Frühkindliche Bildung als Anarcho-Programm: 50 Jahre Sesamstraße in Deutschland

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HAMBURG. Das Krümelmonster, Grobi und natürlich Ernie und Bert – Millionen Menschen in Deutschland sind mit ihnen groß geworden: Die «Sesamstraße» gibt es seit 50 Jahren. 2023 wird ordentlich gefeiert.

Grund zum Feiern: Ernie und Bert – hier auf einer Parade in einem US-Freizeitpark. Foto: VIAVAL TOURS / Shutterstock

Verträumt summt Ernie «Mein Hut, der hat drei Ecken» und schaut in der Gegend herum. Plötzlich kommt ein geheimnisvoll aussehender Mann im Trenchcoat vorbei. «Hey, Du!» raunt er Ernie zu und schaut sich dabei verschwörerisch um. Ob er etwas kaufen möchte, fragt er Ernie. «Was verkaufen sie denn?», antwortet Ernie fröhlich und der geheimnisvolle Verkäufer öffnet verstohlen seinen Mantel und zeigt ihm eine Acht, flüstert immer wieder «Psst!» und «Genau!». «Warum soll ich mir denn eine Acht kaufen?», denkt sich Ernie, doch der Mann lässt nicht locker: Dann wisse er immer, wie viele Arme eine Krake habe, wann es Frühstück gibt, wie viele Ruderer ein Achter hat.

An diesen Clip und zahlreiche andere – wie etwa den tollpatschigen Grobi als Kellner, Kermit als rasender Reporter oder das Kekse verschlingende Krümelmonster – müssen vermutlich Millionen Menschen denken, die seit den 1970er Jahren mit der «Sesamstraße» aufgewachsen sind. «Der, die, das, wieso, weshalb, warum?»: 18.30 Uhr war «Sesamstraßen»-Zeit. «Ich habe die Sesamstraße geliebt und jeden Abend auf meine gestreiften Popstars Ernie und Bert gewartet – vorm Fernseher im ebenfalls gestreiften Schlafanzug. Was für ein anarchisches Fernsehglück!», erinnerte sich «Tagesthemen»-Moderatorin Caren Miosga (53) bei der Aufzeichnung der Jubiläumssendung.

Erstmals ausgestrahlt wurde die «Sesame Street», so der Originaltitel, am 10. November 1969 im US-Fernsehen. Die Idee, eine Sendung speziell für Vorschulkinder zu machen, hatte die amerikanische Fernsehproduzentin Joan Ganz Cooney. Sie konnte den legendären Puppenspieler Jim Henson für die Sendung gewinnen. «Er hasste die Idee, ein Kleinkinderstar zu sein, aber dann hat er an seine eigenen Kinder gedacht und zugesagt», erinnerte sich Cooney. Die neue Kindersendung richtete sich an sozial schwächere Familien und spielte in einer fiktionalen Straße mitten in New York, mit rauchenden Gullys und scheppernden Mülltonnen.

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«Die Wahrnehmung und Stärkung der Eigenkompetenz, eine positive Wertevermittlung und ein unmittelbarer Bezug auf die Lebens- und Erfahrungswelt der Vorschulkinder hierzulande sind Grundlage aller Geschichten der Sesamstraße seit 50 Jahren»

Als in Deutschland ab 1973 synchronisierte Original-Folgen ausgestrahlt wurden, protestierte ein Bündnis aus Eltern, Erziehern und Wissenschaftlern gegen das Flair der amerikanischen Straßenszenen, das mit der Lebenswelt deutscher Kinder nichts gemein habe. Am 2. Januar 1978 startete eine «deutsche Sesamstraße» als Rahmenhandlung, die der Norddeutsche Rundfunk (NDR) federführend produzierte. Neben einer neuen Kulisse gab es auch zwei neue Puppen: den leichtgläubigen Bären Samson («uiuiuiuiui») und die altkluge Tiffy, die zusammen mit Schauspiel-Stars wie Henning Venske, Liselotte Pulver, Uwe Friedrichsen oder Horst Janson auftraten.

«Die Wahrnehmung und Stärkung der Eigenkompetenz, eine positive Wertevermittlung und ein unmittelbarer Bezug auf die Lebens- und Erfahrungswelt der Vorschulkinder hierzulande sind Grundlage aller Geschichten der Sesamstraße seit 50 Jahren», sagt NDR-Redakteur Holger Hermesmeyer. Damit das Angebot zeitgemäß bleibe, habe der NDR die «Sesamstraße» vielfach weiterentwickelt. Beispiele seien die Reihe «Eine Möhre für zwei» mit den Puppen Wolle und Pferd, ebenso die Ernie & Bert-Songs mit Prominenten – von Herbert Grönemeyer über Helene Fischer bis Jan Delay.

Standen früher noch Zahlen und Buchstaben im Vordergrund, stehen heute eher soziales und emotionales Lernen auf dem Programm. «Leitfragen sind zum Beispiel: Wie gehe ich mit mir und meinen Mitmenschen um? Oder: Wer bin ich? Welche Gefühle habe ich?», sagt Hermesmeyer. Auch Themen wie Natur- und Umweltschutz, Klimawandel, Ernährung, Diversität, Leben mit Behinderung oder Krankheit werden passend für die Zielgruppe der Drei- bis Sechsjährigen aufbereitet. Etliche Proteste handelte sich der NDR ein, als er 2003 die Sendung von ihrem angestammten Vorabendplatz ins Morgenprogramm verlegte.

«Die Basics bringt dir die Sesamstraße bei: das Ding mit dem Zählen, was ist fern, was ist nah, alle diese Sachen», erinnert sich Comedian Torsten Sträter. «Ich mochte besonders gerne Oskar aus der Mülltonne. Den hab ich sehr geliebt», sagt der 56-Jährige. Schauspielerin Meltem Kaptan lernte mit der Sendung mehr als nur die deutsche Sprache: «Pädagogisch wertvoll war die Sesamstraße und wir hatten den Auftrag, dass wir als Migrationskinder gutes Deutsch lernen sollten», erinnert sich die 42-Jährige. «Das war so das Leben, was du dir als Migrantenkind gewünscht hast: alle bunt, jeder ist unterschiedlich, aber es funktioniert – alle leben ohne Streit zusammen.» Von Carola Große-Wilde, dpa

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kanndochnichtwahrsein
1 Jahr zuvor

Das waren noch Zeiten.
Wir haben freiwillig ganz pünktlich auf dem Sofa gesessen, fertig gewaschen im Schlafanzug, ohne Diskussionen und Sesamstraße geschaut. Wir haben dabei freiwillig oder aus Versehen gelernt. Vor allem wussten wir noch, wo der Aus-Knopf war.
Und dann sind wir schlafen gegangen.

Ich bedauere meine Schüler, die meinen, sie müssten mitten in der Nacht chatten oder daddeln, die vollkommen übermüdet den Schulweg antreten, sich auf nichts mehr einlassen können, in einem Hamsterrad aus meist geistlosem Konsum (Sorry, wollte gerade aus Versehen „Dünnschiss“ schreiben, aber das wäre sicherlich ungerecht einigen auch heute noch kindgemäßen Angeboten der Medien gegenüber…), um dann festzustellen, dass in der Schule andere Regeln gelten, denen viele von ihnen nicht mehr gerecht werden können.
Wie groß muss am Ende ihre Enttäuschung sein, wenn wir (Elternhaus, Schule, Umfeld) es nicht mehr schaffen, sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, sodass sie am Ende mit 16, 17 Jahren in einer Welt aufwachen, die plötzlich Bereitwilligkeit, Verstehen, Leistung (nein, m.E. kein böses Wort…) erwartet.
Aber vielleicht erledigt sich dieser Kulturschock irgendwann, wenn ihre Arbeitgeber der gleichen (Un-)Kulturgeneration angehören und alle in der gleichen Liga spielen.

Ich mag mir das nicht vorstellen, auch nicht die Folgen von in weiten Teilen der Bevölkerung nicht mehr gelingender Erziehung und Bildung… man mg mich gerne „altmodisch“ nennen… Gestern war vielleicht nicht alles besser, aber heute ist auch nicht alles besser – warum soll dann morgen alles besser werden???

Vielleicht gibt es irgendwann eine „slow-show“-Bewegung, mit der Eltern ihren Kinder einen Gegenpol zu oftmals verdummenden, mindestens aber überfordernden und sozial isolierenden Einflüssen heutiger Medien bieten können.

potschemutschka
1 Jahr zuvor

Bei der „slow-show“ – Bewegung wäre ich sofort dabei.

Pit2020
1 Jahr zuvor

Ernie und Bert, Grobi, Kermit, Krümelmonster … haben den (aka uns) Kids früher mehr Werte und Wissen (= was anderes als „Kompetenzen“) beschert als so manche Bildungs- und Methodenreform-Ideen und noch mehr Erlasse etc. der letzten 20 Jahre in Summe.

Dil Uhlenspiegel
1 Jahr zuvor
Antwortet  Pit2020

Ernie und Bert … sind die nicht mitterweile geschieden?

Ich war auch beeindruckt von der Allwissenden Müllhalde bei den Fraggles. Ich glaube, sie hat mich zum Lehramt gebracht.

Last edited 1 Jahr zuvor by Dil Uhlenspiegel
Realist
1 Jahr zuvor

„anarchisches Fernsehglück“

??? Sesamstraße war vieles, aber bestimmt nicht anarachisch, es sei denn man leidet unter einer Wahrnehmungsverzerrung. Die Charaktere in der Sesamstraße hatten halt alle ihren eigenen Kopf und waren nicht so „gestreamlined“, wie man es wohl heute als Anspruch an eine Kinder- bzw. Jugendsendung stellen würde. Waren halt andere Zeiten, damals.

Ron
1 Jahr zuvor

Die Sesamstraße war in ihren Ursprüngen Bildungsprogramm. Dann kam Tiffi und der Klamauk.

Indra Rupp
1 Jahr zuvor

Ich habe als Kind gefragt, ob Ernie und Bert verheiratet sind. Das Wort „schwul“ kannte ich noch nicht. 😉

Und nicht vergessen, nach der Sesamstraße kommt noch das Sandmännchen!

Empfehlen kann ich auch „Es war einmal…“ für die Bildung. Meine Kinder sind wegen dieser Serie wandelnde Sachkunde /Geschichtsbücher 🙂 und merken nicht einmal, dass sie sich dabei bilden (war auch garnicht beabsichtigt).

Löwenzahn nicht vergessen!

Ich versteh nicht, was aus den ganzen schönen Kinderfilmen und Sendungen geworden ist. Man findet bei Saturn und Co kaum noch etwas davon. Disney, wenn überhaupt. Von Astrid Lindgren auch fast nichts mehr. Stattdessen lauter namenlose Billigserien. Mit viel gequäke und gekreische, Zeichentrickfiguren mit extrem großen Augen und anderen unnatürlichen Zügen. Und das bewährte „peng, boing, zisch, doing, grrr,…“. Vermutlich sind ganze Filme schon zu anstrengend geworden und ohne grelle Töne und Farben werden die Kinder auch bei 10minütigen Serien unaufmerksam.

Nicht zu vergessen, Schleich kommt zum Spielen mitunter auch nicht mehr gut, weil unbeweglich. Ein Glück in dieser Sache, dass meine Kinder eine hochsensible Mutter haben. Ansonsten bringt diese Eigenschaft auch viele Nachteile, aber dank ihr kann ich kein laufendes Fernsehprogramm ertragen und wir haben deshalb nur DVD. Und wir haben auch kein dudelndes Spielzeug. So können meine Kinder auch drei Stunden mit Schleich spielen. Ist aber ein anderes Kind zu Besuch da, stellt man oft fest, dass kein Spiel länger als fünf Minuten interessant ist. Ich fand Kinderbesuch bei uns deshalb oftmals total anstrengend und kam mir vor, als wäre ich die berufliche Erzieherin und muss die ganze Zeit motivieren, Interessen und Phantasie wecken, ansonsten geht es in Überdrehtheit, Ärgern, Streiten, Aufmerksamkeit heischen und Grenzen testen über. Freispiel Fehlanzeige! Was ist der Grund? Vielleicht neben Medien der durchstrukturierte Ganztag? Meine Kinder waren nie im Ganztag, haben immer miteinander und mit zwei Nachbarinnen gespielt – da musste nie etwas strukturiert werden.
Aber kam dann ein Kind aus der Schule zu uns, wunderte man sich oft, dass man Acht/Neunjährige nicht mehr für einfaches Spielzeug, geschweige denn Freispiel begeistern kann. Auch nicht für einen normalen Kinderfilm, zB bei einer Übernachtung.

Riesenzwerg
1 Jahr zuvor
Antwortet  Indra Rupp

Das ist ganz klar die „Entertain-mich“-Generation.

Traurig.

Die kennen auch keine Langeweile mehr. Das hat bei uns immer zu Ideen geführt… 😉