MÜNCHEN. Unangekündigte Exen sind an Bayerns Schulen trotz fortlaufender Schülerproteste weiter erlaubt. Aber ist das gesamte Prüfungssystem noch zeitgemäß? Experten äußern sich in einer Landtagsanhörung unterschiedlich – in einer Sache sind sie sich aber einig: Zu viel Druck ist schädlich.

Das Prüfungssystem an bayerischen Schulen mit einer Fülle von Schulaufgaben, Tests und Abfragen ist nach Ansicht vieler Experten am vielen Stellen verbesserungsfähig. Die umstrittenen unangekündigten Leistungsnachweise – die sogenannten Exen – wurden in einer Anhörung im Bildungsausschuss des Landtags zwar nicht einhellig abgelehnt. Mehrere Experten plädierten aber dafür, Kindern unbedingt die Angst vor Prüfungen zu nehmen und sie dazu zu bringen, gerne zu lernen. Kritisch bewerteten mehrere der Sachverständigen die hohe Zahl von Leistungserhebungen – dass es also heute oftmals nur noch ein Hetzen von einer Prüfung zur nächsten gebe.
Keine «Beschämungen» vor der ganzen Klasse
Tina Seidel, Professorin für Pädagogische Psychologie an der Technischen Universität München, kritisierte, es fänden derzeit zu viele und zu monotone Prüfungen statt. Es gebe selten differenziertes Feedback und Begleitung beim Lernen. Besonders kritisch bewertet Seidel ausufernde Abfragen von Schülern vor der ganzen Klasse. Öffentliche «Beschämungen» vor einer Klasse seien nicht zeitgemäß. Wenn es das vereinzelt noch gebe, müsse man sich fragen, ob man das noch akzeptiere. Es brauche Lehrkräfte mit Fingerspitzengefühl.
Grundsätzlich gebe es große Unterschiede zwischen den Kindern, analysierte sie. Die einen, die ein hohes Zutrauen in sich selbst hätten, kämen mit der Prüfungspraxis gut zurecht. Für andere, die vielleicht auch ein gutes Vorwissen, aber weniger Zutrauen in sich selbst hätten, sei die aktuelle Praxis dagegen mit Druck verbunden und berge eine zusätzliche Gefahr der Selbstabwertung.
Prüfungen bedeuten Stress, sollen aber keine Angst machen
Manuela Pietraß, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität der Bundeswehr, betonte, Prüfungen sollten keine Angst machen. Die Abschaffung von Exen sei aber nicht unbedingt die Lösung. Denn dann hätten die Kinder eben Angst vor den angekündigten Tests, und dann vor den großen Schulaufgaben. Wichtig sei vielmehr, Kinder zum Lernen zu animieren – mit Aufgaben, die lebensnah sind und ihnen sinnhaft erscheinen. Pietraß stellt aber auch die Frage, ob es wirklich nötig sei, immer alles quasi jederzeit zu prüfen.
Christian Albrecht, Wissenschaftler an der Universität Erlangen-Nürnberg, forderte unter anderem, man müsse bei Prüfungen wegkommen vom bloßen Wiederholen hin zum kognitiven Umgang mit Wissen. Zudem plädierte er dafür, auch digitale Kompetenzen und Ähnliches in Prüfungen stärker abzubilden.
Das Lernen soll im Vordergrund stehen, nicht die Prüfung
Sylvia Schnaubelt, Leiterin der Grundsatzabteilung am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung, erklärte, es solle mehr der Lernprozess im Vordergrund stehen und weniger das Ende mit der Prüfung. Wichtig sei Feedback für die Schüler, wo sie sich Unterstützung holen könnten, um sich zu verbessern. Die Schüler dürften mit ihren Noten also nicht allein bleiben.
Ein Anlass für die Anhörung war ein zurückliegender breiter Protest gegen die Exen – über 50.000 Menschen hatten eine Petition zu deren Abschaffung unterschrieben. Die Petition wurde im Sommer aber mit den Stimmen von CSU, Freien Wählern und AfD abgelehnt – nachdem Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sie mit einem Machtwort sofort abgebügelt hatte («Exen bleiben!»). Schulen beziehungsweise Lehrkräfte sollen demnach weiterhin selbst entscheiden können, ob sie Exen als Prüfungsmittel einsetzen wollen oder nicht. Viele verzichten inzwischen darauf.
Die Stadt München empfiehlt ihren Schulen mittlerweile, künftig auf unangekündigte Leistungsnachweise – wie zum Beispiel Exen – zu verzichten. Stattdessen sollen sie sich für alternative Prüfungsformen einsetzen. „Wir wollen, dass unsere Schüler*innen ein positives Lernklima erleben, Freude an Lernerfolgen haben und ihre Leistungen ohne Gefahr der Bloßstellung zeigen können”, heißt es in einem Beschluss des Bildungsausschusses, der bereits im Juli – unmittelbar nach der Ablehnung durch den Landtag – auf einen entsprechenden Antrag der Grünen und Rosa Liste im Stadtrat angenommen wurde.
Münchens Stadtschulrat Florian Kraus sagte laut dem Nachrichtenportal von t-online: „Der Bildungsausschuss des Bayerischen Landtags hat die Chance vertan, sich zu einer zeitgemäßen, angstfreien Leistungskultur zu bekennen und unangekündigte Leistungsnachweise aus den Schulordnungen zu verbannen.” Er bedauere die Entscheidung „außerordentlich“ und könne sie aus pädagogischen Gründen nicht nachvollziehen. Denn: „Angst ist kein guter Lehrmeister.” Rechtlich bindend ist die Empfehlung der Stadt allerdings nicht. News4teachers / mit Material der dpa