Warum ein Topmodel polnischen Schülern die Sexualität erklären muss

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WARSCHAU. Im katholischen Polen bricht sie ein Tabu: Das Topmodel Anja Rubik spricht offen über Sex und bringt nun sogar eine Art Lehrbuch heraus. Die Sexualerziehung in ihrer Heimat habe große Mängel, kritisiert sie. Erzkonservative Polen reagieren empört – sie bringen die gleichen Argumente, die auch in Deutschland etwa bei der „Demo für alle“ zu hören sind: Kinder würden „frühsexualisiert“, so heißt es.

Anja Rubik, hier auf dem Laufsteg, hat ein Aufklärungsbuch herausgebracht. Foto: Ed Kavishe, Fashion Wire Press / Wikimedia Commons (CC BY 3.0)
Anja Rubik, hier auf dem Laufsteg, hat ein Aufklärungsbuch herausgebracht. Foto: Ed Kavishe, Fashion Wire Press / Wikimedia Commons (CC BY 3.0)

Das polnische Topmodel Anja Rubik redet offen über Sex – im konservativen Polen eine Revolution. «Sex ist immer noch ein Tabu, auch unter Erwachsenen», bemängelt die 35-Jährige, die das mit ihrem neuen Aufklärungsbuch ändern will. «#Sexedpl», ein Non-Profit-Projekt des Models, handelt von Themen wie Verhütung, einvernehmlichen Sex und Homosexualität. Das Buch soll Fragen klären, die sich Jugendliche und Eltern in dem katholisch geprägten Land oft nicht zu stellen trauten, sagt Rubik, die für Chanel, Gucci und Dior modelte. Sie kreidet Polens Sexualerziehung große Mängel an: «Die meisten Teenager bekommen in Schulen nur falsche Infos zu hören.»

Denn in einem Land mit mehr als 90 Prozent Katholiken ist selbst der Sexualkundeunterricht von konservativen Ansichten der Kirche geprägt. «Ich war entsetzt», kommentiert Rubik Inhalte polnischer Schulbücher. «#Sexedpl» sei eine zeitgemäße Alternative. Für knapp fünf Euro soll es für möglichst viele Menschen erhältlich sein. Zum trendy Design sagt die 35-Jährige: «Das Buch soll Schülern nicht peinlich sein.» Sexualerzieher begrüßen ihr Projekt. «Alles, was auf dem Gebiet passiert, ist Gold wert», sagt Aleksandra Jozefowska, deren Nichtregierungsorganisation (NGO) namens «Grupa Ponton» Jugendliche an Schulen und mit einem Vertrauenstelefon berät.

Nach Angaben des von der nationalkonservativen PiS-Regierung geführten Warschauer Bildungsministeriums findet Sexualkunde unter dem Namen «Erziehung zum Leben in der Familie» statt. Jozefowska kritisiert: «Schon der Name deutet an, dass Sex in einer kirchlich geschlossenen Ehe stattfinden und der Fortpflanzung dienen sollte.» Das Fach wird zudem oft von Priestern oder Nonnen geführt. Die Sexualerzieherin bemängelt zudem, Lehrbücher würden seit Jahren von sogenannten Experten geschrieben, die eigentlich der Kirche nahe stehen. «Wir funktionieren als katholisches Land, in dem Familienwerte geschützt werden – was auch dazu führt, dass Verhütung nicht als etwas Normales, sondern als Bedrohung dargestellt wird.»

Eine Expertin des Bildungsministeriums sorgte bereits für Kontroversen: Verhütungspillen würden zum Tode führen, sagte Dr. Urszula Dudziak, die als studierte Theologin den Sexualkunde-Lehrplan mitentwirft.

Laut NGO-Studien bekommen Schüler auch im Unterricht falsche Informationen und stigmatisierende Äußerungen zu hören: Verhütung mache unfruchtbar und verursache Krebs; Mädchen, die Sex vor der Ehe hätten, würden keinen Mann finden; Homosexualität müsse behandelt werden – solche Kommentare sind laut «Ponton»-Studie im Unterricht gang und gäbe. «Das sind sicherlich nicht Informationen, die den Standards der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entsprechen», sagt Jozefowska. Sie sieht Polen bei der Sexualerziehung als Schlusslicht der EU.

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In Deutschland wird Sexualkunde von den Bundesländern organisiert. So ist in Bayern Familien- und Sexualerziehung gemeinsame Aufgabe von Elternhaus und Schule – findet aber zunächst ausdrücklich ohne «detaillierte anatomisch-physiologische Einzelheiten» statt. In Hessen sollen Themen wie Coming-Out oder Akzeptanz von Lesben und Schwulen Unterrichtsthemen sein, wie es in einer Übersicht des Wissenschaftlichen Diensts des Bundestags heißt.

Umstritten ist die Sexualerziehung auch in Deutschland: Unter dem Titel „Demo für alle“ hat sich eine konservative Gegenbewegung konstitutiert, die gegen eine angebliche „Frühsexualisierung“ zu Felde zieht. „Die übergriffige ‚Sexualpädagogik der Vielfalt‘ muss gestoppt werden! Es wird höchste Zeit, daß die Kultusministerkonferenz sich damit befaßt. Es ist nicht hinzunehmen, daß Kinder von übergriffigen Unterrichtsinhalten und sexualpädagogischen Methoden schockiert und beschämt nach Hause kommen“, so heißt es in einem aktuellen Aufruf (News4teachers berichtete).

In Polen lässt sich beobachten, wie eine rigide Sexualmoral wirkt. Polnische Schüler würden sich aus Mangel an Ansprechpartnern oft im Netz informieren, dort stießen sie als erstes auf Pornografie, sagt Jozefowska. «Davon werden sie erzogen.» So könnten viele Jugendliche extreme Sexpraktiken benennen – Basiswissen über den eigenen Körperbau fehle ihnen hingegen.

An Protesten beteiligt

Missstände in der polnischen Sexualerziehung beklagen Experten schon seit Jahren, zudem wurden Frauenrechte von der seit 2015 regierenden PiS weiter eingeschränkt. Die «Pille danach» gibt es nur noch auf Rezept. Die Partei, die ihre pro-kirchliche Haltung nicht vertuscht, trieb mehrfach Verschärfungen der ohnehin strengen Abtreibungsgesetze voran – ohne Erfolg. Der große Protest der Polinnen hielt die Regierung vorerst vor der Einführung eines Abtreibungsverbots zurück.

Rubik beteiligte sich an den Protesten und wurde so zu dem Buch inspiriert. 2017 brachte sie bereits eine Kampagne heraus, bei der polnische Promis in kurzen Videos von eigenen Erfahrungen – wie einem vergessenen Kondom oder dem ersten Gynäkologen-Besuch – erzählten. Die Aktion wurde mit rund zehn Millionen Klicks zum Erfolg. «Das war für mich ein Zeichen, weiterzumachen», sagt Rubik, deren Aktion das Bildungsministerium bisher nicht kommentiert.

Erzkonservative Kreise empört Rubiks Buch jedoch. So würden Kinder zum Sex verleitet, werfen Gegner ihr vor. Das Model hält dem entgegen: «Wir wollen Jugendlichen nicht nur Angst machen, Sex soll auch ein Vergnügen sein.» Dafür sei Wissen entscheidend. Rubik betont: «Sex zu haben bedeutet nicht, sich auszukennen. Das sind zwei verschiedene Sachen.» Von Natalie Skrzypczak, dpa

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