Sollen Schüler in Baden-Württemberg künftig verpflichtend als Teil des Unterrichts Gedenkstätten für Opfer nationalsozialistischer Verbrechen besuchen? Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) sieht dafür gute Gründe. «Mit der Frage, in der 8. oder 9. Klasse eine Gedenkstätte besuchen zu müssen, beschäftige ich mich gerade», sagte Eisenmann im Gespräch. «Ich sehe viele gute Argumente dafür, über eine solche Verpflichtung – eingebettet in ein pädagogisches Konzept – nachzudenken», sagte sie. Eisenmann äußerte sich auch vor dem Hintergrund eines nicht zuletzt von der jüdischen Gemeinschaft beklagten wachsenden Antisemitismus in der Gesellschaft.
Viele Schulen unternehmen nach Darstellung des Ministeriums bereits jetzt Besuche auf freiwilliger Basis. Viele Gedenkstätten haben speziell für Schüler Angebote – zum Beispiel das Zentrum Grafeneck, das die systematische Ermordung von Behinderten durch die Faschisten dokumentiert hat.
«Die Vermittlung des Nationalsozialismus und der Verbrechen des NS-Regimes ist ein Thema, das wir sehr ernst nehmen müssen», sagte Eisenmann. «Ich kann Gegenwart und Zukunft nur gestalten, wenn ich einen Bezug zu meiner Herkunft habe.» Dabei gehe es um vorbereitete Besuche, die in den Unterricht eingebettet sein müssten und einen Diskurs unter den Schülern auslösten. Im Herbst will Eisenmann mit dem Landesschülerbeirat darüber sprechen. Eine Entscheidung soll es bis zum Frühjahr 2019 geben.
Eine Vielzahl an Aspekten
Der Beirat hat sich dazu am 5. Oktober mit der Ministerin zu einem Treffen verabredet. Dessen Vorsitzender Leandro Karst sagte, dass eine Vielzahl von Aspekten berücksichtigt werden müsse, darunter auch eine mögliche psychische Belastung für Schüler. Der Schülerbeirat werde dem Ministerium deshalb nach den Sommerferien einen Katalog mit offenen Fragen vorlegen.
Wichtig sei im Fall einer Besuchspflicht eine gute Vorbereitung und eine Nachbereitung. «Das packt einen Schüler», sagte Karst. Er selbst habe außerhalb der Schule Gedenkstätten besucht – einmal als Teil einer Bildungsreise des Bundestags. Er empfand das nach eigener Darstellung wichtig für seine eigene Entwicklung. Karst sagte aber auch, dass ebenfalls denkbar sei, stattdessen Ausstellungen zu besuchen oder mit Zeitzeugen zusammenzutreffen.
Die jüdische Gemeinde in Baden unterstützt die Initiative des Bildungsministeriums. «Uns als Israelitischer Religionsgemeinschaft Badens erscheint es sinnvoll, wichtig und richtig, wenn die Schülerinnen und Schüler baden-württembergischer Schulen über Gedenkstättenbesuche ihr geschichtliches Wissen durch eigenes Erleben vertiefen.» Das sagte der Vorsitzende der Gemeinschaft, Rami Suliman, in Karlsruhe. Gedenkstättenbesuche und Zeitzeugengespräche für alle Schulen vorzusehen, führe in die richtige Richtung.
Nur ein kleiner Teil
«Gerade in Zeiten sich verstärkender antisemitischer Vorfälle können die Besuche selbst aber nur ein Teil in einem ganzen Maßnahmenbündel sein», sagte Suliman. Wichtig sei die Aufklärung über das Judentum, jüdisches Leben und Juden in Deutschland. So erzählten etwa junge Juden in dem Programm Likrat in Schulen Gleichaltrigen aus ihrem Leben. Auch in der Lehrerbildung brauche es eine stärkere Schulung für den Umgang mit antisemitischen und menschenfeindlichen Vorfällen, sagte Suliman.
Aus Sicht der jüdischen Gemeinden in Baden hat sich das antisemitische Klima in Teilen der Bevölkerung verstärkt. «Insbesondere auch auf Schulhöfen kommt es öfter als früher zu – meist verbalen – Vorfällen. Gleiches gilt für Kontakte mit Klassenkameraden und Gleichaltrigen in sozialen Medien.» Suliman lobte, dass das Land den Antisemitismusbeauftragten Michael Blume benannt hat. Er werde über Vorfälle mit Zustimmung der Betroffenen informiert. Auch die Meldepflicht von antisemitischen Vorfällen für Schulleiter helfe, das Bewusstsein weiter zu schärfen, sagte Suliman.
Als im Frühjahr bekannt wurde, dass das Ministerium über Pflichtbesuche für Schüler nachdenkt, reagierte die GEW mit Skepsis. GEW-Landesgeschäftsführer Matthias Schneider warnte, dass solche Besuche sogar Widerstände provozieren könnten. dpa
Zentralrat ist gegen die Vertuschung von antisemitischen Fällen an Schulen