Erziehungswissenschaftler: Normaler Unterricht ist nicht zu kompensieren

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BAYREUTH. Gerade in den aktuellen Zeiten des Heimunterrichts gelte für Lehrer eine besondere Fürsorgepflicht, erklärt der Bayreuther Pädagoge Fabian Dietrich. Das Aufrechterhalten des Unterrichts sei außerdem symbolisch wichtig, um das Bewusstsein für die gesellschaftliche Wichtigkeit der Schule zu erhalten. Dennoch warnt er im Interview vor zu großen Erwartungen.

Die aktuelle Praxis von „Aufgabenversenden“ kann nach Ansicht von Fabian Dietrich Unterricht nicht kompensieren. Weder könnten Eltern Schule simulieren, noch Schüler diesen Wegfall eigenständig zuhause ausgleichen. Von Lehrern und Schulen fordert der Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Bayreuth klare Aussagen, was erwartet wird. Eltern rät er zu Gelassenheit.

Herr Professor Dietrich, wie schätzen Sie die aktuelle Unterrichtsversorgung ein?

Zweifelsohne bedingen die gegenwärtigen Schulschließungen für alle Beteiligten eine komplett neue Situation. Die Fortsetzung von Schule ohne Unterricht ist aber paradox, weil Unterricht als Face-to-Face-Interaktion Schule im Kern ausmacht. In dieser Situation, auf die niemand vorbereitet sein konnte, erscheint es naheliegend, zunächst auf tradierte Formen und Praktiken zurückzugreifen, nämlich das (nun z. T. virtuelle) Verteilen von Aufgaben und Arbeitsblättern und damit im wahrsten Sinne des Wortes von „Hausaufgaben“. Derartige Formate richten sich in erster Linie auf das Üben, also das Ausbilden von Routinen, und weniger auf das Lernen im Sinne eines Aneignens neuer Sachverhalte, Fertigkeiten und Fähigkeiten. Das kann durchaus trotzdem sinnvoll sein. Der normale Unterricht kann aber so nicht kompensiert werden.

Nicht alle Schüler sind gleichermaßen motiviert und nicht allen stehen hinreichende technische Mittel für den Fernunterricht zur Verfügung. Für Lehrer bringt das derzeit auch besondere Fürsorgepflichten mit sich. Foto: Myriam Zilles / Pixabay (P. L.)

Warum versuchen es viele Lehrer dennoch?

Inzwischen wurden seitens der Kultus- und Schulministerien Vorgaben gemacht, dass und wie durch die Lehrer das „Lernen Zuhause“ organisiert und begleitet werden soll. An diesen Vorgaben können und müssen sich die Lehrkräfte und Schulen orientieren. Die behelfsmäßige Weiterführung von Schule ist auch symbolischer Natur. Sie signalisiert Normalität: Die Schule als eine zentrale gesellschaftliche Institution, der für Kinder, Jugendliche und deren Familien im Alltag eine zentrale Bedeutung zukommt, existiert damit weiter. Gleichzeitig wird Bedeutsamkeit und Verantwortungsbewusstsein demonstriert: Was würde es für die gesellschaftliche Sicht auf Schule und Lehrer vor dem Hintergrund ihres ja ohnehin ambivalenten Ansehens bedeuten, wenn völlig unproblematisch und auf unbestimmte Zeit „Corona-Ferien“ ausgerufen werden könnten und würden?

Wie motivieren Eltern ihre Kinder, diese Aufgaben zu erledigen?

Inzwischen finden sich auf den Bildungsportalen der Länder und anderenorts Tipps und Hinweise für Eltern. Grundsätzlich hängt das Maß der Bereitschaft, die gestellten Aufgaben zuhause zu erledigen, insbesondere von familial tradierten grundsätzlichen Einstellungen zu und Sichtweisen auf Schule, von den schulbiografischen Erfahrungen und den individuellen Interessen der Schüler, aber auch von der aktuellen häuslichen Situation ab. Von Bedeutung ist auch die Beziehung zu den Eltern, wenn diese auf Erledigung drängen. Grundsätzliche Schwierigkeiten – also auch etwaige schulbezogene Motivationsprobleme, die über übliche und eine den meisten Eltern bekannte situative Unlust hinausgehen – treten in der aktuellen Situation möglicher Weise besonders stark zutage. Es erscheint mir naheliegend, dass die gegenwärtige Situation, in der Familienmitglieder nun seit einigen Wochen schon mehr oder weniger permanent auf engem Raum und mit deutlich reduzierten Außenkontakten zusammenleben, wenig geeignet ist, entsprechende grundsätzliche Probleme zu lösen oder zu bearbeiten. Entsprechend wäre hier ein hinreichendes Maß an Gelassenheit geboten. In dem Zusammenhang mag es helfen, sich zu vergegenwärtigen, dass Eltern keine Lehrer sein können und sollen.

Eltern empfinden es im Moment aber so: Sie sind dafür verantwortlich, dass die Kinder ihr Pensum erledigen und dass sie neue Stoffe verstehen.

Eine solche Delegation der Verantwortung in Richtung der Eltern wäre unangemessen und unzulässig. Schule „motiviert“ insbesondere und in ganz spezifischer Form durch ihre institutionelle und organisationale Verfasstheit, die nicht zuletzt die Differenz zu Familie und Freizeit markiert. Diese wird häufig kritisiert, ist aber, aus einer analytischen Perspektive betrachtet, hoch funktional. Schule kennzeichnet eine rigide zeitliche Ordnung (Stundenplan), eine spezifische räumliche Gestaltung (Klassenraum), tradierte und z. T. ritualisierte Interaktionsformen (Unterricht) und die in diesen Ausdruck findenden Rollen, die Schüler und Lehrer einnehmen. Dieses hohe Maß an Vorstrukturiertheit reduziert Aushandlungsbedarfe und sorgt dafür, dass das strukturell im Raum stehende Motivationsproblem im Unterricht im Regelfall wenig zutage tritt. Schüler lernen mit Eintritt in die Schule, dass in der Schule „Motivation“ unabhängig von einem genuinen inhaltlichen Interesse erwartet und eingefordert wird. Wenn nun Eltern zuhause ihre Kinder anhalten, die gestellten Aufgaben zu erledigen, verfügen sie über diesen institutionellen Rahmen nicht und können diesen auch kaum simulieren. Möglich ist allein auf diesen zu verweisen: Die Schulaufgaben werden dann im Zweifel nach wie vor für die Schule und nicht den Eltern zuliebe erledigt, oder eben nicht.

Eigenständig Themen zu erarbeiten – wie es viele Lehrer jetzt einfordern. Ist das Schulkindern überhaupt möglich?

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Bei aller denkbaren Kritik daran, dass Schule traditionellerweise nicht darauf ausgerichtet sei, die Eigentätigkeit, Selbstständigkeit und Kreativität von Schülern zu fördern, erscheint die ernsthafte Erwartung, dass in Zeiten der Aussetzung des Unterrichts Schüler diesen Wegfall „eigenständig“ zuhause kompensieren könnten oder aber, dass Eltern nun das gegenwärtige „Homeschooling“ nutzen könnten, um schulische Mängel zu kompensieren, in verschiedener Hinsicht problematisch. Auch diesbezügliche Thematisierungen von „Selbstständigkeit“ müssen hinterfragt werden, inwieweit diese dazu dienen, die Verantwortung für Erziehung an die Zu-Erziehenden zu delegieren.

Welche Rolle spielt ein täglich gleicher Rhythmus – Aufstehen, Frühstück, zu Schule gehen – bei der (Selbst-)Motivation?

Der Ausfall des Unterrichts bedingt insbesondere den Wegfall fester Zeitstrukturen: Anfangs- und Endzeiten, fester Stundenpläne und ritualisierte unterrichtliche Abläufe. Dass diese in hohem Maße entlasten, wird spätestens dann offensichtlich, wenn gegenwärtig jeden Tag aufs Neue in den Familien um Fragen der Tagesstrukturierung gestritten wird. In diesem Sinne kann die Etablierung von analogen Strukturen – etwa die Festlegung, wann am Tag wie lange das Kind für die Schule arbeiten soll – hilfreich und entlastend sein. Sie kann Orientierung geben und Aushandlungsbedarfe reduzieren. Eine klare Terminierung des täglichen Fernunterrichts markiert auch eine symbolische Differenz zwischen Schule und Freizeit bzw. Familie und arbeitet damit Entgrenzungstendenzen und Überlagerungen entgegen.

Fernunterricht läuft weiter – und unter Eltern reift die Erkenntnis, dass das Unterrichten potenziell unwilliger Schüler ein ganz schön harter Job ist

Was sollten Lehrer tun, um die Schüler bei der Stange zu halten? Was nicht?

Die Umstellung auf ein häusliches Arbeiten und der Wegfall von Unterricht erfordert auch eine Justierung der Erwartungen und Ansprüche: Was kann und soll der Fernunterricht leisten? Was soll und kann den Schülern abverlangt werden? Diesbezüglich wäre es wünschenswert, wenn Lehrer hier entsprechende Orientierung lieferten. Dies wird erleichtert durch Rückmeldeschleifen und -formate, die nicht zuletzt auch Eltern hinsichtlich der oben angesprochenen Motivations- und Strukturierungsfragen entlasten dürften. Voraussetzung dafür ist, dass überhaupt der Kontakt zu den Schülern aufrecht erhalten bleibt und auf neue Kommunikationsformen umgestellt wird.

Sind Videokonferenzen und Lernplattformen das richtige Mittel?

Sie können helfen. Die Kommunikation ist aber auch ohne elaborierte technische Voraussetzungen möglich und kann auch über E-Mail oder per Telefon erfolgen. Wie auch immer erscheint die Aufrechterhaltung des Kontaktes insbesondere auch mit Blick auf Schüler aus Familien geboten, die nur begrenzt über die Ressourcen und Voraussetzungen verfügen, die aktuelle Situation eigenständig zu bewältigen. Jetzt gilt m. E. eine besondere Fürsorgepflicht, zu der auch zählen kann, im Zweifelsfall die Kontaktaufnahme zu entsprechenden Unterstützungssystemen zu befördern. Gerade auch in der Art und Weise, inwieweit und wie Lehrer aktuell mit ihren Schülern in Kontakt und ansprechbar bleiben, findet deren berufliches Selbstverständnis Ausdruck. Aufgerufen ist dabei kein heroisches Ethos, Tag und Nacht für die Schüler da zu sein, sondern allein eine Fortsetzung der beruflichen Praxis mit anderen Mitteln.

Erleben wir gerade die Turbo-Digitalisierung der Schulen?

Die Ausgangssituation ist in hohem Maße uneinheitlich. In einigen Schulen ist die Nutzung digitaler Kommunikationsformen und Technik im Schul- und Unterrichtsalltag bereits länger fest etabliert. In der aktuellen Situation ist das natürlich ein großer Vorteil. Andernorts scheint aber selbst die dienstliche Nutzung von E-Mails nach wie vor keine Selbstverständlichkeit zu sein. Auf einzelschulischer Ebene liegen also, was die technische Infrastruktur aber auch Kompetenzen, Erfahrungen und Bereitschaften angeht, ganz unterschiedliche Ausgangslagen hinsichtlich einer partiellen Kompensation des ausfallenden Unterrichts qua „Digitalisierung“ vor. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass „Digitalisierung“ von Schule das Vorhandensein entsprechender flächendeckender Technik auf Seiten der Schüler voraussetzt. Auch hier stellen sich Fragen der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Schule. Grundsätzlich dürfte die gegenwärtige Situation Schulen mit geringem Entwicklungsstand unter Veränderungsdruck setzen, indem beispielsweise in den Medien über positive Beispiele berichtet wird.

Gehen Sie davon aus, dass Lehren und Lernen sich nachhaltig verändern?

Die aktuelle Nutzung digitaler Medien, von Lern-Plattformen und Apps entspricht nicht dem, worum es bei der „Digitalisierung“ von Schule geht: Aktuell wird versucht, den Ausfall von Unterricht zu kompensieren. Einiges wird sich, wenn der herkömmliche Unterricht wieder einsetzt, dann wieder als überflüssig oder wenig funktional erweisen. Die beklagte Rückständigkeit der Schule kann in diesem Sinne in Teilen auch darauf zurückgeführt werden, dass nicht alles, was aktuell propagiert wird, sinnvoll sein muss. Natürlich hängt das Maß an Veränderung ganz entscheidend auch davon ab, wie schnell und inwieweit wieder schulische Normalität etabliert werden kann. Möglicherweise zeigt sich gerade auch in der aktuellen Nutzung und Erprobung digitaler Kommunikationsmedien und -formen, dass diese zwar Unterricht auf der Erscheinungsebene verändern, allerdings in seiner Strukturlogik unberührt lassen: Lern-Apps, durch die sich Schüler durchklicken, unterscheiden sich bei aller Suggestivität des Erscheinungsbildes mitunter kaum vom traditionellen Arbeitsbuch, welches seit Schülergenerationen im Einsatz ist. Ob nun Aufgaben analog per Papierkopie verteilt, per Mail versandt oder auf Lernplattformen bearbeitet werden, ändert an der Aufgabe und deren Bedeutung im Unterricht kaum etwas. Wie gesagt: Normaler Unterricht kann so nicht kompensiert werden.
(Interview: Anja-Maria Meister)

Mehrheit der Eltern ist mit den Angeboten der Lehrer alles in allem zufrieden – stößt aber im Heimunterricht an Grenzen

 

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Heinz
3 Jahre zuvor

Ein sehr langes Interview und zumindest für mich ein Interview mit null Aussage.
Der Interviewte findet, dass Heimunterricht den Unterricht in der Schule nicht ersetzen kann, er findet ihn aber wichtig, da die Kinder Struktur brauchen. Etliche solcher Aussagen, die am Ende zu keinem Ergebnis führen, finden sich in diesem Interview.

Lediglich einen konkreten Vorschlag gibt es:
Lehrer sollen den Kontakt zu den Schülern halten, per Telefon oder Email.
Was hier aber nicht bedacht wird, dass funktioniert so nicht! Das mag an einer Grundschule funktionieren, wo ein Lehrer vll. überwiegend 25 Kinder unterrichtet, an einer weiterführenden Schule ist dies einfach nicht praktikabel. Lehrer an weiterführenden Schulen haben in der Regel zwischen 200 und 300 Schüler. Diese kann ich definitiv nur in absoluten Ausnahmen anrufen, und dann muss ich grundsätzlich auch feststellen, das ich bei ca. 1/3 sowieso öfter anrufen müsste, weil niemand zu Hause ist.
Ebenso kann ich auch keine 200-300 individuellen Emails pro Woche schreiben + Rückmeldungen und am Besten noch Korrekturen, während ich gleichzeitig die Abschlußklassen in mindestens doppelter Stundenanzahl unterrichten muss, und für alle anderen Klassen Wochenplanarbeit erstellen muss.

Also für mich LEIDER klassische Aussagen eines Universitätsangehörigen, die wie so häufig nicht zu den Rahmenbedingungen der wirklichen Welt passen. Leider wie gesagt, denn wenn ich könnte, würde ich auch außerhalb von Corona, gerne sehr viel mehr Zeit in jeden einzelnen Schüler investieren.

Georg
3 Jahre zuvor

Frage an die Erziehungswissenschaftler:

Wieso war bis Ende 2019 eine Viertagewoche im Präsenzunterricht ausreichend?