MÜNSTER. Lesen und Schreiben sind Grundpfeiler der Bildung – doch immer mehr Kinder erreichen die Schule, ohne grundlegende Vorläuferfähigkeiten entwickelt zu haben. Maria-Valentina Westermann, Projektleiterin des Lernservers, erklärt, wie Deutschlands umfassendstes Diagnose- und Förderprogramm für die Rechtschreibung Lehrkräften nun auch dabei hilft, gezielt die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb zu schaffen – auch in späteren Jahren noch. Ein Gespräch über neue Herausforderungen, veränderte Kindheitserfahrungen und praxisnahe Lösungen.

Was war der Anlass, sich konkret mit dem Thema Vorläuferfähigkeiten zu beschäftigen?
Maria-Valentina Westermann: Tatsächlich erscheint das nicht so naheliegend, weil wir erst einmal davon ausgehen, dass das, was wir unter Vorläuferfähigkeiten verstehen, mit Schuleintritt gesichert sein sollte. Aber wir beobachten immer häufiger, dass Kinder beispielsweise noch motorische Schwierigkeiten haben, was sich etwa beim Umgang mit Schere oder Stift zeigt. Das fällt im Schulalltag auf und stellt Lehrkräfte vor Herausforderungen: „Wie gehe ich darauf ein? Was mache ich mit diesen Kindern?“
Mittlerweile häufen sich Rückmeldungen von Schulen, die berichten, dass Kinder in der fünften Klasse weder lesen noch schreiben können. Diese Kinder hatten regulär vier Jahre lang die Grundschule besucht. Gespräche mit Verantwortlichen wie aber auch die bei uns eingehenden Rechtschreibtests zeigten deutlich, dass es sich hier nicht um Einzelfälle handelt, sondern wir es mit einem neuen Phänomen zu tun haben. Sehr schnell war uns klar, dass in solchen Fällen eine normale Rechtschreibförderung nicht greift. Wir mussten Lehrkräften etwas an die Hand geben, um überhaupt erst einmal grundlegende Voraussetzungen für eine zielführende Rechtschreibförderung zu schaffen.
Gemeinsam mit einem interdisziplinären Team aus Sprachwissenschaft, Informatik, Pädagogischer Praxis und Lerntherapie erforschten Prof. Dr. Friedrich Schönweiss und sein Team an der Universität Münster, wie Rechtschreibfehler entstehen, was es braucht, um aus ihnen lernen zu können – und welche Chancen dabei moderne Technologien bieten.
Aus dieser Arbeit ist unter dem Namen „Lernserver“ ein System entstanden, das computergestützte Förderdiagnostik und die Bereitstellung individualisierter Förderpläne und Förderübungen vereint. Inzwischen ist der Lernserver über 700.000 mal zum Einsatz gekommen, mit Tools wie HP5-basierten interaktiven Lernmaterialien, aber auch Qualifizierungsinitiativen ergänzt worden, und soll Lehrkräften bei der Diagnose und Förderung ihrer Schülerinnen und Schüler Zeit und Kraft sparen. www.lernserver.de
Hier ist das Material zur Förderung der Vorläuferfähigkeiten herunterladbar (kostenpflichtig).
Vorläuferfähigkeiten, welche sind das außer der von Ihnen ja schon angesprochenen Motorik?
Maria-Valentina Westermann: Es gibt fachliche Vorläuferfähigkeiten, wie beim Rechnen das Verständnis von Mengen. Beim Lesen und Schreiben geht es darum, Schrift als Kommunikationsmittel zu begreifen und zu lernen, dass Wörter aus Silben und Buchstaben gebildet werden. Kinder erfahren das normalerweise im Vorschulalter und gerade auch im Kindergarten – etwa, wenn sie merken, dass auf Schildern etwas steht oder sie mehr und mehr Buchstaben als solche erkennen können. Es gibt aber auch allgemeine Vorläuferfähigkeiten, die geistige und körperliche Bereiche betreffen, wie visuelle Wahrnehmung oder das Unterscheiden von Wichtigem und Unwichtigem, zum Beispiel bei Wimmelbüchern. Motorik und kinästhetische Wahrnehmung sind generell wichtige Entwicklungsbereiche, nicht zuletzt aber auch entscheidend für das Einhalten von Abständen zwischen Buchstaben, Wörtern oder Ziffern, wodurch diese überhaupt erst vernünftig identifizierbar werden. Solche Fähigkeiten entwickeln sich durch sinnliche und körperliche Erfahrungen in Familie oder Kita. Wenn diese fehlen – etwa durch übermäßige Nutzung von Smartphones –, fehlt es oft an wichtigen Grundlagen.
Digitalisierung und ein verändertes Freizeit- und Spiel-Erleben spielen also eine wichtige Rolle. Beim Lesen und Schreiben kommt bestimmt aber auch hinzu, dass vielen Kindern zu Hause nicht vorgelesen wird, oder?
Maria-Valentina Westermann: Ja, wenn Kindern nicht vorgelesen wird, fehlt ihnen oft die Lust, in Geschichten einzutauchen und Schrift als eine Art Generalschlüssel zu begreifen. Lesen und Schreiben ermöglichen gesellschaftliche Teilhabe und sozialen Zusammenhalt. Kinder wollen in der Regel lesen und schreiben lernen, um an der Welt der Erwachsenen teilzuhaben. Wenn sie diese Motivation nicht entwickeln konnten, muss man ihnen auf die Sprünge helfen. Kinder, die den Einstieg in die Schrift schon geschafft haben, können sie sogar verlieren, wenn das Schreiben aufgrund mangelnder Anleitung oder unzureichender motorischer Voraussetzungen mühsam und anstrengend ist. Immer häufiger berichten mir Lehrkräfte, dass Kinder Schmerzen beim Schreiben haben, weil sie den Stift falsch halten oder verkrampfen.
Was ist die Grundlage für das von Ihnen entwickelte Material zur Förderung der Vorläuferfähigkeiten?
Maria-Valentina Westermann: Vieles entstammt unserem Materialpool für die individuelle Förderung. Bei bestimmten Problembereichen, wie Buchstabenspiegelungen oder Seitigkeitssicherheit, greifen wir auch in der Rechtschreibförderung auf Material zum Ausbau basaler Fähigkeiten zurück. Im schulischen Bereich war das bisher eher kein Thema, während es aber im lerntherapeutischen Bereich eine durchaus wichtige Rolle spielte. Wir haben dieses Material nun gesondert aufbereitet, ergänzt und angereichert, unter anderem durch das Berücksichtigen weiterer wichtiger Grundlagenerfahrungen. Dies alles liegt nun in Form schul- und unterrichtstauglicher Übungen vor. Unser Ziel ist es, einen rundum erfolgreichen Schriftspracherwerb zu ermöglichen, wozu eben zunehmend auch gehört, die notwendigen Voraussetzungen dafür in den Blick zu nehmen.
Also hatten Sie schon Bezüge zu Vorläuferfähigkeiten, die Sie jetzt ausgearbeitet haben?
Maria-Valentina Westermann: Genau. Diese Bezüge waren schon immer vorhanden, vor allem dann, wenn die Förderung mit lerntherapeutischen Aspekten verbunden werden musste. Jetzt haben wir dies alles für den schulischen Bereich zusammengefasst und zugänglicher gemacht.
Sind die Materialien speziell für Lehrkräfte?
Maria-Valentina Westermann: Ja, sie richten sich in besonderer Weise an jene Lehrkräfte, die sich dieser Erweiterung ihrer Aufgaben stellen wollen. Gleichzeitig haben wir natürlich auch Lerntherapeuten und andere Fachkräfte im Blick. Die neuen Werke sind auch für den Ganztag interessant, da viele Übungen und Spiele eingebaut sind, die in unterschiedlichsten Kontexten eingesetzt werden können. Vor allem geht es darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, welche Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb nötig sind, wie Defizite erkannt und ausgeglichen werden können. Lehrkräfte sollen keine Ergotherapeuten werden, aber wir möchten schon ihren Blick für diese Themen schärfen. Diese Materialien bieten deshalb die Kombination von Qualifizierung, Wissen und praktischen Übungen, was besonders in neu entstehenden Feldern wie dem Schulfach „Sichere Basis“ in Niedersachsen dringend benötigt wird.
Sie haben erwähnt, dass lerntherapeutische Expertise in Ihr Material eingeflossen ist. Können Sie die Zusammenarbeit mit den Lerntherapeuten genauer erklären?

Maria-Valentina Westermann: Ganz genau. Unsere Autorinnen und Autoren sind selbst Lerntherapeuten und Psychologen, die ihre Expertise einbringen und sie im Laufe der Jahre immer mehr auch für den schulischen Kontext verfügbar gemacht haben. Wir stehen im stetigen Austausch mit Förderkräften, Lehrkräften und Lerntherapeuten. Sie geben uns Rückmeldungen darüber, was gebraucht wird, und wir tauschen uns darüber aus, wie Förderung gestaltet werden sollte. So konnten wir das Material kontinuierlich weiterentwickeln.
Es gibt also einen fortlaufenden Dialog mit Praktikern?
Maria-Valentina Westermann: Ja, sowohl mit Fachleuten aus Schulen als auch aus dem lerntherapeutischen Bereich. Dazu kommen Eltern, die ebenfalls wertvolles Feedback liefern und sich immer mehr einbringen wollen. Der Lernserver wurde von Professor Schönweiss ja als Open-End-Bildungsprojekt gegründet und folgt dieser Prämisse bis heute. Bildung und Schule sind keine statischen Systeme; sie müssen sich zumindest in Teilbereichen ständig fortentwickeln und manchmal auch komplett neu erfinden dürfen. Der Lernserver ist ein dynamisches, sich stetig weiterentwickelndes Kooperationsprojekt, natürlich auch mit abgeschlossenen, weil bewährten Elementen wie der Münsteraner Rechtschreibanalyse.
Können Sie schätzen, wie viele Lerntherapeuten involviert sind?
Maria-Valentina Westermann: Das ist schwer zu sagen, da unser Bildungsnetzwerk über die Jahre gewachsen ist und trotz aller inhaltlichen Ernsthaftigkeit einen offenen Charakter hat. Einige haben vor längerer Zeit wertvolle Beiträge geleistet, andere arbeiten seit über zehn Jahren regelmäßig mit uns. Wir stehen mit mehreren Dutzend Lerntherapeuten im Austausch, ebenso mit Lehrkräften – darunter auch solchen, die beide Funktionen ausüben. Das kommt immer häufiger vor. Viele von ihnen nutzen den Lernserver und besuchen Fortbildungen bei uns, um ihr Wissen zu erweitern und an das Kollegium weiterzugeben. Kürzlich hatten wir den Fall einer Lerntherapeutin, die inzwischen als Lehrerin tätig ist und zusätzlich bei uns geschult wurde.
Könnte Ihr Material auch in Kitas eingesetzt werden?
Maria-Valentina Westermann: Ja, definitiv. Obwohl es für den schulischen Bereich entwickelt wurde, eignet es sich in großen Teilen auch für die Vorschule.
Gibt es eine Möglichkeit, den Entwicklungsstand von Vorläuferfähigkeiten zu diagnostizieren?
Maria-Valentina Westermann: Aktuell bieten wir das noch nicht an, sind aber in wissenschaftlichem Austausch. Unsere Materialien verstehen sich als Soforthilfe für Lehrkräfte, die mit Kindern arbeiten, die grundlegende Fähigkeiten wie phonologische Bewusstheit, Figur-Grund-Differenzierung, Umgang mit Schere und Stift oder richtiges Sitzen noch nicht entwickelt haben. Wir verstehen es als Erste-Hilfe-Maßnahme für akute Probleme, wie sie beispielsweise in Klassen mit hohen Defiziten auftreten. Wobei wir leider befürchten müssen, dass sich diese Problematik nicht so schnell verflüchtigen wird, sondern als Dauerherausforderung ernstgenommen werden muss.
Sie betonen den individuellen Blick auf Kinder. Was genau meinen Sie damit?
Maria-Valentina Westermann: Der Lernserver war von Anfang an darauf ausgelegt, Lehrkräften zu helfen, jedes Kind individuell zu betrachten, ohne den Unterricht komplett in Einzelförderung aufzulösen. Heute erleben wir jedoch oft Unsicherheit bei Lehrkräften, besonders in leistungsheterogenen Gruppen: Was kann, darf und muss ich mit den Kindern machen? Unsere Materialien sind flexibel einsetzbar, unabhängig von Klassenstufen. Defizite in den basalen Fähigkeiten müssen behoben werden, egal, wie alt das Kind ist – auch in der fünften Klasse. Es ist wichtig, dass wir Vorläuferfähigkeiten fördern, weil sie die Grundlage für den Schriftspracherwerb und späteres Lernen bilden. Dazu zählen auch sinnliche Erfahrungen, wie das Ertasten von Formen oder das Arbeiten mit verschiedenen Materialien. Diese Kompetenzen sind essenziell, um später auch technische Möglichkeiten effektiv nutzen zu können.
Hier ist das Material zur Förderung der Vorläuferfähigkeiten herunterladbar (kostenpflichtig).
Effektive Rechtschreibförderung: Wie die Zusammenarbeit mit Eltern und Förderkräften gelingt.