Studie: Von hui bis pfui – Ausstattung von Ganztagsschulen von Land zu Land extrem unterschiedlich

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GÜTERSLOH. Der Föderalismus in der Bildung schlägt mal wieder Kapriolen: Ganztagsschulen sollen helfen, die Lernchancen für alle Kinder zu verbessern. Doch wo «Ganztag» draufsteht, ist von Land zu Land etwas anderes drin. Bei Öffnungszeiten und Finanzierung von Zusatzpersonal klaffen die Vorgaben weit auseinander, wie eine neue Studie zeigt.

Obwohl nur 17 Prozent der in die 5. Klasse aufgenommenen Schüler eine Gymnasialempfehlunghatten, schafften 60 Prozent den Sprung in die Oberstufe. Schüler der Gesamtschule Barmen. Foto: Deutscher Schulpreis
Vorzeige-Ganztagsschule: Obwohl nur 17 Prozent der in die 5. Klasse aufgenommenen Schüler eine Gymnasialempfehlunghatten, schafften 60 Prozent den Sprung in die Oberstufe. Schüler der mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten Gesamtschule Barmen. Foto: Deutscher Schulpreis

An deutschen Ganztagsschulen gibt es von Bundesland zu Bundesland riesige Unterschiede bei den Lernzeiten und der Ausstattung mit Lehrern oder Erziehern. So liegt die Bandbreite dessen, was die Länder jährlich für zusätzliches Ganztags-Personal ausgeben, zwischen schmalen 1300 Euro pro Schulklasse einer gymnasialen Ganztagsschule (Sekundarstufe I) in Sachsen – und üppig bemessenen knapp 37 000 Euro in Rheinland-Pfalz.

Dies ist eines der Ergebnisse einer am Donnerstag vorgestellten Studie der Bertelsmann-Stiftung zum bundesweit wachsenden Ganztagsschulangebot in Deutschland. Die Analyse will erstmals die Lernbedingungen für die 1,27 Millionen Schüler in bindenden Ganztagsschulen vergleichbar machen – und die klaffen je nach Bundesland oder Schulform weit auseinander.

Von einem «Flickenteppich Ganztag» sprechen daher die Autoren der Studie. «Wir haben bundesweit einen Dschungel an unterschiedlichen Bestimmungen zur Verteilung von Ressourcen im Ganztag. Die riesigen Unterschiede legen offen, wie sehr es an gemeinsamen Standards für den Ganztag mangelt», fasste Dirk Zorn, Bildungsexperte der Bertelsmann-Stiftung, die Erkenntnisse des Reports zusammen. Für gleichwertige Lernchancen müssten die zuständigen Kultusminister der Länder dringend Mindeststandards vereinbaren.

So ist die zusätzliche Zeit, die Ganztagsschülern im Vergleich zu anderen zur Verfügung steht, abhängig von weit auseinander gehenden Vorgaben in den Ländern. Grundschüler in hessischen Ganztagsschulen verbringen 22 zusätzliche Stunden pro Woche an der Schule. In Thüringen, Sachsen und Nordrhein-Westfalen sind nur acht vorgesehen.

An weiterführenden Schulen sinkt im Durchschnitt die Zusatz-Lernzeit, die riesige Spannbreite je nach Land bleibt: Kommen Ganztagsschüler aus Hessen oder Hamburg auf überdurchschnittliche Werte zwischen 13 und 16,4 Extra-Stunden, so sind für Schüler aus Nordrhein-Westfalen und den ostdeutschen Flächenländern mit Ausnahme Brandenburgs in den höheren Klassen nur rund vier Mehrstunden vorgesehen.

Der Bertelsmann-Report moniert auch, dass Lernzeiten und Personalausstattung in vielen Ländern nicht aufeinander abgestimmt seien. So stellten die Länder Hessen und Bremen gerade mal so viel Zusatz-Personal zur Verfügung, dass 22 Prozent der Nachmittags-Extrazeit mit Fachkräften bestückt sind. Nimmt man die Grundschulen aus, stehen auch Sachsen und Thüringen mit ähnlichen Werten schlecht da. Die entstehende Lücke muss den Autoren zufolge mit kommunalen oder privaten Mitteln gefüllt werden – Lehrer besetzten diese Stellen nicht.

Für die Analyse haben sich die Bildungsforscher ausschließlich auf die Form der sogenannten gebundenen Ganztagsschule konzentriert – also Schulen, an denen die Teilnahme am längeren gemeinsamen Lernen für alle Pflicht ist und nicht offenes Angebot. dpa

Zum Bericht: Ganztagsschulverband fordert: Qualität von Ganztagsschulen verbessern

«Flickenteppich Ganztag» - eine Schulform mit viel Luft nach oben
Gleiche Lernchancen für alle, mehr Förderzeit für einzelne Kinder, willkommene Hilfestellung für berufstätige Eltern: Die Erwartungen an Ganztagsschulen waren und sind enorm hoch. Seit Jahren treibt die Politik den Ausbau dieser Schulform voran. Wie unterschiedlich die 16 Bundesländer etwa bei Lernzeiten und Personalausstattung vorgehen, legt eine vergleichende Analyse der Bertelsmann-Stiftung offen.

Welche Rolle spielen Ganztagsschulen in Deutschland?

Bis in die 90er Jahre gab es Gegenwind, besonders von konservativer Seite. Kritiker befürchteten, die lange Lernzeit reiße Familien auseinander. Der Wunsch nach mehr Berufstätigkeit von Frauen, vor 15 Jahren dann das miserable Abschneiden deutscher Schüler beim ersten PISA-Vergleichstest brachten die Wende – und ein vier Milliarden Euro teures Ausbauprogramm des Bundes zwischen 2003 und 2009. Inzwischen verkünden Politiker stolz, dass Ganztagsschulen im Bildungssystem fest verankert seien. Allerdings sieht die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Lage immer noch kritisch: Ein «unzureichendes Angebot» auch bei Ganztagsschulen in Deutschland behindere weiterhin Vollzeitbeschäftigung vor allem von Frauen, heißt es im OECD-Wirtschaftsbericht 2016.

Wie drückt sich die Ganztags-Entwicklung in Zahlen aus?

2005 hatte nur gut jede vierte Schule (28 Prozent) ganztägige Bildung und Betreuung im Portfolio. Bis 2015 hat sich dieser Wert auf 59,5 Prozent mehr als verdoppelt. An sechs von zehn Schulen gibt es also jetzt solche Angebote, genutzt werden sie von 2,7 Millionen der elf Millionen Schüler in Deutschland. Unterschieden wird zwischen offenen, freiwilligen Formen (zwei Drittel) und gebundenen Formen – hier müssen Schüler am Nachmittagsprogramm teilnehmen.

Was versprechen sich Experten vom Ganztagsunterricht?

Fachleute knüpfen daran hohe Erwartungen. «Die Ganztagsschule hat das Potenzial, Nachteile, die Kinder im Elternhaus haben, abzufedern und so die Chancengleichheit zu verbessern», sagt etwa der renommierte Bildungsforscher Klaus Klemm, der am Bertelsmann-Report federführend mitarbeitete. Er favorisiert gebundene Angebote, um den Unterricht zu entzerren. Studien haben gezeigt, dass dann auch zunehmend kostenlose Nachhilfeangebote zur Verfügung stehen.

Gibt es Erkenntnisse, was Ganztagsunterricht wirklich bringt?

Wer bis zum späten Nachmittag an der Schule ist, wird nicht unbedingt klüger – aber womöglich ein freundlicherer, ausgeglichenerer Mensch: So lässt sich die Mitte April veröffentlichte «Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen» (StEG) zusammenfassen. Die vierjährige Forschungsarbeit an 140 Schulen fand positive Wirkungen auf soziale Kompetenz, Motivation und Selbstbild der Kinder – wohlgemerkt: bei guten Ganztagsangeboten. Weiter heißt es: «Unmittelbare Effekte auf die Entwicklung ihrer fachlichen Kompetenzen zeigten sich jedoch nicht.» Die Studie fordert, Schulen sollten stärker auf Qualität achten – schnöde Hausaufgabenbetreuung durch Ehrenamtliche reiche nicht. Denn wichtig sei die Verzahnung mit den Unterrichtsthemen.

Was bedeutet eine Schmalspur-Aussattung für die Ganztagsangebote?

Wenn nur wenig Extra-Zeit und kaum Zusatz-Fachpersonal zur Verfügung stehen, wird das nicht viel mit der Ganztagsschule, kritisieren Bildungsforscher. «Das ist dann nah an reiner Betreuung. Es hilft berufstätigen Eltern – aber dass dort etwas pädagogisch Förderliches geschieht, ist nicht zu erwarten», sagt Klemm. Auch Bildungsökonom Ludger Wößmann vom ifo Institut meint, bisher sei das Ganztags-System oft kaum mehr als eine «Verwahrung der Kinder nach dem Mittagessen». Entzerrte Bildungsangebote und viel Zeit für individuelles Lernen seien weiterhin eine Ausnahme – und das, obwohl bei Elternumfragen Ganztags-Befürworter mittlerweile deutlich in der Mehrheit seien.

Was können die neuen Studien bewirken?

Es wird nicht gleich Geld für Ganztagsschulen regnen in den Ländern, aber die Studien sprechen doch eine klare Sprache: Mehr Personal und mehr Unterrichtsqualität – flächendeckend. Die Bildungsgewerkschaften lassen nicht locker: «Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass die Bildungschancen eines Kindes noch immer stark abhängig sind von dem Bundesland, in dem es zur Schule geht», sagt Udo Beckmann vom Verband Bildung und Erziehung. «Da müssen wir Geld in die Hand nehmen», sagt die Berliner Landeschefin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Doreen Siebernik. Und der Bundeselternrat verlangt eine «bundesweite Bildungsstrategie, die (…) das benennt, was Schule wirklich braucht – und festlegt, was es kostet und wer es bezahlt».

Und wie sieht es konkret in Vorzeige-Ganztagsschulen aus?

Beispiel Gesamtschule Wuppertal-Barmen, 2015 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet für ihre pädagogische Arbeit auch am Nachmittag. Direktorin Bettina Kubanek-Meis sagt: «Ganztag heißt bei uns, dass wir für die Schüler auch wirklich den gesamten Tag in den Blick nehmen. Unsere Idee ist eben nicht, nach einem straffen Vormittag ein Angebot anzuhängen in Form von Betreuung oder AGs. Bei uns verteilen sich Arbeitsstunden, freie Lernarbeit und Zusatzangebote über den ganzen Tag. Wenn ich Menschen bilden will, gehört dazu sehr viel mehr als nur die lehrplangemäßen Lerninhalte zu vermitteln. Wir können unseren Schülern einfach mehr Zeit geben.» Von Florentine Dame und Werner Herpell, dpa

 

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Pälzer
7 Jahre zuvor

So viel Anstrengung, so viel Propaganda, so viel Geld – und was kommt ‚raus?