsch? Zu Deutsch gehört Rechtschreibung, Stil, Wortschatz, Grammatik, kann ich gut argumentieren, kann ich gut gliedern. Das alles reduziert sich auf eine einzige Note. Die einzelnen Kompetenzen in den Fächern müssten die Noten ergänzen. Hinzu könnten Portfoliomappen kommen, aus denen hervorgeht, ob eine Schülerin zum Beispiel an einem Lese-Wettbewerb teilgenommen hat. Was bringt es, wenn jemand mit lauter Einsern Chirurg wird, aber zwei linke Hände hat, was im Abitur aber nicht geprüft wird.

News4Teachers: Was ist das größere Problem: Noten oder Eltern?

Bernhard Jehle: Eher die Eltern, die ihre eigenen Erwartungen oft aufs Kind projizieren.

Elka Stradtner: Es ist das normalste auf der Welt, dass Eltern das Beste für ihr Kind wollen. Das Beste heißt allerdings oft die beste Schulbildung. Kritisch zu sehen ist dabei, dass unsere Gesellschaft schulischen Erfolg noch immer daran misst, ob es jemand aufs Gymnasium geschafft hat. Unser Bildungssystem ist mittlerweile so offen, dass man mit jedem Schulabschluss auch später noch nahezu alles erreichen und nachholen kann. Leider ist das bei vielen Eltern nicht angekommen.

News4Teachers: Dann ist die Selektion doch das eigentliche Problem am Schulsystem?

Bernhard Jehle: Selbst in den skandinavischen Schulsystemen kommt früher oder später der Punkt, an dem sich die Schulwege trennen. Schulnoten haben auch die Funktion, Menschen bestimmten Berufsgruppen zuzuordnen – also ob ich Arbeiter, Angestellter oder Arzt werden kann. Die Frage ist: Führt unser jetziges Notensystem wirklich dazu, dass die Jobs an die Personen vergeben werden, die dafür am geeignetsten sind?

News4Teachers: Die Deutsche Bahn ist bereits dazu übergegangen, bei Bewerbungen nicht mehr auf die Noten zu schauen. Bewerber müssen sich stattdessen zunächst einem Internettest unterziehen. Ist das die Lösung?

Elka Stradtner: Bislang haben Noten für Unternehmen eine sehr zentrale Rolle gespielt, weil zu viele Bewerber für die Ausbildungsplätze zur Verfügung standen. Da wurde die erste Auswahl anhand der Noten vorgenommen. Wenn ich nicht mehr genug Bewerber habe, ist es irgendwann nicht mehr so spannend, auf die Note zu schauen. Dann ist die spannende Frage, kann ich jemanden so qualifizieren, dass er oder sie später mal die Aufgaben in seiner Tätigkeit erfolgreich erfüllen kann. Die Kompetenzen werden somit zunehmend wichtiger.

Bernhard Jehle: Und genau deshalb kann man allen Schülern und Eltern nur raten, Noten nicht zu ernst zu nehmen. Viele glauben, Noten machten eine Aussage über einen Menschen. Das ist falsch. Noten spiegeln die Leistungsfähigkeit in einer konkreten Schule, in diesem Schuljahr, in dieser Klasse und mit diesen Lehrern wider – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Roland Beck/dpa

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mehrnachdenken
10 Jahre zuvor

Dazu passt schön dieser Satz: „Ich war in der Schule und trotzdem ist aus mir etwas geworden.“