Lehrer wegen Freiheitsberaubung auf der Anklagebank: Wie ein vermeintlicher Alltagskonflikt im Klassenzimmer vor Gericht landet

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NEUSS. Immer öfter landen Pädagogen wegen Bagatellen vor Gericht. Der neueste Fall: Weil die Schüler zu laut sind, lässt der Lehrer sie einen Text abschreiben. Solange setzt er sich mit seinem Stuhl vor die Klassentür. Ist das allen Ernstes Freiheitsberaubung, wie die Anklage meint?

Freiheitsberaubung und Körperverletztung: Die Anklage gegen den Lehrer klingt furchteinflössend. Foto: Carlo-Schrodt / pixelio.de
Freiheitsberaubung und Körperverletztung: Die Anklage gegen den Lehrer klingt furchteinflössend. Foto: Carlo-Schrodt / pixelio.de

Zunächst war es wohl eine ganz alltägliche Unterrichtsstunde: Der Lehrer will etwas erklären, aber die Schüler sind laut und hören nicht zu. Doch was dann in der damaligen Klasse 6b der Realschule in dem niederrheinischen Städtchen Kaarst geschah, beschäftigt jetzt ein Gericht. Der Lehrer sitzt wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung auf der Anklagebank. Laut Staatsanwaltschaft hatte er den Schülern eine Strafarbeit aufgebrummt und wollte sie nicht rauslassen, ehe sie die Aufgabe erledigt hätten. Als ein Junge trotzdem gehen wollte, soll er ihm in den Bauch gestoßen haben – der 13-Jährige habe danach über Schmerzen geklagt. Soweit die Anklage.

Im Prozess vor dem Neusser Amtsgericht schildert der Pädagoge Phillip P. den Vorfall so: In der Musikstunde sollte es an jenem Tag im April 2015 um den Geigenvirtuosen Paganini gehen. Eigentlich habe er den Kindern ein kurzes Hörspiel vorspielen wollen, aber die Schüler seien zu unruhig gewesen. «Deshalb habe ich mich entschlossen, den Unterricht in schriftlicher Form fortzuführen», erklärt der 50-Jährige. «Das war keine Strafarbeit.» Er trug den Schülern auf, einen Text über Paganini abzuschreiben.

Etwa zehn Minuten vor Unterrichtsschluss setzte sich der Lehrer demonstrativ mit seinem Stuhl in den Türrahmen. Die Schüler forderte er auf, sich in einer Reihe aufzustellen und ihm nacheinander ihre Arbeiten zu geben. «Das dauerte natürlich einige Minuten. Aber wer abgegeben hatte, durfte gehen.» Ein Schüler habe sich vorgedrängt und gesagt, er müsse jetzt los. «Ich habe ihn weggeschoben, er sollte sich anstellen, wie die anderen», erzählt der Angeklagte und betont: «Ich habe ihm nicht in den Magen geboxt.» Ein anderer Junge rief per Handy die Polizei – er musste nach Angaben des Lehrers länger dableiben, weil er Ordnungsdienst gehabt habe.

Rektor im Zeugenstand

Dieser heute 14-jährige Junge stellt die Situation anders dar: «Die Schüler, deren Arbeiten unvollständig waren – so wie meine – durften nicht gehen», sagt er als Zeuge vor Gericht. Das Verhalten des Musiklehrers sei schon zuvor teilweise «furchterregend» gewesen – unter anderem habe er mit Schlagzeugstöcken laut auf den Tisch gehauen. Er habe gesehen, wie der Angeklagte seinen Freund «recht heftig» in den Bauch gestoßen habe, berichtet der Schüler. Ein anderer Junge relativiert das im Zeugenstand: Der Stoß sei von normaler Kraft gewesen – «nicht heftig und nicht leicht».

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Nach dem Notruf hatte die Polizei den Schulleiter alarmiert, der kurz vor den Beamten zum Klassenraum geeilt kam. Er habe das Schlimmste befürchtet, sagte der Rektor als Zeuge aus. «Als die Leitstelle anrief, hieß es, dass im Musikraum ein Lehrer Schüler eingeschlossen hätte und sie schlagen würde.» Doch dort angekommen habe er eine vollkommen unaufgeregte Situation vorgefunden. «Es sah aus wie ganz normaler Alltag», erinnert sich der 60-Jährige. Fast alle Schüler seien bereits weg gewesen.

Vor dem Gerichtsgebäude stehen ehemalige Schüler, die ihren früheren Lehrer unterstützen und T-Shirts mit Solidaritätsbekundungen tragen: «Free P.». Ein Mädchen sagt: «Wir können uns nicht vorstellen, dass die Vorwürfe gegen ihn Stimmen. Das ist so ein herzlicher Mensch, bis der mal lauter wird, da muss wirklich schon viel passieren.»

Der Prozess wird am 24. August fortgesetzt. Dann soll unter anderem der angeblich gestoßene Schüler als Zeuge gehört werden. Ob dem Lehrer neben einer Verurteilung auch berufliche Konsequenzen drohen, ist noch unklar. Die Bezirksregierung prüft nach eigenen Angaben, ob sie ein Disziplinarverfahren einleitet. Dies hänge maßgeblich vom weiteren Verlauf des Strafverfahrens ab. Von Petra Albers, dpa

Zum Bericht: „Dann werden Sie schon sehen“: Wie Eltern Lehrer unter Druck setzen – ein Verbandsjurist berichtet

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2 Kommentare
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ysnp
7 Jahre zuvor

Das erinnert mich irgendwie an Musiklehrer, die ich am Gymnasium hatte. Gutmütig, manchmal in anderen Sphären schwebend, von Schülern, die mit Musik nichts am Hut haben, nicht ernst genommen, auch aufgrund des Faches. Wer weiß, vielleicht gibt es diesen Typus Musilehrer heute noch. Fakt ist: Musiklehrer haben aufgrund ihres Faches einen schweren Stand. Den aktuellen Fall kennt man jetzt nur aus der Presse, doch ich kann mir schon vorstellen, dass, wenn solche Lehrer versuchen einmal durchzugreifen, sie noch mehr die Aggressionen der Schüler auf sich ziehen; irrationales Verhalten von Schülern erlebt man ja eher bei Lehrern, die weniger als Autorität wahrgenommen werden – und dann kommt eins zum anderen.

sofawolf
7 Jahre zuvor

DAS ist DAS, was Lehrern den Beruf heutzutage zur Hölle machen kann. Und DAS ist DAS, was den Lehrerberuf unattraktiv macht. Liebe Verbände, Gewerkschaften, Politiker – da tut mal bitte was für uns und für einen Unterricht, der auch was bewirken kann!

(Natürlich möchte ich auch keine Lehrer, die Schüler schlagen – aber ich möchte auch keine Schüler, die Lehrer „dissen“, wie man ja wohl heutzutage sagt.)