Königin Silvia eröffnet ein Haus für missbrauchte Kinder – in Heidelberg

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HEIDELBERG. Opfer von Missbrauch müssen häufig mehrfach von ihren Leiden berichten. Dabei durchleben sie ihre Qualen wieder und wieder. Childhood-Häuser sollen das zumindest Kindern ersparen. Das zweite in Deutschland wird jetzt eröffnet – von einer Königin.

Kümmert sich mit ihrer Stiftung um missbrauchte Kinder: Schwedens Königin Silvia. Foto: Frankie Fouganthin / Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0

Schwedens Königin Silvia hat ein Herz für Kinder. In Heidelberg hat sie es für sexuell missbrauchte oder misshandelte Kinder geöffnet. Für sie beginnt nach dem Ende ihres Martyriums oft ein Spießrutenlaufen. Bis zu sieben Mal müssen sie die erlebten Qualen schildern – bei Polizisten, Ärzten, Psychologen, Richtern und Jugendhilfe. Die Gefahr einer erneuten Traumatisierung ist hoch. Eine Anlaufstelle für alle Fragen fehlte nach Einschätzung von Experten bislang. Die Childhood-Stiftung der Majestät soll zumindest im Raum Heidelberg diese Lücke schließen. Sie eröffnete am Donnerstag in ihrer Geburtsstadt Heidelberg das deutschlandweit zweite Childhood-Haus.

«Die belasteten Kinder erhalten dort einen geschützten Raum», erläuterte sie. Mehrfach-Befragungen der Opfer in Ermittlungsverfahren könnten verhindert, Fachwissen und Kenntnisse könnten gesammelt und weitergegeben werden. Die 75-Jährige fügte hinzu: «Für die Kinder ist es entscheidend, dass die Zuständigen zusammenarbeiten.»

Vor einem Jahr eröffnete die Mutter dreier Kinder in Leipzig die erste interdisziplinäre Versorgungseinheit für Kinder mit Gewalt- und Missbrauchserfahrung. Ein Jahr später begrüßten 200 bis 300 Menschen vor dem Festakt in der Heidelberger Universität die dunkelhaarige Frau im hellgrauen Kostüm, schüttelten ihr die Hand und überreichten Blumen. Die Tochter einer Kaufmannsfamilie wurde von ihrem Bruder begleitet.

In Deutschland waren 2018 fast 15.000 Kinder sexueller Gewalt

Die beliebte Königin besichtigte das Childhood-Haus in einem Gebäude der Rechtsmedizin des Universitätsklinikums. Dort sind auf 140 Quadratmetern Räume für Gericht und Polizei, Medizin, Kinder- und Jugendpsychologie sowie Kinderschutz und Jugendamt vereint. Im Wartezimmer schaffen ein leuchtend blaues Sofa, zwei gemütliche Sessel und Schülerzeichnungen an der Wand eine kinderfreundliche Atmosphäre. Nach dem Vorbild des skandinavischen «Barnahus» (Kinderhaus) soll in den Childhood-Häusern nicht mehr ausschließlich die Wahrheitsfindung, sondern das Wohlbefinden der betroffenen Kinder im Mittelpunkt stehen. In Deutschland waren im vergangenen Jahr 14.600 Kinder Opfer sexueller Gewalt, 4200 von Misshandlung. 136 starben durch Gewalt.

Die Gattin von König Carl XVI. Gustaf gründete 1999 die Childhood-Stiftung auf Basis der UN-Kinderrechtskonvention. Die Diplomdolmetscherin sagte zu ihrer Motivation: «Als Mutter und Großmutter ist es mir auch ein sehr persönliches Anliegen, die Rechte der Kinder zu verteidigen und ihnen eine wirkliche Chance auf ein glückliches Leben zu schenken.»

Ihre Stiftung investiert einen sechsstelligen Betrag für Koordination, Projektmanagement, Fortbildung und räumliche Ausstattung in das Heidelberger Vorhaben. Die Klaus Tschira Stiftung trägt zur technischen Ausstattung bei. Die dort tätigen Spezialisten kommen mit ihren regulären Arbeitsverträgen ins Childhood-Haus. Nur eine Fallmanagerin ist permanent im Dienst.

In Leipzig hat man schon Erfahrungen gesammelt. Die Mitarbeiter hatten bislang mit 80 Fällen zu tun, von denen 12 in ein Ermittlungsverfahren mündeten, wie Matthias Bernhard erzählt. Der ärztliche Leiter der interdisziplinären Kinderschutzgruppe betont: «Der entscheidende Vorteil des neuen Konzepts ist, dass wir einen Ort haben, an dem die verschiedensten Beteiligten zusammenkommen und sich austauschen können.» Ziel sei es, die Zahl der Befragungen auf ein Minimum zu reduzieren. Dazu gibt es einen Raum, in dem das Kind befragt wird, während andere Beteiligte es durch einen einseitig durchsichtigen Spiegel beobachten und dem Befrager per Computer ihre Fragen schicken können. Befragt ein Richter das Kind, erspart ihm das die Gerichtsverhandlung.

Missbrauchte und misshandelte Kinder werden später oft selbst zu Tätern

Mehrere Befragungen durch nicht therapeutisch geschultes Personal können nach Bernhards Worten zu posttraumatischen Störungen führen – Schlaflosigkeit, Depression, Apathie, Bindungsunfähigkeit. First Lady Elke Büdenbender betonte, Kinder mit Erfahrung von Gewalt neigten später dazu, sie selbst anzuwenden: «Wir müssen die
Spirale der Gewalt durchbrechen.» Nach Angaben Bernhards verursachen die Folgen von Retraumatisierung jährlich einen volkswirtschaftlichen Schaden zwischen 11 und 30 Milliarden Euro.

Die Fälle werden von Jahr zu Jahr mehr, etwa zehn Prozent schätzt Bernhard. In diesem Jahr rechnet er sogar mit einer Steigerung von 20 Prozent, wobei die Zahl der ganz schlimmen Missbrauchsfälle – etwa eine Handvoll – nicht wachse. Als Grund für den Trend nennt er die verstärkte Aufmerksamkeit und die sozialen Medien, in denen Berichte über Missbrauchsfälle weite Kreise ziehen.

Auch Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, lobt den Import aus Skandinavien. Das zweite Childhood-Haus sei ein wichtiger Meilenstein für kindgerechte Verfahren bei sexueller Gewalt. Im Gespräch ist ein solches Angebot etwa auch in Berlin, Hamburg und Düsseldorf. Auch im Missbrauchsfall Lügde wäre nach Meinung Rörigs ein so ausgestaltetes Verfahren für die Kinder und ihre Familien wünschenswert gewesen.

In einem waren sich alle Redner einig: Niemand dürfe wegschauen, wenn das Wohl der schutzbedürftigsten, unschuldigsten und vertrauensvollsten Mitglieder dieser Gesellschaft bedroht wird. Von Julia Giertz, dpa

Beauftragter beklagt: Kitas und Schulen tun zu wenig gegen Missbrauch – er fordert Fachkräfte, die die Signale erkennen

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