Frau Wehs Kolumne: Elterngespräche – Welche Pille würdest du wählen?

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DÜSSELDORF. Witz, Charme und einen tiefen Blick in die Seele einer Grundschullehrerin erlaubt Frau Weh auf ihrem Blog “Kuschelpädagogik”, unter Oje Frau Weh” auf stern.de , jetzt auch auf news4teachers.de. Frau Weh heißt im wahren Leben nicht Frau Weh, aber ihre Texte sind häufig so realitätsnah, dass sie lieber unter Pseudonym schreibt.

“Nimmst du die blaue Pille, endet es. Du wachst auf und glaubst, was immer du glauben möchtest. Nimmst du die rote Pille, bleibst du im Wunderland und ich führe dich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus … Vergiss nicht: Ich biete Dir nur die Wahrheit an – nicht mehr.” (Wachowski: The Matrix)

“Sie können sich sicher denken, warum wir hier sind”, sagt der Vater mit diesem speziellen Unterton, der solchen Gesprächen eigen ist. Natürlich kann ich es mir denken, schließlich stehen die Empfehlungen für die weiterführenden Schulen vor der Türe. Zu keinem anderen Zeitpunkt lerne ich so viele Väter kennen wie in diesen Wochen des vierten Schuljahres.

“Mein Mann ist nämlich Ingenieur”, schaltet sich da die Mutter ein, “der hat ja alles erreicht, was geht!” Sie nickt resolut, ich neige unbestimmt den Kopf, mit Ingenieuren kenne ich mich nicht so aus. “Der Sven soll nämlich aufs Gymnasium!”

Selbstverständlich soll er das – so wie knapp 80% meiner Klasse, zumindest wenn es nach dem Wunsch der Eltern geht. Svens Leistungen sind mittelmäßig, viele Dreier, ein ausreichend im Lesen (eigentlich schon der klassische Knock Out für den Übergang auf ein Gymnasium), ein gut in Kunst, das macht er gern.

Ich bin genervt. So viele Elterngespräche und in allen geht es um das Gleiche: nur das Gymnasium zählt – ganz egal, welche Voraussetzungen das Kind besitzt, egal was mein Eindruck ist. Ich weise die Eltern auf die Zensuren ihres Sohnes hin und hebe besonders die Vier im Lesen hervor. “Deswegen zahlen wir ja auch seit Mai ein Vermögen an das Nachhilfeinstitut”, giftet die Mutter zurück. “Das kriegt die Schule ja offensichtlich nicht hin. Bei uns früher wurde das ja auch alles ganz anders gemacht, heute wird ja gar nicht mehr richtig gelernt!” Natürlich kann ich das so nicht hinnehmen und verweise darauf, dass auch sie als Eltern Pflichten nachkommen müssten und zumindest jeden Tag ein bisschen mit dem Sohn lesen müsse doch möglich sein!? Empört wischen Svens Eltern den Hinweis beiseite: “Sind Sie Lehrer oder wir?”

Noch eine ganze Weile geht es so weiter. “Was würden Sie also jetzt und an dieser Stelle ins Gutachten schreiben?”, möchte der Vater wissen, um das aus dem Ruder laufende Gespräch zu beenden. “Ich würde Ihrem Sohn eine Realschulempfehlung geben, denn —” “Dann ist ja alles gesagt!”, schneidet er mir das Wort ab und steht auf. “Wir gehen.”

Empört schlage ich im Lehrerzimmer auf: “Boah, es gibt echt unmögliche Eltern!”

Die kleine My ist das digitale Ich von Frau Weh. (Foto: Privat)
Die kleine My ist das digitale Ich von Frau Weh. (Foto: Privat)

“Sie können sich sicher denken, warum wir hier sind”, sagt der Vater mit diesem speziellen Unterton, der solchen Gesprächen eigen ist. Natürlich kann ich es mir denken, schließlich stehen die Empfehlungen für die weiterführenden Schulen vor der Türe. Zu keinem anderen Zeitpunkt lerne ich so viele Väter kennen wie in diesen Wochen des vierten Schuljahres.

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“Mein Mann ist nämlich Ingenieur”, schaltet sich da die Mutter ein, “der hat ja alles erreicht, was geht!” Sie nickt resolut, ich neige unbestimmt den Kopf, mit Ingenieuren kenne ich mich nicht so aus. “Der Sven soll nämlich aufs Gymnasium!”

Selbstverständlich soll er das – so wie knapp 80% meiner Klasse, zumindest wenn es nach dem Wunsch der Eltern geht. Svens Leistungen sind mittelmäßig, viele Dreier, ein ausreichend im Lesen (eigentlich schon der klassische Knock Out für den Übergang auf ein Gymnasium), ein gut in Kunst, das macht er gern.

Ich lasse die Eltern von ihren Wünschen und ihrem Lebensentwurf für ihren Sohn erzählen. Mir kommt das mittelgroße Wehwehchen in den Sinn und ich denke daran, dass es für Eltern nicht immer leicht ist, die Realität als solche zu akzeptieren. Behutsam gehe ich auf die Schilderungen der Eltern ein und erkläre sorgfältig, wie ich Svens Leistungen sehe, sein Arbeitsverhalten beurteile. Ich nenne seine Stärken und seine Schwächen. Die Eltern nicken, sie erkennen ihren Sohn wieder. Das Gespräch verläuft ruhig und sachlich. Ich erläutere, warum ich zum jetzigen Zeitpunkt den Besuch der Realschule empfehlen würde und nicht das Gymnasium. Gebe den Hinweis auf die Gesamtschule als Möglichkeit das Abitur nach 9 Jahren ohne Schulwechsel zu erreichen.

“Natürlich wird sich Sven weiterentwickeln. In welchem Maße und wann er das tut, kann ich nicht sagen – meine Arbeit wäre leichter, wenn ich in die Zukunft meiner Schüler blicken könnte”, sage ich mit einem zarten Lächeln, das die Eltern erstmalig erwidern. “Sie müssen sich auch darüber im Klaren sein, wieviel Zeit und Wissen Sie in die gewählte Schulform investieren möchten”. Wohlwissend, dass Sven bereits jetzt bis zu 90 Minuten an den Hausaufgaben sitzt, schubse ich die Eltern sanft auf diesen neuen Gedanken. Die Mutter blickt mich erschreckt an. “Das wäre dann deine Aufgabe, ich bin ja nicht da.”, wendet sich der Vater an seine Frau, deren Blick starr wird. Wir sprechen noch von Frustrationstoleranz, Anstrengungsbereitschaft und der Notwendigkeit von Erfolgserlebnissen, um stark werden zu können.

“Nun habe ich Ihnen umfassend meine Sicht dargelegt, möchte Sie aber auch darüber informieren, dass Sie Ihren Sohn selbstverständlich auch auf der Schule Ihrer Wahl anmelden können, wenn Sie sich nicht meinen Überlegungen anschließen können. ” Während der Vater bereits zurückrudert (“Nein, nein, Sie können den Sven da sicher besser einschätzen als wir!”), stellt die Mutter die letzte, entscheidende Frage: “Wenn Sven Ihr Sohn wäre, würden Sie ihn aufs Gymnasium geben?” Ich blicke sie an und schüttle den Kopf: “Nein, auf gar keinen Fall. Ich würde wollen, dass er einen guten Start hat.” Sie nickt: “Danke, Sie haben sich viel Zeit genommen. Ich glaube, wir verstehen die Situation jetzt besser.”

Freundlich verabschieden wir uns voneinander. Im Lehrerzimmer mache ich mir kurz ein paar Notizen. “Wie war dein Gespräch?”, will Kollegin Mandel wissen. Ich blicke von meinen Unterlagen auf: “Ganz gut, denke ich.”

Frau Wehs Beitrag „Pädagogische Inkontinenz“

Zum Interview „Ansichten über Schule überdenken“ mit Frau Weh geht es hier

Zu Frau Wehs Blog geht es hier

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2 Kommentare
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mehrnachdenken
9 Jahre zuvor

Seit wann kann EINE Lehrerin eine Schulempfehlung aussprechen? Oder habe ich hier etwas überlesen oder falsch verstanden?
Vor der Empfehlung finder die Zeugniskonferenz mit allen in der Klasse unterrichtenden Lehrkräften, Schüler- und Elternvertretern statt. Auf dieser Konferenz schlägt die Klassenlehrerin/der Klassenlehrer eine Empfehlung vor. Strittige Fälle werden ausführlich diskutiert. Abschließend wird abgestimmt.
Auf der Grundlage dieser Empfehlungen bietet die Schule den Eltern Beratungsgespäche an.
Ich kenne es noch so, dass zum Halbjahr ein Trend ausgesprochen wird, sodass die Eltern ziemlich früh wissen, welche Empfehlung infrage kommen könnte.

Reinhard
9 Jahre zuvor
Antwortet  mehrnachdenken

wie immer: je nach Bundesland anders