Flüchtlingskinder: Wie gehen Lehrer mit Schülern um, die nur den Krieg kennen?

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FRIEDBERTSHAUSEN. Flüchtlingskinder haben oft Furchtbares erlebt, wenn sie in Deutschland ankommen. Hier werden sie eingeschult, doch die Lehrer sind mit der Situation oft überfordert, wie ein Psychologe sagt. Ein Interview.

Der Krieg gehörte für Kinder aus Syrien zum Alltag, hier: Jungen in Azaz. Wie gehen sie damit um? Foto: Christiaan Triebert / flickr (CC BY 2.0)
Der Krieg gehörte für Kinder aus Syrien zum Alltag, hier: Jungen in Azaz. Wie gehen sie damit um? Foto: Christiaan Triebert / flickr (CC BY 2.0)

Bei der Betreuung von traumatisierten Flüchtlingskindern können Schulen nach Ansicht des Traumaexperten Georg Pieper eine Schlüsselrolle übernehmen. Lehrer könnten in den Vorbereitungsklassen recht einfache therapeutische Mittel einsetzen, um den Kindern bei der Bewältigung ihres Traumas zu helfen, sagte der Psychologe mit einer Praxis im hessischen Friebertshausen (Kreis Marburg-Biedenkopf) auf Anfrage. Dass Lehrer diese Aufgabe übernähmen, sei der einzige Weg – es gebe keine Kapazitäten, alle betroffenen Flüchtlingskinder zum Therapeuten zu schicken.

Zu uns kommen derzeit Zehntausende Kinder aus Kriegsgebieten etwa in Syrien und dem Irak. Wie viele von ihnen sind traumatisiert?

Pieper: Ein Großteil dieser Kinder hat über lange Zeit viele Dinge erlebt, die traumatisch wirken können. Sie haben Entbehrung und Verzweiflung erlebt, viel Gewalt gesehen, Ohnmachtserfahrungen und lebensbedrohliche Situationen durchgemacht. Schätzungsweise zwei Drittel dieser Kinder sind traumatisiert im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Wie macht sich ein solches Trauma bemerkbar?

Pieper: Traumatisierte Menschen stecken gedanklich und mit ihren Gefühlen in einem Erinnerungsgefängnis. Ohne es steuern zu können, werden sie immer wieder von ihren schrecklichen Erinnerungen überfallen und empfinden Panik und Todesängste. Traumatisierte Kinder sind dünnhäutiger, schneller krank und nicht so stressbelastbar. Sie haben im Leben eine schlechte Ausgangsposition. Besonders schlimm ist es, wenn Kinder allein nach Deutschland kommen oder auf der Flucht ihre Eltern verloren haben. Traumatische Erlebnisse wirken dann besonders stark, wenn die schützende Familie fehlt oder gar umgekommen ist.

Was kommt mit diesen Kindern auf Lehrer und Erzieher zu?

Pieper: Für sie ist es zunächst schwierig, die Situation richtig einzuschätzen und damit umzugehen. Wenn Kinder Krieg oder Erschießen spielen, sind die Betreuer oft vollkommen überfordert. Dabei spielen traumatisierte Kinder häufig das, was sie erlebt haben, immer wieder durch. Lehrer sollten sich davon nicht erschüttern lassen, es ist ein Ausdruck der Nöte und Qualen der kindlichen Seele. Diese Art der Beschäftigung mit schlimmen Erlebnissen kann sogar hilfreich sein. Das gilt aber nur dann, wenn die Kinder darin unterstützt werden, einen positiven Ausgang für die gespielten Szenen zu finden.

Manche traumatisierte Kinder legen ein aggressives Verhalten an den Tag – wie geht man am besten mit ihnen um?

Pieper: Wenn Kinder brutal und emotionslos wirken und wenig Einfühlungsvermögen haben, ist das ein typisches Zeichen von sehr schlimmen Erfahrungen, die sie über einen langen Zeitraum gemacht haben. Der normale Impuls ist, das Kind in seine Grenzen zu verweisen. Das ist auch richtig, aber es muss mit dem Verständnis geschehen, dass das Kind nicht böse ist, sondern eine verletzte Seele hat.

Wie gehen einheimische Kinder damit um, wenn sie traumatisierten Flüchtlingskindern begegnen?

Pieper: Viele von ihnen sind zunächst überfordert. Für sie ist es erst einmal ein Schock, wenn ein fremdes Kind mit einem Stock auf sie zukommt und Erschießen spielt. Hier sind die Erzieher gefragt. Sie müssen die liebe Seite der traumatisierten Kinder herausstellen und darauf achten, dass sie nicht wegen ihres merkwürdigen Verhaltens ausgeschlossen werden. Das Verständnis der anderen muss geweckt werden. Kinder haben die Fähigkeit, sehr schnell zu integrieren, wenn man sie darin unterstützt.

Haben traumatisierte Kinder eine Chance, in ein normales Leben zurückzufinden?

Pieper: Kinder sind sehr formbar. Sie haben in der Regel recht gute Chancen, sich im Laufe der Zeit zu stabilisieren, wenn alle Gegebenheiten stimmen. Wichtig ist, dass sie sich sicher, willkommen und akzeptiert fühlen. Und sie müssen das Erlebte verarbeiten, indem sie darüber reden, es aufschreiben oder Bilder malen. Traumatische Erfahrungen sollten nicht verdrängt werden – das führt nur zur Verschlimmerung der Symptomatik.

Was kann die Schule hier leisten?

Pieper: Den Schulen kommt hier eine ganz wichtige Aufgabe zu. Es gibt recht einfache therapeutische Mittel, die Lehrer lernen und in den Vorbereitungsklassen einsetzen können. Sie können Kinder zum Beispiel mit traumapädagogischem Hintergrundwissen anleiten, Bilder von einer schlimmen Situation zu malen – immer wieder neu, bis die Bilder in eine positive Richtung führen. Dass Lehrer diese Aufgabe übernehmen, ist der einzige Weg. Wir können nicht all die Tausenden Flüchtlingskinder zum Therapeuten schicken, dafür haben wir keine Kapazitäten. Doch die Lehrer müssen geschult werden, und dafür müssen Gelder her. Zur Willkommenskultur gehört unbedingt auch die Bereitschaft, sich mit den Traumata der Flüchtlinge auseinanderzusetzen.

Was kommt auf uns zu, wenn wir das nicht tun – schließlich werden viele Flüchtlinge auf Dauer in Deutschland bleiben?

Pieper: Das Geld, das jetzt investiert werden muss, ist ein Klacks gegenüber dem, was sonst eventuell an Problemen auf uns zukommt. Unbehandelte Traumatisierungen können zu erhöhten Kriminalitätsraten, zu Aggressionen, psychischen Erkrankungen, Depressionen und Suchterkrankungen führen. Interview: Sandra Cartolano, dpa 

ZUR PERSON: Georg Pieper (Jahrgang 1953) hat zum Thema Traumabewältigung an der Universität Freiburg promoviert. Während seiner Tätigkeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Marburg spezialisierte er sich auf die Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen. Er war unter anderem nach dem Amoklauf eines Schülers in Erfurt 2002 und nach dem ICE-Unglück von Eschede 1998 als Psychologe im Einsatz und hat über das Thema das Buch «Wenn unsere Welt aus den Fugen gerät» geschrieben.

Zum Bericht: Flüchtlingskinder in der Schule – eine extrem heterogene Gruppe: vom Analphabeten bis zum Mathe-Ass

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