Kassenstudie: Ein Viertel aller Schüler ist psychisch auffällig – im Schnitt zwei Kinder pro Klasse leiden unter Depressionen

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BERLIN. Innere Unruhe, nagende Selbstzweifel, kaum Energie: Fast zwei Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland haben nach einer Studie der DAK-Krankenkasse unter ihren Versicherten eine diagnostizierte Depression. Für ihren aktuellen Kinder- und Jugendreport hat die Kasse dazu die Abrechnungsdaten von mehr als 370.000 Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 17 Jahren für das Jahr 2017 ausgewertet. Demnach diagnostizierten Ärzte bei 1,9 Prozent der Schüler eine zumeist mittelschwere depressive Episode und bei 2,2 Prozent eine Angststörung. Alles in allem zeigt jedes vierte Schulkind psychische Auffälligkeiten.

Bei immer mehr Kindern in Deutschland wird eine Depression diagnostiziert. Foto: Shutterstock

Hochgerechnet auf alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland entspricht das nach Angaben der Kasse 131.000 Schülern dieser Altersgruppe mit Depressionen und 136.000 mit Angststörungen pro Jahr. Von psychischen Auffälligkeiten insgesamt wären mehr als zwei Millionen Kinder und Jugendliche betroffen. Solche Hochrechnungen sind unter Experten allerdings umstritten, da Krankenkassen unterschiedliche Versichertenstrukturen haben. Bei der DAK sind nach Angaben der Kasse insgesamt rund sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen zwischen 0 und 17 Jahren in Deutschland versichert. Sie wertet ihre Studie mit Blick auf die Alters- und Geschlechtsverteilung als repräsentativ.

Jungen häufiger von Depressionen betroffen als Mädchen

Mädchen waren nach den Kassendaten deutlich häufiger wegen Depressionen beim Arzt als Jungen. Fast jeder sechste junge Patient (17 Prozent) bekam 2017 ein Antidepressivum verordnet, zumeist von Fachärzten. Bis zu acht Prozent der betroffenen Kinder und Teenager kamen zur Behandlung einer Depression in eine Klinik, durchschnittlich mehr als einen Monat lang (39 Tage). «Im Report sehen wir nur die Spitze des Eisbergs», kommentierte Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, den Bericht. «Wir gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.» Es gebe viele Kinder, die an Depressionen litten und erst spät in die Praxen kämen.

Beim Übergang von der Klinik in die ambulante Versorgung sieht die Kasse große Lücken: Rund ein Viertel der jungen Patienten komme später erneut ins Krankenhaus. «Wir brauchen eine offene Diskussion über das Tabuthema Depressionen bei Kindern», forderte DAK-Vorstandschef Andreas Storm. Die Stigmatisierung durch einen langen Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie sei für Betroffene eine zusätzliche Belastung.

Dass Depressionen nicht allein ein Thema für Erwachsene sind, ist bekannt. «Wir gehen von etwa zwei betroffenen Kindern pro Schulklasse aus», sagt Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Der Psychiater schätzt die Zahlen der Kasse als realistisch ein. Für Deutschland gibt es Studien, nach denen rund acht Prozent der Erwachsenen zwischen 18 und 79 Jahren im Laufe eines Jahres an einer anhaltenden depressiven Störung erkranken. Das sind rund fünf Millionen Menschen.

Eine Depression könne sowohl genetisch bedingt sein als auch zum Beispiel durch Traumatisierungen oder Missbrauchserfahrungen erworben werden, erläutert Hegerl. Fachleute seien sich heute einig, dass die Neigung zu Depressionen in Deutschland nicht steigt. Vielmehr gebe es mehr Diagnosen, weil Ärzte das Leiden besser erkennen und mehr Menschen als früher bereit sind, sich Hilfe zu suchen.

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Depressive Schüler schaffen es kaum noch, in die Schule zu gehen

Zu den Anzeichen für eine Depression gehören oft Niedergeschlagenheit, Traurigkeit und Interessenverlust. Konzentrationsstörungen führen häufig zu weniger Leistungsfähigkeit. Bei schweren Episoden ziehen sich Betroffene stark zurück. Kinder und Teenager schaffen es dann kaum noch, in die Schule zu gehen. Dauer, Intensität und Symptome einer Depression können aber sehr unterschiedlich sein. Unbehandelt können schwere Episoden bis zu Suizidgedanken führen.

Bei Teenagern kann es für Laien schwer sein, Anzeichen für eine Depression vom normalem «Pubertieren» mit heftigen Stimmungsschwankungen zu unterscheiden. Für Fachleute sei es jedoch recht gut möglich, zum Beispiel Gefühle von innerer Versteinerung zu erkennen, so Hegerl. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe geht davon aus, dass im Vorschulalter ein Prozent der Kinder und im Grundschulalter rund zwei Prozent betroffen sind. Bei Jugendlichen stiegen die Raten dann an: Zwischen 12 und 17 Jahren seien es drei bis zehn Prozent Betroffene. Ulrich Hegerl zufolge geht mit einer unbehandelten depressiven Erkrankung bei jungen Menschen ein hohes Risiko einher, Schule oder Ausbildung nicht erfolgreich beenden zu können.

Psychisch kranke Eltern erhöhen das Depressionsrisiko für ihre Kinder

Die Zahlen der Kasse zeigen Zusammenhänge, die ähnlich bereits in anderen Studien belegt wurden: So steigt laut Report das Depressionsrisiko bei Kindern und Teenagern, wenn bereits Elternteile psychisch oder anders chronisch erkrankt sind. Auch eine eigene chronische Erkrankung, Adipositas, Diabetes, Asthma und Schmerzen können das Depressionsrisiko bei jungen Leuten laut Bericht erhöhen. Für Jungen geht die DAK davon aus, dass Depressionen unterdiagnostiziert sind: Wie erwachsene Männer bagatellisierten sie häufig seelische Probleme. Wie Psychiater Hegerl sagt, erkranken Mädchen ab der Pubertät und Frauen generell häufiger an Depressionen.

Die eigene Familie scheint Kinder umgekehrt auch vor erworbenen Depressionen schützen zu können: Besonders ausgeprägt zeigte sich das in den Kassendaten von Akademikerfamilien. Vermutlich könnten sie ihren Kindern Bildung, ein gutes Netz und soziale Sicherheit bieten, heißt es von der DAK. Das mache den Nachwuchs vielleicht widerstandsfähiger gegen psychische Leiden.

Entwicklungs- und Verhaltensstörungen sind unter Schülern weit verbreitet

Insgesamt zählten im Report Atemwegserkrankungen, Infektionen, Augen- und Hautprobleme zu den häufigsten Erkrankungen bei den 10- bis 17-Jährigen. Psychische Erkrankungen folgten mit 24 Prozent auf Platz fünf. Depressionen machten darunter nur einen kleinen Teil aus – am häufigsten diagnostizierten Ärzte Entwicklungs- und Verhaltensstörungen. dpa

Depression - Symptome bei Kindern und Teenagern

Fachärzte können die Anzeichen einer Depression bei Kindern und Jugendlichen oft erkennen. Für Eltern, Lehrer oder Erzieher ist das nicht immer einfach. Denn vorübergehende Symptome wie Traurigkeit und Niedergeschlagenheit sind zum Beispiel auch ein Teil der Pubertät.

Die Deutsche Depressionshilfe listet Besonderheiten in der Symptomatik nach Altersgruppen auf:

Kleinkinder zwischen einem und drei Jahren:

Vermehrtes Weinen, ausdrucksarmes Gesicht, erhöhte Reizbarkeit, überanhänglich, Kind kann schlecht alleine sein, selbststimulierendes Verhalten wie Schaukeln des Körpers oder exzessives Daumenlutschen, Teilnahmslosigkeit, Spielunlust oder auffälliges Spielverhalten, gestörtes Essverhalten, Schlafstörungen

Vorschulalter von drei bis sechs Jahren:

Trauriger Gesichtsausdruck, verminderte Gestik und Mimik, leicht irritierbar, stimmungslabil, auffällig ängstlich, mangelnde Fähigkeit, sich zu freuen, Teilnahmslosigkeit und Antriebslosigkeit, introvertiertes Verhalten, vermindertes Interesse an motorischen Aktivitäten, innere Unruhe und Gereiztheit, unzulängliches oder auch aggressives Verhalten, Ess-und Schlafstörungen

Schulkinder zwischen sechs und zwölf Jahren:

Verbale Berichte über Traurigkeit, Denkhemmungen, Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnisstörungen, Schulleistungsstörungen, Zukunftsangst, Ängstlichkeit, unangemessene Schuldgefühle und unangebrachte Selbstkritik, psychomotorische Hemmung wie langsame Bewegungen und eine in sich versunkene Haltung, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Suizidgedanken

Pubertäts-und Jugendalter von 13 bis 18 Jahren:

Vermindertes Selbstvertrauen, Selbstzweifel, Ängste, Lustlosigkeit, Konzentrationsmangel, Stimmungsanfälligkeit, tageszeitabhängige Schwankungen des Befindens, Leistungsstörungen, das Gefühl, sozialen und emotionalen Anforderungen nicht gewachsen zu sein, Gefahr der Isolation und des sozialen Rückzugs, psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Gewichtsverlust, Schlafstörungen und Suizidgedanken

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Macht diese Gesellschaft ihre Kinder kaputt? Immer mehr Schüler klagen über zu hohen Leistungsdruck in der Schule

 

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Pälzer
4 Jahre zuvor

„Eine Depression könne sowohl genetisch bedingt sein als auch zum Beispiel durch Traumatisierungen oder Missbrauchserfahrungen erworben werden“
Interessant, welche möglichen Ursachen nicht vermutet werden.
Nach unserer Beobachtung steigt die Problemrate bei Trennungen und Scheidungen.
Welchen Einfluss haben Mediennutzung, Schlafdauer, Konsumverhalten, religiöse Bindung?

xxx
4 Jahre zuvor
Antwortet  Pälzer

Guter Beitrag, Pälzer. Wieso sind negativ konotierte Dinge kritiklos möglicherweise genetisch bedingt, positiv konotierte Dinge durchweg sozial anerzogen?

Zum Artikel selbst: Wie da mit Zahlen, Prozenten und Grundwerten hantiert wird, geht auf keine Kuhhaut. Schon der Titel basiert auf einer mehr oder weniger willkürlich geschätzten Dunkelziffer und das für Lehrer wesentlich relevantere Problem der Verhaltensstörung /Aggressivität wird nur am Ende in einem Nebensatz erwähnt.

Pälzer
4 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

andererseits: irgendwo muss man anfangen zu untersuchen. Alles ok, solange die Forschenden und die Forscher sich ihrer eigenen blinden Flecken und terrae incognitae bewusst sind und dieselben nicht verheimlichen. Aber oft beginnt das große Vereinfachen erst bei denen, die darüber schreiben.

Gertrud Martin
4 Jahre zuvor

Beginnt das Elend nicht schon dann, wenn die Kinder nach Ablauf des Elterngeldjahrs für viele Stunden täglich dem Gruppenstress in einer überfüllten Krippe ausgesetzt werden? Keine Mama weit und breit. Weinen nützt nichts. Resignation und „trauriger Gesichtsausdruck, Unlust an Spiel und motorischer Betätigung“. Ja, wen wundert das denn? „Frühkindliche Bildung“? Dass ich nicht lache!