Sozioprudenz – neues akademisches Fach will soziale Klugheit untersuchen

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BONN. Der Bonner Soziologe Clemens Albrecht will nicht mehr und nicht weniger, als ein neues akademisches Fach im Lehrbetrieb etablieren.

Die Frage nach der praktischen Relevanz soziologischer Erkenntnisse ist so alt wie die Wissenschaft selbst. Erkenntnissen über soziale Beziehungen in Alltagssituationen praktisch anwendungsfähig zu machen und damit die soziale Intelligenz zu fördern, ist das Kernanliegen der „Sozioprudenz“. „Sozioprudenz fußt auf den Theorien der soziologischen Klassiker und greift dabei auch auf ganz alte Texte über die Klugheit zurück“, erklärt Prof. Clemens Albrecht von der Universität Bonn. An der Universität kann er für sich reklamieren, das Fach im akademischen Lehrbetrieb etabliert zu haben.

Schenken hat viel mit sozialer Intelligenz zu tun. Foto: fre-photos / Pixabay (P. L.)

Spätestens beim Einkauf im Supermarkt gibt es keinen Zweifel mehr: Weihnachten steht vor der Tür. Lebkuchen und Spekulatius senden eindeutige Signale aus. Das klassische Fest des Schenkens ist für Sozialwissenschaftler ähnlich wie Geburtstage und Hochzeiten ein gutes Beispiel, um die Regeln und Mechanismen des Gabentauschs zu untersuchen. Geschenke sind demnach nicht nur Waren mit einem ökonomischen Wert, sondern auch symbolische Güter, deren Austausch etwas über die soziale Beziehung zwischen dem Schenkenden und dem Beschenkten aussagt.

Bereits bei der Geschenkplanung spielt die Reziprozität, die Gegenseitigkeit von Gabe und Gegengabe, eine wichtige Rolle. Dazu gehört häufig, eine ausgeglichene Bilanz des Gabentauschs anzustreben: Die Geschenke, die man miteinander austauscht, sollen gleichwertig sein. Die spezifische Qualität eines Geschenks bemisst sich dabei nicht nur in seinem materiellen Wert, sondern berücksichtig auch andere Aspekte. Clemens Albrecht spricht in diesem Zusammenhang vom Gabeninvestment und unterscheidet vier Arten: ökonomisches, temporäres, soziales und symbolisches Investment.

Um die dem Thema Schenken innewohnende Sozioprudenz zu verdeutlichen, wählt Albrecht gerne Beispiele aus der Lebenswirklichkeit der Studierenden: „Studierende haben meistens nicht so viel Geld. Nehmen wir an, eine Studentin bekommt von ihrem Vater ein iPhone geschenkt. Etwas ähnlich Teures wird sie nicht zurück schenken können. Dafür schenkt sie dann ihrem Vater einen gemeinsamen Konzertbesuch. Dann kann er sich als Gegengabe einen Abend lang wieder jung fühlen.“ Indem die Studentin Zeit mit ihrem Vater verbringe, gleiche das temporäre und symbolische Investment dieses Geschenks den materiellen Wert des iPhones aus, erklärt Albrecht. Die Bilanz ist ausgeglichen, die soziale Beziehung ist in keiner Weise in Schieflage geraten.

Die Sozioprudenz will Erkenntnisse aus der Soziologie und der Sozialpsychologie für den Alltag nutzbar machen. Dafür greift sie auf die Theorien soziologischer Klassiker zu Themen wie Geselligkeit, Alltagsdiplomatie und geheimem Handeln zurück. Letztgenanntes fasst Albrecht unter dem Titel Intrige zusammen. Es geht um Lügen und Betrug, Tricks und Tarnung in Situationen, die jeder kennt. Der gelegentlich flexible Umgang mit der Wahrheit, erst recht, wenn diese unangenehm ist, wird dabei nicht nur unter dem moralischen Aspekt betrachtet, sondern grundsätzlich untersucht. Warum ist das Lügen überhaupt so weit verbreitet? Warum drücken wir ein Auge zu, auch wenn wir wissen, dass wir lügen oder angelogen werden?

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Intrige führt dann zwangsläufig zu ethischen Fragen. Um herauszufinden, wie junge Menschen diese heutzutage beantworten, stellte Albrecht den Studierenden am Beispiel von Sören Kierkegaards „Tagebuch des Verführers“ folgende Hausaufgabe: „Darf man andere Menschen als Mittel für eigene Zwecke benutzen, oder: Ist Sören Kierkegaard ein Schwein?“ Die eingereichten Essays haben Eingang in die „Sozioprudenz“ gefunden. Die von den Studierenden erstellten Arbeiten gaben Albrecht wichtige Impulse, wie er betont.

An der Universität Bonn gibt es im Master-Studiengang Soziologie mittlerweile den Profilbereich „Sozioprudenz in Organisationen“. Auch hier greift Albrecht auf die bewährte Methode zurück, theoretisches und praktisches Wissen miteinander zu verbinden. Die Studierenden bekommen praktische Aufgaben etwa im Bereich Bewerbungsgespräch und dokumentieren den von ihnen geplanten und durchgeführten Prozess, indem sie Grundkompetenzen der Sozioprudenz wie etwa Beobachtung, Beschreibung, Konversation oder auch Verhandlung anwenden. Daraus ließen sich dann wissenschaftliche Erkenntnisse für kluges soziales Handeln ableiten und theoretisch unterfüttern. Es gehe stets darum, akkumuliertes Alltagswissen für die Lehre nutzbar zu machen. Das Material der Studierenden beschert dabei auch dem erfahrenen Soziologen immer wieder „Aha-Erlebnisse“: „Denn ich bin ein großer Freund der kooperativen Lehre“, sagt Albrecht. Lehrende und Studierende bilden für ihn eine Lerngemeinschaft. (pm)

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Andreas Schwarz
3 Jahre zuvor

Was Sie wissen sollten: Die Sozioprudenz stammt nicht von Clemens Albrecht!

Herr Albrecht rühmt sich, die Sozioprudenz erfunden zu haben und vermittelt dabei in seinen Äußerungen den Eindruck, den Begriff der Sozioprudenz habe zuvor noch niemand verwendet – und er etabliere nun damit ein neues Fach. Das aber stimmt so ganz und gar nicht! Genauer gesagt, wird hier nämlich meine Idee unter seinem Namen publiziert.

Das Kernproblem dabei ist, daß mein Ursprungskonzept nun unter seinem Namen erscheint. Und er gegenüber der Öffentlichkeit so tut, als habe den Begriff der Sozioprudenz zuvor noch niemand benutzt. Jedoch stimmt dies überhaupt nicht. In Wirklichkeit kaperte Herr Albrecht seit 2014 gewissenlos mein ganzes Konzept. Und läßt mich jetzt als Begründer der Sozioprudenz völlig unerwähnt!

D. h., er erscheint als ‚Erfinder‘ und Begründer des Konzeptes und übergeht ganz leichtfertig meine vorangehende Idee und meine vorausgehende gedankliche Leistung – und die von ihm dagegen ins Werk gesetzte Markenlöschung. Dieses rücksichtslose Agieren aber will Herr Albrecht nun gänzlich vergessen machen und verschweigt deshalb einfach die Vorgeschichte.

Damit suggeriert Herr Albrecht dem Publikum allerdings sehr stark, daß vor ihm noch keiner das Konzept der Sozioprudenz behandelt habe und er nun quasi das erste Buch zur Sozioprudenz vorlege. Obwohl er natürlich sehr wohl um die Vorgeschichte und meine vorherige – von ihm ja höchst aggressiv bekämpfte – Markenregistrierung weiß. Und dies auch, trotzdem ich die Sozioprudenz ganz klar (noch weit bevor sie von ihm ab 2013/14 überhaupt an einer Hochschule angeboten wurde) schon 2011 als meine Idee markenrechtlich angemeldet hatte.

Auch wenn ich selbst kein Professor bin, würde ich doch davon ausgehen, daß man nicht einfach als Professor anderer Leutes Ideen – auch wenn diese Personen nicht im akademischen Betrieb tätig sind – nehmen darf, ohne auf deren vorausgehende (hier sogar: Marken-)Erfindung und deren primäres Recht hinzuweisen und ihnen ehrlich Tribut und Anerkennung zu zollen. Nicht jedoch, kann in Ordnung sein, stattdessen deren Ideen und Erfindungen einfach – unerwähnt – zu kapern. Und dann die Lorbeeren dafür zu ernten.

Dr. Andreas Schwarz