Verbände zum Bundesbildungsbericht: Meidinger kritisiert Entwertung des Abiturs

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BERLIN. Der alle zwei Jahre veröffentlichte Expertenbericht «Bildung in Deutschland» ist heute in Berlin vorgestellt worden, diesmal mit dem Schwerpunkt Migration und Integration. Der 350-Seiten-Bericht wurde gemeinsam von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) und der Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Claudia Bogedan (SPD), präsentiert. Erstellt wurde die Studie von einer Gruppe unabhängiger Wissenschaftler unter Leitung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). Und das sagen die Verbände dazu:

GEW: Mehr Zeit und Raum für Bildung – dann klappt auch die Integration

„Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher brauchen mehr Zeit, um sich über pädagogische Konzepte für den Umgang mit Vielfalt untereinander auszutauschen und voneinander zu lernen. Sie brauchen mehr Zeit, um ihre Arbeit vor- und nachbereiten und sich zugleich stärker individuell um Kinder und Jugendliche zu kümmern. Sie brauchen geeignete Räume, in denen ein zeitgemäßes Lernen möglich ist. Das kostet Geld: Deshalb muss der Bund Länder und Kommunen finanziell stärker als bisher unterstützen können“, erklärte GEW-Vorsitzende Marlis Tepe am Donnerstag mit Blick auf den Bildungsbericht 2016.

Es sei alarmierend, dass die Autoren der Bildungsberichterstattung erneut dringenden Handlungsbedarf zur Verbesserung von Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen in Risikolagen feststellen. „Der Bericht mit dem Schwerpunkt Migration verzeichnet zwar einige positive Trends, zum Beispiel hinsichtlich der Bildungsbeteiligung im frühkindlichen und schulischen Bereich, verdeutlicht aber auch, dass wir vor großen Herausforderungen stehen“, so Tepe. Der Bildungsbericht stelle klar, dass sozialer und ethnischer Ausgrenzung systematisch begegnet werden müsse. Dies gelinge am besten durch inklusive Ganztagsangebote im Zusammenspiel mit strukturellen Reformmaßnahmen, die Bildungseinrichtungen stärker für die Gesellschaft öffnen und mit ihr vernetzen. Die GEW begrüße, dass in diesem Zusammenhang auch zusätzlich notwendige personelle Ressourcen und finanzielle Investitionen beziffert werden. Für qualitative Verbesserungen seien nach GEW-Berechnungen jedoch mehr Mittel erforderlich.

Der Ausbau eines qualitativ hochwertigen Ganztagsangebots in Kitas und Schulen und eine veränderte Ausbildung der pädagogischen Fachkräfte schafften die Voraussetzungen, um die Chancen aller Kinder und Jugendlichen zu verbessern und Benachteiligungen abzubauen. „Das sind, zusammen mit langfristiger Personalplanung, wichtige strukturelle Voraussetzungen für inklusive Bildung. Gute Bildung für alle Menschen fördert gesellschaftliche Integration“, betonte Tepe.

Philologenverband: Unkontrollierte Bildungsexpansion führt zu einer Entwertung von Abschlüssen

Sieht die gestiegene Abiturientenquote kritisch: Heinz-Peter Meidinger. Foto: Deutscher Philologenverband
Sieht die gestiegene Abiturientenquote kritisch: Heinz-Peter Meidinger. Foto: Deutscher Philologenverband

Der von den Autoren des Bildungsberichts 2016 als Erfolg verzeichnete dramatische Anstieg der Quote der Schulabgänger mit allgemeiner Hochschulreife von 29,6 Prozent (2006) auf 41 Prozent (2014) hat nach Ansicht des Philologenverbands-Vorsitzenden Heinz-Peter Meidinger nicht nur positive Auswirkungen. „Es mehren sich die Anzeichen, zum Beispiel Befunde von Studien, steigende Abbruchquoten in vielen Studienfächern, aber auch Beobachtungen an Hochschulen und bei Arbeitgebern, dass die Qualität der Abschlüsse mit der gestiegenen Quantität nicht Schritt gehalten hat. Zu befürchten ist, dass dadurch nicht nur Hauptschul- und Realschulabschlüsse entwertet werden, weil ein Verdrängungswettbewerb nach unten stattfindet, sondern auch das Abitur als Hochschulzugangsberechtigung mittel- und langfristig in Frage gestellt wird, wenn hinter der Studienberechtigung immer häufiger keine Studienbefähigung mehr steht!“, betonte der Verbandsvorsitzende.

Meidinger appellierte an die Bildungspolitik und die Bildungsforschung, Bildungsqualität nicht vorrangig an der Quantität von Abiturquoten zu messen. Das führe nur zu enttäuschten Hoffnungen auf allen Seiten, bei denen, die kein Abitur erwerben und denen, die damit in Zukunft immer weniger anfangen könnten.

Meidinger unterstützt die Autoren des Bildungsberichts in ihren Forderungen, mehr Ressourcen für die Integration von Flüchtlingskindern ins Schulsystem bereitzustellen. Insbesondere der jetzt anstehende nächste Schritt, die Überführung von Flüchtlingskindern aus den Willkommens-, Übergangs- und Sprachlernklassen in die Normalklassen der verschiedenen Schularten brauche noch mehr Unterfütterung mit Zusatzressourcen.

Zusammen mit den Autoren des Bildungsberichts tritt der Verbandschef dafür ein, dass dabei der leider verstärkt zu beobachtenden Segregation im Bildungswesen, also der Konzentration von Flüchtlingskindern in einzelnen Klassen und Schulen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt und gegengesteuert werde. Solche einseitig zusammengesetzten Lerngruppen führten weder zur wünschenswerten Leistungsförderung noch zu der erhofften Integration, wie verschiedene Studien zeigten.

Mit Bedauern betonte der DPhV-Vorsitzende, dass zwar zu Recht der Förderung leistungsschwächerer und bildungsferner Jugendlicher breiter Raum in der Bildungsstudie 2016 gewidmet, die Frage der in Deutschland nur völlig unzureichend stattfindenden Hochbegabtenförderung aber weitestgehend ausgespart werde. „Individuelle Förderung heißt, dass jeder in unseren Schulen bestmöglich gefördert werden muss, darauf haben auch die Leistungsstärkeren ein Anrecht!“, bekräftigte Meidinger.

VBE: Deutschland von Bildungsgerechtigkeit weit entfernt

„Die Ergebnisse des Bildungsberichts 2016 zeigen ganz klar, dass Bildungschancen immer noch stark abhängig von Wohnort und Umfeld sind. Die bisherigen Bemühungen zeigen zwar Wirkung, aber es ist noch deutlich mehr Anstrengung von Bund, Ländern und Kommunen notwendig, um Chancengleichheit in ganz Deutschland zu verwirklichen. Da ist noch viel Luft nach oben“, kommentiert Udo Beckmann, VBE-Bundesvorsitzender, den heute erschienenen Bildungsbericht für Deutschland. Diese Bestandsaufnahme des Bildungssystems wird alle zwei Jahre von Bundesbildungsministerium und Kultusministerkonferenz herausgegeben.

Es zeigt sich, dass die Kritik der Lehrerorganisationen fruchtet. Das eigens gesetzte Ziel der Bundesregierung, 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für die Bildung auszugeben, konnte noch nicht erreicht werden. Der Anteil am BIP hat sich jedoch erkennbar erhöht. Beckmann betont: „Bildung kann nur zum vielbeschworenen Schlüssel der Integration werden, wenn die Politik bereit ist, hinreichend Geld zur Verfügung zu stellen und die Gelingensbedingungen stimmen.“

Ein großes Problem bleibt der Lehrermangel. Je nach Berechnungsmodell werde von einem Bedarf von bis zu 44.000 zusätzlichen Lehrerstellen ausgegangen. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz schlug die Erhöhung des Stundenvolumens von Teilzeitkräften und die Aktivierung von pädagogischen Fachkräften, die bisher nicht in ihrem eigentlichen Beruf arbeiten, vor.

Der VBE-Bundesvorsitzende mahnt: „Wir haben sehr viele Frauen, die als Teilzeitkräfte arbeiten. Eine Erhöhung dieses Stundenvolumens wird nur möglich sein, wenn deren Vereinbarkeit von Beruf und Familie trotzdem gelingt. Der Lehrermangel hat sich aufgrund der Altersstruktur länger angebahnt. Jetzt rächt es sich, dass er immer wieder schön gerechnet wurde. Durch die Herausforderungen der Inklusion und Digitalisierung und verstärkt durch die Beschulung der Flüchtlingskinder ist es mittlerweile fünf nach zwölf. Wir brauchen tragfähige Konzepte, wie mehr Lehrkräfte gewonnen werden können. Dazu gehören auch Anreize durch eine entsprechende Besoldung.“

Zur Analyse: Die “Bildungsrepublik” der Kanzlerin bleibt eine Baustelle – trotz positiver Befunde

Zum Bericht: Verbände zum Bundesbildungsbericht: Meidinger kritisiert Entwertung des Abiturs

 

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