Dogma der Teilchenphysik widerlegt: Kosmische Neutrinos haben Masse. Für diese Erkenntnis gibt’s den Nobelpreis.

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STOCKHOLM. Tausende Milliarden von ihnen durchströmen uns jede Sekunde: Neutrinos sind ebenso zahlreich wie schwer fassbar. Die Teilchen haben keine Masse, glaubten Forscher lange. Ein Irrtum, wie Physiker herausfanden und dafür jetzt den Nobelpreis bekommen.

Das Weltall - unendliche Weiten. Und sehr viele Neurinos. (Foto: NASA Gaddard Photo and Video/ Flickr CC BY 2.0)
Das Weltall – unendliche Weiten. Und sehr viele Neurinos. (Foto: NASA Gaddard Photo and Video/ Flickr CC BY 2.0)

Für fundamentale Erkenntnisse zum Standardmodell der Teilchenphysik erhalten der Japaner Takaaki Kajita (56) und der Kanadier Arthur McDonald (72) den Physik-Nobelpreis. Sie hätten die jahrzehntelange Annahme widerlegt, dass Neutrinos masselos seien, teilte die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften am Dienstag in Stockholm mit. Die höchste Auszeichnung für Physiker ist mit umgerechnet etwa 850.000 Euro (8 Millionen Schwedischen Kronen) dotiert. Neutrinos sind elektrisch neutrale Elementarteilchen und ein zentraler Bestandteil des Standardmodells der Teilchenphysik.

«Wir sind natürlich sehr zufrieden, dass wir dem Wissen der Welt in der Physik etwas auf einem sehr grundlegenden Level hinzufügen konnten», sagte McDonald in einer ersten Reaktion – auch wenn die Erfahrung gerade etwas «einschüchternd» sei. Was er mit dem Preisgeld mache, wisse er noch nicht. Auch Kajita zeigte sich dankbar und bescheiden: «Ich fühle mich sehr geehrt», sagte er. Seine Arbeit bringe der Menschheit nicht gleich Nutzen, erweitere aber den Horizont menschlichen Wissens.

Nach den Lichtteilchen, den Photonen, sind die Neutrinos die am zahlreichsten vorkommenden Teilchen des Universums. Die Erde wird beständig von ihnen bombardiert. Viele dieser mit nahezu Lichtgeschwindigkeit fliegenden Neutrinos entstehen bei Reaktionen der kosmischen Strahlung mit der Atmosphäre, andere bei den Kernreaktionen in der Sonne – einige Tausend auch ständig in unseren Körpern. So gigantisch der Schwarm schemenhafter Elementarteilchen ist, so schwierig war ihr Nachweis: Gewaltige Anlagen tief unter der Erdoberfläche wurden gebaut, um Störsignale vom Rauschen der kosmischen Strahlung oder spontanen radioaktiven Zerfallsreaktionen zu vermeiden.

Raymond Davis (USA) und Masatoshi Koshiba (Japan) wurden für den Nachweis von Neutrinos aus dem All schließlich 2002 mit dem Physik-Nobelpreis geehrt. Eine Frage allerdings blieb: Warum wurden in den Anlagen oft weit weniger Neutrinos nachgewiesen als erwartet? Schon in den 1960er Jahren hatten Forscher zum Beispiel die Zahl der Neutrinos berechnet, die bei den Kernreaktionen in der Sonne theoretisch entstehen sollten. Doch die Analysen in den Super-Detektoren ergaben: Bis zu zwei Drittel der errechneten Neutrino-Zahl fehlten.

Einen mysteriösen Schwund erfasste Takaaki Kajitas Forscherteam auch am Super-Kamiokande-Teilchendetektor in einer alten Zink-Mine nordwestlich von Tokio. 1000 Meter unter der Oberfläche waren dort mehr als 11 000 Lichtdetektoren um einen 50 000 Tonnen fassenden Wassertank postiert worden. «Mehr als 100 Forscher arbeiteten an dem Super-Kamiokande-Experiment», erklärte Kajita.

Bei den sehr seltenen Kollisionen eines Neutrinos aus der Erdatmosphäre mit einem Atomkern oder einem Elektron in dem Tank entstanden winzige Lichtblitze – etwa 5000 solche Signale wurden in den ersten beiden Forschungsjahren erfasst. Aus den Daten leitete Kajita ab, dass einige Neutrinos auf dem Weg zum Detektor zwischen verschiedenen Sorten gewechselt hatten. «Das ist, als ob man sich im Supermarkt einen Birnen-Joghurt kauft und zu Hause plötzlich einen mit Erdbeere hat», erklärte Arnulf Quadt, Vorstandsmitglied der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG).
Sehr weit entfernt, am zwei Kilometer tief in einer Nickel-Mine gebauten Sudbury-Neutrino-Observatorium (SNO) in Kanada, spürte zeitgleich McDonalds Team den Geisterteilchen nach. Dem Physiker der Queen’s University in Kingston gelang der Coup ebenfalls: Er zeigte, dass von der Sonne kommende Neutrinos auf dem Weg zur Erde nicht verschwinden, sondern lediglich ihre Identität wechseln. «Die Entdeckung hat unser Verständnis von den innersten Materie-Vorgängen verändert und kann für unsere Sicht auf das Universum entscheidend sein», hieß es nun von der Akademie.

Das Phänomen, dass Neutrinos ihre Sorte wechseln können, wird Neutrino-Oszillation genannt: Die drei Sorten – Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino – wandeln sich spontan ineinander um. Überraschend war diese Entdeckung vor allem, weil solche Oszillationen nur möglich sind, wenn Neutrinos eine Masse haben. Im Standardmodell der Teilchenphysik aber wurden die Teilchen bis dahin als masselos angenommen. Mit den Entdeckungen wurde damit erstmals deutlich klar, dass das Modell offensichtlich noch nicht komplett ist. So winzig die – bisher noch unbekannte – Masse von Neutrinos auch sein mag: Wegen der immensen Zahl der Teilchen summiert sich ihr Gewicht nach Schätzungen auf das aller sichtbaren Sterne zusammengenommen.

«Für mich war das nur eine Frage der Zeit», sagte Manfred Lindner vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg zur Entscheidung der Juroren. Von den beiden Preisträgern hält er nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht viel: «Beide sind sehr umgängliche Menschen ohne Starallüren.» Auch am Dienstag betonte McDonald direkt die Leistung seines Teams: «Mit dieser Arbeit ist ein großer Kameradschaftsgeist verbunden», sagte er.

Die feierliche Überreichung der Auszeichnungen findet traditionsgemäß am 10. Dezember statt, dem Todestag des Preisstifters Alfred Nobel. McDonald freute sich bereits sehr auf den Termin: «Stockholm ist eine meiner Lieblingsstädte.» Auch Kajita werde zur Vergabe kommen, hieß es von der Akademie. Er ist Professor an der Universität Tokio und Direktor des Instituts für Kosmische Strahlungsforschung (ICRR).

Am Montag war der diesjährige Medizin-Nobelpreis an die Chinesin Youyou Tu, den gebürtigen Iren William Campbell und den Japaner Satoshi Omura gegangen. Die drei Forscher haben effektive Wirkstoffe gegen Parasiten-Infektionen wie Malaria und Flussblindheit entdeckt. An diesem Mittwoch werden die Preisträger in Chemie bekanntgegeben. dpa

Zum Bericht: „Max-Planck ist Champions-League“ – Chemie-Nobelpreisträger arbeitet gern in Göttingen

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