Rita Süssmuth zu Inklusion und Integration an Schulen: „Es sind kräftige Investitionen notwendig“

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BERLIN. Rita Süssmuth ist die große alte Dame der deutschen Politik. Die ehemalige Bundesfamilienministerin und Bundestagspräsidentin, mittlerweile 79, mischt weiter kräftig mit – am kommenden Freitag (4. März, 11.15 Uhr) spricht sie auf dem Deutschen Schulleiterkongress in Düsseldorf zum Thema „Herausforderung Heterogenität“. Dabei scheut sich die prominente Christdemokratin nicht, auch pointierte Positionen zu vertreten. Wir sprachen mit der Lehrertochter und Professorin für Erziehungswissenschaften (sie lehrte an den Universitäten Bochum und Dortmund) über ihre Haltung in Sachen Integration und Inklusion.

Rita Süssmuth setzt sich für Inklusion und Integration ein - und scheut dabei offene Worte nicht. Foto: Heinrich-Böll-Stiftung / flickr (CC BY-SA 2.0)
Prof. Dr. Rita SŸssmuth (BundestagsprŠsidentin a.D.)

News4teachers: Wie beurteilen Sie den Stand der Dinge bei der Inklusion?

Süssmuth: Wir stehen noch ganz am Anfang. Der Prozess braucht Zeit. Die Inklusion ist mit erheblichen Umstellungen in den Schulen verbunden, das betrifft ja nicht nur die Schaffung von geeigneten Räumlichkeiten, sondern auch die Aus- und Weiterbildung der Lehrer. Man darf ja nicht vergessen, was für eine große Herausforderung es ist, Schüler, die früher immer in Sonderschulen unterrichtet wurden, nun ihren Bedürfnissen entsprechend in Regelschulen zu fördern. Aber seit der Bundestag 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat, ist in Sachen Inklusion in den Schulen einiges in Bewegung gekommen – vor allem im Grundschulbereich.

News4teachers: Wieso gerade in den Grundschulen?

Süssmuth: Seit Bismarcks Zeiten werden in den Grundschulen die Kinder nicht mehr nach Schichten getrennt. Der gemeinsame Unterricht ermöglicht es Kindern, die Welt von anderen kennenzulernen. Das finde ich einen richtigen Ansatz. In der schulischen Praxis bedeutet er, dass Lehrern in der Grundschule der Umgang mit Heterogenität seit langem vertraut ist.

News4teachers: Sie vertreten mit Blick auf die Inklusion die These, dass das gegliederte Schulsystem nicht mehr zeitgemäß sei …

Süssmuth: In der weiterführenden Schule wird meist versucht, möglichst homogene Lerngruppen zu bilden, und zwar durch eine Sortierung nach Schulformen. Das ist ein deutscher Sonderweg. Leistungsdifferenzierung gibt es zwar im Ausland auch, dann aber als innere Differenzierung. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass Schüler ihren Bedürfnissen entsprechend individuell gefördert werden. Begabung hat sicherlich auch eine genetische Komponente, sie ist aber nicht statisch. Letztlich geht es doch darum, Kindern Lernen zu ermöglichen, ihr Potenzial zu entdecken und zu wecken – und sie nicht von vorneherein in Schubladen zu stecken. Gerade bei Kindern aus wenig begünstigten Familien ist das wichtig.

News4teachers: Teilen Sie den Eindruck, dass durch das Thema Flüchtlingskinder die Inklusion in den Hintergrund gerückt ist?

Süssmuth: Diese hunderttausenden von neuen Schülern stellen die Lehrkräfte vor eine erhebliche Herausforderung. Darunter sind ja auch viele Kinder, die bisher nie eine Schule von innen gesehen haben oder die jetzt nicht nur eine neue Sprache, sondern auch gleich eine neue Schrift lernen müssen. Diese Schüler zu integrieren, das lässt sich nicht mal eben so nebenbei erledigen. Und das können auch Lehrer nicht allein bewerkstelligen. Wir brauchen dafür das Engagement der ganzen Schulgemeinschaft, um die Flüchtlingskinder auch über Sport und Musik sozial einzubeziehen.

News4teachers: Also haben Sie Verständnis dafür, wenn Lehrer sich überfordert fühlen?

Süssmuth: Dafür habe ich viel Verständnis. Die eine Aufgabe – Inklusion – ist ja noch gar nicht gemeistert, da kommt schon die nächste. Allerdings sind Integration und Inklusion zwei Seiten derselben Medaille. Es geht um Heterogenität, mit denen die Schulen umgehen müssen. Dafür sind dann aber auch entsprechende Rahmenbedingungen notwendig. Mit 20 Kindern in einer Klasse und nur einer Lehrkraft lässt sich Unterricht nicht individualisieren. Ich muss als Lehrer auch Zeit haben, das Potenzial eines Schülers zu entdecken und zu wecken.

News4teachers: Muss mehr Geld ins Schulsystem?

Süssmuth: Es sind kräftige Investitionen notwendig. Wir haben doch aktuell einen Überschuss bei den staatlichen Einnahmen von 19 Milliarden Euro – jeder Cent, der davon in die Bildung gesteckt wird, ist kein herausgeworfenes Geld.

Zum Bericht: Immer mehr Kritik, immer mehr Rückkehrer an Regelschulen – Ernüchterung über Inklusion

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