Bundesland bildet jetzt schon Sechstklässler zu künftigen Kaufleuten aus (und das zieht bei Eltern und Schülern)

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MÜNCHEN. Die bayerische Wirtschaftsschule ist ein echtes Unikat: Als einzige berufliche Schule in Deutschland können Schüler sie bereits ab der 6. Klasse besuchen. Mit praxisnaher kaufmännischer Ausbildung und einem anerkannten Abschluss ist sie ein Erfolgsmodell – so erfolgreich, dass es der Freistaat nun ausbaut. Doch offenbar ist nicht jeder begeistert von der Expansion.

Früh übt sich? Illustration: Shutterstock

Die bayerische Wirtschaftsschule ist ein Unikat in Deutschland: Sie ist die einzige berufliche Schule, die ab der Jahrgangsstufe 6 von Kindern und Jugendlichen besucht werden kann. Sie ist eine Berufsfachschule, die es in vier-, drei und in zweistufiger Form gibt. Sie umfasst in fünfstufiger Form die Jahrgangsstufen 6 bis 10, in dreistufiger Form die Jahrgangsstufen 8 bis 10 und in zweistufiger Form die Jahrgangsstufen 10 und 11.

Im O-Ton des bayerischen Kultusministeriums klingt das so: „Zu den Besonderheiten des bayerischen Schulwesens zählt eine Schulart, die seit Generationen kaufmännische Nachwuchskräfte ausbildet: die Wirtschaftsschule. Sie ist eine berufsvorbereitende Schule, die eine allgemeine Bildung und eine berufliche Grundbildung im Berufsfeld Wirtschaft und Verwaltung vermittelt. Rund 17.000 Schülerinnen und Schüler besuchen derzeit eine Wirtschaftsschule. Sie zählt gemäß Art. 14 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen zu den beruflichen Schulen (Berufsfachschule). Die Wirtschaftsschule führt zum bundesweit anerkannten mittleren Schulabschluss.“

Und sie tut das offenbar erfolgreich. Angesichts der großen Resonanz von Eltern und Schülern wird das Angebot der Wirtschaftsschulen im Freistaat nun ausgebaut. Einerseits quantitativ: Es soll mehr Standorte geben und bestehende Standorte werden um weitere Züge erweitert.  Andererseits qualitativ: Die Wirtschaftsschule wird auch inhaltlich ausgeweitet, indem künftig mehr Einrichtungen bereits im sechsten Schuljahr (statt erst im siebten) mit Eingangsklassen starten. „Mit der Entscheidung, die Wirtschaftsschule auszubauen, ist das Ziel verbunden, die berufliche Bildung und im Besonderen die Wirtschaftsschule weiter zu stärken“, so heißt es beim Kultusministerium.

Warum eigentlich? „Die Wirtschaftsschule vermittelt ihren Schülerinnen und Schülern neben einer allgemeinen Bildung eine vertiefte kaufmännische Grundbildung und bereitet auf eine entsprechende berufliche Tätigkeit vor. Neben der theoretischen Bildung ist in einem besonderen Umfang auch die praktische Anwendung des Gelernten Ziel des Unterrichts“, schreibt das Kultusministerium.

Und weiter: „In einzigartigen schuleigenen Übungsunternehmen vollziehen die Schülerinnen und Schüler möglichst praxisnah die Tätigkeiten kaufmännischer Sachbearbeitung anhand konkreter Geschäftsfälle nach, die das Lernen steuern. Dies ermöglicht nicht nur einen Einblick in die Bedingungen und Denkweisen der modernen Arbeitswelt, sondern vermittelt auch Schlüsselqualifikationen wie vernetztes Denken, fördert ganzheitliches und verantwortliches Handeln sowie Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit.“

„Hinter den neuen Lehrplänen steht die pädagogische Leitidee der selbstständigen, verantwortungsbewussten und situationsgerechten Anwendung erworbenen Wissens in verschiedenen Handlungsfeldern“

Den Lehrplänen an der Wirtschaftsschule liegt das schulartübergreifende Konzept „LehrplanPLUS“ zugrunde. Hintergrund: Der „LehrplanPLUS“, ein umfassendes Lehrplanprojekt, legt den Schwerpunkt auf Kompetenzorientierung. „Diese Kompetenzen gehen über reines Wissen hinaus und haben stets konkrete Anwendungssituationen im Blick. Die Schülerinnen und Schüler schaffen sich also ‚Werkzeuge‘, die sie zur Lösung lebensweltlicher Problemstellungen, zur aktiven Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und an kulturellen Angeboten sowie nicht zuletzt zum lebenslangen Lernen befähigen“, informiert das Schulamt des Landkreises München.

Beim Kultusministerium heißt es dazu: „Hinter den neuen Lehrplänen steht die pädagogische Leitidee der selbstständigen, verantwortungsbewussten und situationsgerechten Anwendung erworbenen Wissens in verschiedenen Handlungsfeldern.“ Die mathematisch-naturwissenschaftlichen Inhalte erleichterten den Zugang zu technischen Berufen in Industrie sowie Handwerk und erhöhten die Chancen für weitere schulische Anschlüsse wie den Besuch der Fachoberschule. „Eine verpflichtende Abschlussprüfung im Fach Mathematik ist nicht vorgesehen. Alternativ kann eine Prüfung im Fach Übungsunternehmen abgelegt werden. Dies trägt den unterschiedlichen beruflichen und schulischen Perspektiven der Schülerinnen und Schüler Rechnung.“

Die Zugangsvoraussetzung: ein Zeugnis mit einer Gesamtdurchschnittsnote von mindestens 2,66 aus den Jahresfortgangsnoten in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch im Zwischenzeugnis oder im Jahreszeugnis (alternativ unter Berücksichtigung der Ergebnisse einer Aufnahmeprüfung in die Mittlere-Reife-Klasse der Mittelschule erzielbar).

„Neben einer fundierten Allgemeinbildung ist die berufliche Grundbildung ein Kernelement des Bildungsauftrages der bayerischen Wirtschaftsschule, die dieser Schulart ein unverwechselbares Profil verleiht“, so verlautet das Kultusministerium. „Als berufliche Schule setzt sie dabei im Unterricht eigene Akzente. So gründet der Erfolg der Wirtschaftsschule auf dem pädagogischen Anspruch, die Schülerinnen und Schüler durch fächerübergreifendes und handlungsorientiertes Lernen auf die Herausforderungen der privaten und beruflichen Lebenswelt optimal vorzubereiten.“

Das zieht offenbar – so sehr, dass Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) das Angebot nur mit Vorsicht ausweitet. „Die Auswahl der neuen Modellschulen erfolgte mit Bedacht und in enger Abstimmung mit dem bestehenden Schulangebot vor Ort“, erklärte sie. Einzelne Anträge werden deswegen derzeit auch wegen nicht auszuschließender größerer Auswirkungen auf benachbarte Schulen zurückgestellt. Aus Sicht des Staatsministeriums wurde hier die Gesamtverantwortung für alle bayerischen Schulen im Blick behalten. Im Klartext: Die Wirtschaftsschule könnte sonst der Realschule den Rang ablaufen. News4teachers

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Andreas
1 Monat zuvor

Woher wissen die, ob Kaufleute in fünf oder zehn Jahren noch gebraucht werden? Das ist einer der Berufszweige, der durch KI ersetzt werden wird.

Heinz
1 Monat zuvor

Die Wirtschaftsschule war schon vor 25 Jahren bei Schülern beliebt, die Schwächen in Mathematik hatten. Da deren Zahl offenbar auch in Bayern wächst, nimmt natürlich auch die Beliebtheit dieser Schulform zu!

An der Wirtschaftsschule kann man die zentrale Prüfung in Mathematik zum Erwerb der Mittleren Reife vermeiden, was wohl zu besseren Durchschnittsnoten führt. Dies verschlechtert allerdings die Chancen auf den erfolgreichen Besuch der FOS/BOS, da diese den Realschulstoff voraussetzen. Immerhin wird an den Wirtschaftsschulen mittlerweile der normale Mathematikstoff vermittelt, was früher nicht der Fall war.

Irgendwie ist es seltsam, dass ausgerechnet bei Kaufleuten die Mathematik angeblich sekundär ist. In meinem Wirtschaftsstudium basierten nahezu alle Vorlesungen und Seminare auf mathematischen Modellen.

ed840
1 Monat zuvor
Antwortet  Heinz

Könnte daran liegen, dass die WS nicht auf ein Wirtschaftsstudium vorbereitet, sondern auf eine kaufmännische Berufsausbildung . Und da geht es mehr um Wirtschaftsrechnen, Buchführung , KLR, Tabellenkalkulation, SAP etc.,.

Heinz
1 Monat zuvor
Antwortet  ed840

Es ist doch immer die Rede von Durchlässigkeit. Die Wirtschaftsschule sorgt aber für Nachteile, wenn anschließend das (Fach-) Abi angestrebt wird und dies wirkt sich dann natürlich auf die Studierfähigkeit aus.

Auch in Bayern ist die Anzahl der verliehenen Studienberechtigungen in den letzten 15 Jahren massiv gestiegen. Es ist also keineswegs untypisch, dass man nach der Wirtschaftsschule auf eine FOS mit kaufmännischen Zweig wechselt und danach ein BWL/VWL Studium anstrebt.

ed840
1 Monat zuvor
Antwortet  Heinz

Sie schreiben doch selber , dass an der WS der “normale” Mathematikstoff vermittelt würde, ist der Stoff an der RS dann nicht mehr normal?

Heinz
1 Monat zuvor
Antwortet  ed840

Sie wissen schon, dass es einen Unterschied macht, ob am Ende von vier oder sechs Jahren Schule eine zentrale Abschlussprüfung wartet oder eben nicht?

Praktisch läuft es so: An der Wirtschaftsschule gilt (vermutlich) der gleiche Mathe-Lehrplan wie an den Realschulen. Da Mathematik aber kein Prüfungsfach ist, werden ausfallende Stunden weniger oft vertreten. Wenn die Schüler zu schlecht sind, wird mehr wiederholt und geübt und dafür wird dann anderer Stoff ersatzlos gestrichen, was mangels Abschlussprüfung auch nicht weiter auffällt. Im Ergebnis sind die Eltern und die Schüler zufrieden, weil die Noten stimmen.

ed840
1 Monat zuvor
Antwortet  Heinz

Da wusste ich tatsächlich nicht. Bildungsexoerten werden ja nicht müde zu schreiben, dass lernen unter Druck und nur für Noten und Prüfungen nicht nachhaltig wäre und kontraproduktiv sei. Stimmt das dann am Ende etwa gar nicht? Wie läuft das dann z.B. an der Gemeinschaftsschule in BW, wo es ja zumindest in der SEK1 anscheinend weder Noten noch Sitzenbleiben etc. gibt und man trotzdem Abitur machen kann ?

Realist
1 Monat zuvor
Antwortet  ed840

Alles, was die KI demnächst übernehmen wird. Ein echtes Erfolgsmodell…

ed840
1 Monat zuvor
Antwortet  Realist

Und Sie glauben, dass das allein die Fächer und Lerninhalte der WS betreffen wird, aber nicht die an RS oder Gym? Gibt ja z.B. schon Forderungen, den Fremdsprachenunterricht abzuschaffen, weil das Übersetzungs-Apps übernehmen könnten.

Besseranonym
1 Monat zuvor
Antwortet  Heinz

Die Wirtschaftsschulen verkaufen sich gut, Beispiele
○ “Eine Besonderheit im Zusammenhang mit dem praxisbezogenen Lernen bildet hierbei das Fach Übungsunternehmen, in dem Schüler den Aufbau und die Organisation moderner Unternehmen handlungsorientiert und praktisch üben.
○ “Ganztagsangebote
Viele Wirtschaftsschulen bieten eine offene oder gebundene Ganztagsschule an. An ausgewählten Schulen wird auch die Betreuung im Internat angeboten.”

Folgerung könnte sein:
Vorbereitung auf Beruf und Leben bei elternentgegenkommenden Unterrichtszeiten

https://www.wirtschaftsschule.de/einordnung-im-schulsystem.html

Nicht mein Thema
1 Monat zuvor

Tolle Schulform- mein Neffe besucht sie zur Zeit erfolgreich. Macht dann in 3 Jahren das Fachabi und geht studieren. So sein Plan, der sich bestimmt ausgeht.
Und die feste Etablierung der Schülerfirmen ist ebenso klasse.

GriasDi
1 Monat zuvor

Zitat
“Der „LehrplanPLUS“, ein umfassendes Lehrplanprojekt, legt den Schwerpunkt auf Kompetenzorientierung.”

Kompetenzorientierung: völliger Schwachsinn, werden wir sicher bald auch bei PISA merken. Aber dann waren die Lehrkräfte einfach zu doof das richtig umzusetzen. In England wurde das Kompetenzgedöns wieder zugunsten konkreter Lehrpläne aufgegeben. Zumindest laut PISA ein Erfolg.

ed840
1 Monat zuvor
Antwortet  GriasDi

Kann man so pauschal nicht sagen. Die Schüler*innen ohne Migrationshintergrund aus UK schnitten z.B. bei PISA-2022 Mathematik sogar noch 1 PKt schlechter ab als die aus Gesamt-DE. Allerdings war der Punktverlust im Vergleich zu 2018 nicht ganz so so hoch wie in DE.

Teacher Andi
1 Monat zuvor

Das sind doch genau die Berufe, die Deutschland braucht, warum dann die Unkenrufe? In der Regel werden die Absolventen nicht irgendwelche Manager, die keiner mehr braucht, sondern Sachbearbeiter, Verkäufer und Angestellte in Logistik, Enkauf und Verkauf. Demnach sehr nützlich. Dass Mathematik da nicht gebraucht wird, zumindest die Grundlagen, halte ich für ein Gerücht. Und KI wird niemals den Kundenkontakt ersetzen.

potschemutschka
1 Monat zuvor

Frühzeitige Spezialisierung – hmmm…. erinnert mich irgendwie an die Kadettenschulen in der Sowjetunion/Russland … Eltern und Staat wissen eben genau, was Kinder im späteren Leben werden wollen. Nur komisch, dass manche Abiturienten das mit 18!19 Jahren noch nicht wissen 🙂

Tischarbeiterin
1 Monat zuvor
Antwortet  potschemutschka

Die frühe Entscheidung nach der Grundschule, wohin die Reise geht, ist jedoch in Ordnung?
Mit 18/19 hat man noch keine festen Ideen, dafür müssen die 9-10-jährige schon einiges abliefern und die Entscheidung wird für sie getroffen (was sie wollen/können). Ohne Recht auf Fehler/Weiterentfaltung etc.

Achin
1 Monat zuvor

Was braucht der Mensch Musik, Bildende Kunst, Sport, Ethik oder Religion?

Auf Wiedersehen, liebe Allgemeinbildung!

ed840
1 Monat zuvor
Antwortet  Achin

Die Lehrpläne der WS wären online verfügbar. Falls tatsächlich Interesse besteht, einfach mal nen Blick reinwerfen.

mediavo
1 Monat zuvor
Antwortet  Achin

Ein Blick auf die Stundentafel der Wirtschaftsschulen offenbart den Pauschlismus dieser Annahme

dickebank
1 Monat zuvor

Wer nix wird, wird Wirt – oder watt?

Dann doch lieber Fischwirt, Forstwirt oder Landwirt – also was Vernünftiges

Riesenzwerg
1 Monat zuvor

Super – man kann in einem Land wie Deutschland nie genügend Leute haben, die mit Aktien und dem Leben/der Lebensqualität anderer Menschen spielen.

Ich halte es nicht für sinnvoll, den Club Deutscher Unternehmer und die Förderer des Porsches zu fördern – allerdings……. beim DEM oftmals vorliegenden verhaltenskreatiefem “Sozial”verhalten……. was kann man da schon anderes erwarten?

Geld regiert die Welt – ich habe fertig.