Jedes neunte Kind, das aufs Gymnasium wechselt, hat keine Empfehlung dafür

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STUTTGART. Besuchen zu viele Kinder eine Schule, die für sie eigentlich zu schwer ist? Darüber diskutiert die Politik heftig. Jüngster Anlass sind die neuen Übergangszahlen für weiterführende Schulen in Baden-Württemberg. Allein dort kamen mehr als 4.000 Schülerinnen und Schüler ohne Gymnasial-Empfehlung aufs Gymnasium. 

Immer mehr Schüler ohne entsprechende Grundschulempfehlung kommen aufs Gymnasium – und etliche davon haben dann dort Probleme, mitzuhalten (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

Etwa jedes neunte Kind, das zum Schuljahr 2019/20 von der Grundschule auf das Gymnasium wechselte, hatte dafür nicht die entsprechende Empfehlung. Das teilte Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) am Donnerstag in Stuttgart mit.

Insgesamt wechselten im vergangenen Herbst rund 91.600 Schülerinnen und Schüler auf eine weiterführende Schule. Dabei entschieden sich 43 Prozent für das Gymnasium. Von ihnen brachten rund 89 Prozent auch die Empfehlung für diese Schulart mit. 1 Prozent hatten nur eine Empfehlung für die Werkreal- oder Hauptschule. Rund 10 Prozent kamen mit einer Empfehlung für die Realschule aufs Gymnasium. Im Klartext: Allein in Baden-Württemberg kamen mehr als 4.000 Schülerinnen und Schüler ohne Gymnasial-Empfehlung aufs Gymnasium.

Noch deutlicher wird bei der Realschule von der Empfehlung abgewichen: Rund 57 Prozent der neuen Realschüler hatten im vergangenen Herbst für diese Schulart auch eine Empfehlung. Aber rund 24 Prozent war geraten worden, auf eine Werkreal- oder Hauptschule zu gehen. Rund 19 Prozent hatten eine Empfehlung fürs Gymnasium.

Die Grundschulempfehlung ist die Empfehlung der Grundschule dazu, welche weiterführende Schulart für ein Kind nach der vierten Klasse geeignet ist. Die grün-rote Vorgängerregierung hatte entschieden, dass die Empfehlung seit 2012/2013 nicht mehr verbindlich ist. Die Eltern können sich über sie hinwegsetzen und ihr Kind etwa auf ein Gymnasium schicken, obwohl es dafür keine Empfehlung hat.

„Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung war falsch“

Ministerin Eisenmann bekräftigte am Donnerstag, dass die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung durch Grün-Rot ein Fehler gewesen sei – was Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) bestreitet (News4teachers berichtete). Eisenmann arbeitet nach eigenen Worten an einem Konzept, um die Grundschulempfehlung wieder verbindlicher zu machen.

Insgesamt haben sich die Übergangsquoten nach Darstellung des Ministeriums im Vergleich zum Schuljahr davor kaum verändert. Von 91.600 Schülern wechselten rund 35 Prozent von der Grundschule auf eine Realschule. Für die Gemeinschaftsschule entschieden sich 13 Prozent und für die Haupt- und Werkrealschule rund 6 Prozent.

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Der Bildungsexperte der Landtags-SPD, Daniel Born, sieht keine Notwendigkeit, an der Grundschulempfehlung etwas zu ändern. «Die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung war richtig. Die Eltern gehen verantwortungsvoll mit der Entscheidung zur Schullaufbahn ihres Kindes um.» Born hielt Eisenmann vor, mit dem Thema vorzeitig Wahlkampf zu machen. Eisenmann ist auch CDU-Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl 2021.

FDP-Bildungsexperte Timm Kern geht die von Eisenmann angekündigte Reform hingegen nicht schnell genug: «Es wäre dringend erforderlich, dass die Kultusministerin ihren Worten Taten folgen lässt und für eine zügige Wiedereinführung der verbindlichen Grundschulempfehlung eintritt.» Kern führte Bayern, Sachsen und Thüringen als Beispiele an. Sie lägen in bundesweiten Schülervergleichsstudien vorne – und diese Bundesländer hätten eben auch eine verbindliche Grundschulempfehlung.

Der VBE sieht das Übergangsverfahren in etwas „ruhigerem Fahrwasser“ als in den Vorjahren. Gleichwohl meint der stellvertretende Landesvorsitzende Dirk Lederle: „Aus den Rückmeldungen der weiterführenden Schulen wissen wir, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler an der Schulart angemeldet werden, die ihrer Grundschulempfehlung entspricht. Das stellt die Schularten vor große Herausforderungen. Um diese meistern zu können, ist es dringend nötig, dass eine völlig transparente Weitergabe der Schülerinformationen an die weiterführende Schule erfolgt. Nur wenn dies gewährleistet ist, kann die weiterführende Schule sich auf die aufzunehmenden Schülerinnen und Schüler einstellen und diese optimal fördern.“

Entscheiden doch bald wieder Lehrer über die weiterführende Schule?

Das entspricht Eisenmanns Vorstoß: Sie hatte angekündigt, die Übergabe von der Grundschule an die weiterführende Schule „transparenter“ machen zu wollen – nach bayerischem Vorbild. Dort werden Unterlagen, die über die Leistungsentwicklung eines Schülers Aufschluss geben, weitergegeben. Derzeit müssen Eltern in Baden-Württemberg beim Übergang zwar die Grundschulempfehlung vorlegen, nicht aber die Zeugnisse. Auch darf die Grundschule keine Informationen ohne Zustimmung der Eltern weitergeben.

Das Kultusministerium beteuerte zwar, dies sei keine Wiedereinführung der Verbindlichkeit, wie sie in Bayern bei der Grundschulempfehlung gilt. Die GEW zeigt sich trotzdem skeptisch, dass mit der angekündigten Reform nicht doch die Entscheidung über die weiterführende Schule wieder den Lehrern zugeschoben werden soll. „Die GEW lehnt die Wiedereinführung einer stark bindenden Grundschulempfehlung ab.“ News4teachers / mit Material der dpa

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Zu viele überforderte Schüler: Realschulen wollen Hauptschulabschluss loswerden

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8 Kommentare
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xxx
4 Jahre zuvor

Leider fehlt die Angabe über die eingeschränkten Empfehlungen. Interessant wäre auch die prozentuale Verteilung der tatsächlichen erreichten Schulabschlüsse und Schulformwechsel.

Alles in Allem zeigt sich, dass besonders die Haupt- und Werkrealschule aus den unterschiedlichsten Gründen gemieden wird. Einer dürfte das sehr geringe Ansehen und die weitgehende Perspektivlosigkeit des Hauptschulabschlusses sein.

Gümnasiallehrer a.D.
4 Jahre zuvor

Würden diejenigen, die keine Empfehlung haben, sich nicht am Gymnasium anmelden, dann hätten die Lehrer dort Zeit, auch jene zu beobachten, die eine falsche Empfehlubg haben, ohne dass das Niveau der Klasse leiden muss. Gleichzeitig würde es so nach der Beobachtungsstufe weniger Verlierer geben. Dass eine leistungsfeindliche SPD („Es war richtig, die Verbindlichkeit abzuschaffen“) so ein funktionierendes System zerstört ist weder neu, noch überraschend.

Gerd Möller)
4 Jahre zuvor

Habe 2016 die Auswirkungen der verbindlichen und unverbindlichen Übergangsempfehlungen im Vergleich Bayern (verbindlich) und Nordrhein-Westfalen (unverbindlich) untersucht.Hier ist der link:

https://www.researchgate.net/publication/305041245_Die_Bedeutung_der_Grundschulempfehlung_fur_die_Wahl_der_weiterfuhrenden_Schule_Ein_Vergleich_zwischen_Bayern_und_Nordrhein-Westfalen

Die prinzipielle Fehleranfälligkeit von diesen Prognosen bei 10-jährigen, egal ob verbindlich oder unverbindlich, lässt sich prinzipiell nicht hintergehen.
Das zeigen u.a. die Übertrittquoten im Vergleich der Landkreise und kreisfreien Städte und die Schulformwechsel (Abschulungen), die auch in Bayern erheblich sind.
So berichtet der Bildungsbericht Bayern 2018:

„So variieren in den 96 bayerischen Kreisen die Übertrittsquoten
an die Mittelschule zwischen 17 % und 48 %, an die Realschule zwischen
13 % und 40 % und an das Gymnasium zwischen 23 % und 61 %.“

„Realschülerinnen und Realschüler wechselten am häufigsten an die Mittelschule (4.639 Schülerinnen und Schüler, dies entspricht 2,4 % aller Schüler der Jgst 5-9). Ab der Jahrgangsstufe 6 wechselt etwa knapp die Hälfte der Kinder und Jugendlichen (48 %) in eine M-Klasse, die zu einem mittleren Schulabschluss führt. Wechsel von der Realschule an die Wirtschaftsschule (893 Schülerinnen und Schüler) oder das Gymnasium (247 Schülerinnen und Schüler) waren vergleichsweise selten.

Gymnasiastinnen und Gymnasiasten wechselten am häufigsten an die Realschule (7.682 Schülerinnen und Schüler, dies entspricht 2,6 % aller Schüler der Jgst. 5-11) oder die Fachoberschule (1.750 Schülerinnen und Schüler). Die meisten Wechsel an die Realschule erfolgten aus den Jahrgangsstufen 6 und 7.

Obwohl die bayerische Mittelschule die Möglichkeit bietet, über den M-Zug den mittleren Abschluss zu erwerben, entschieden sich 2016 mehr als 4.700 Mittelschülerinnen und Mittelschüler für einen Wechsel an die Real-oder Wirtschaftsschule, darunter 2793 an die Realschule, das entspricht 2% aller Schüler der Jgst. 5-8. Wechsel an die Realschule erfolgten dabei mehrheitlich aus der Jahrgangsstufe 5 und Wechsel an die Wirtschaftsschule mehrheitlich aus der Jahrgangsstufe 6.“

Noch eine Anmerkung: Die vermeintliche Verbindlichkeit ist nur eine geteilte, nämlich nur nach oben. So kann das Bildungspotenzial aber nicht ausgeschöpft werden. Dies zeigt sich z.B. in Bayern, wo fast die Hälfte der Realschüler eine Gymnasialeignung haben.

xxx
4 Jahre zuvor
Antwortet  Gerd Möller)

Zu Ihrem letzten Satz: Bezieht sich der Anteil Gymnasiasten auf der Realschule auf alle oder nur die auf die Neuanmeldungen?

Gerd Möller)
4 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Bezieht sich auf die 5. Klasse also Neuanmeldungen

Gerd Möller)
4 Jahre zuvor

Zur Bewertung von Vor- und Nachteilen von verbindlichen und unverbindlichen Grundschulempfehlungen siehe auch meinen Artikel

https://www.researchgate.net/publication/296839760_Sortieren_nach_dem_Aschenputtelprinzip_und_die_Folgen_Alarmierende_Stressbelastung_beim_Ubergang_aus_der_Grundschule

Hier mein Fazit:
„Aufgrund der bisherigen Befunde zum Für und Wider einer verbindlichen Schulformempfehlung könnte man die Antwort auf die Frage nach der besseren Regelung noch für offen halten. Mit der aktuellen Studie der Universität Würzburg dürfte die Antwort jedoch eindeutiger ausfallen: Mit verbindlichen Schulformempfehlung werden Kinder im Alter von zehn Jahren einem vermeidbaren und kaum zu verantwortenden Stress ausgesetzt, und zwar viel stärker als bei unverbindlichen Empfehlungen.
Aber auch die unverbindlichen Empfehlungen sind mit erheblichen Mängeln behaftet. An deren Beseitigung müssen die für Bildungspolitik Verantwortlichen dringend arbeiten, wenn sie ihren Anspruch auf evidenz-basierte Bildungspolitik glaubhaft umsetzen wollen.
Schließlich sei angemerkt, dass all die dargestellten Probleme in einem eingliedrigen Schulsystem nicht existieren würden.“

xxx
4 Jahre zuvor
Antwortet  Gerd Möller)

Als Kompromiss würde ich mit der Verbindlichkeit „kein Gymnasium“ leben können.

Josephine
4 Jahre zuvor

Ich hatte als Kind keine Empfehlung fürs Gymnasium. Damals war die Empfehlung noch verbindlich und sie hat sich mit der Grundschullehrerin angelegt. Meine Noten waren das vor allem 2er. Mein Verhalten sehr schlecht. Am Ende habe ich auf dem Gymnasium ein 1,0er Abi gemacht, ohne Wartezeit Medizin studiert und auch da war ich unter den 10% der Besten. Ich finde, Eltern sollten mitentscheiden, denn sie kennen Ihre Kinder am besten. Auch ich muss gerade entscheiden, und auch meine Tochter hat keine Empfehlung. Ich brauche nicht um jeden Preis ein Vorzeigekind, aber weil sie es unbedingt möchte, lasse ich es sie versuchen. Auch scheitern gehört zum Leben dazu. Auch daraus lernt man. Also selbst dann hätte sie gelernt, dass man als Mensch Grenzen hat.