Experten schätzen: Mehr als sechs Millionen Analphabeten bundesweit, „erschreckend viele“

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Rund 6,2 Millionen Menschen in Deutschland können nach Experten-Schätzung nicht oder nicht ausreichend lesen und schreiben. Beides sei aber zentral für eine berufliche und gesellschaftliche Teilhabe, betonte das Forschungsnetzwerk AlphaFunk am Mittwoch in Duisburg. Bei Erwachsenen mit geringen schriftsprachlichen Fähigkeiten handele es sich nicht um eine homogene Gruppe, sagte Netzwerk-Leiter Michael Schemmann.

Unterschrift in Form von drei Kreuzen - Häufig brauche es einen hohen Leidensdruck und Hilfe von Freunden oder Familie, bis ein Analphabet sein Problem angehe. Foto: berwis / pixelio.de
Häufig brauche es einen hohen Leidensdruck und Hilfe von Freunden oder Familie, bis ein Analphabet sein Problem angehe. Foto: berwis / pixelio.de

Entsprechend müsse man versuchen, diese Menschen noch stärker, gezielter und auf den unterschiedlichsten Wegen für Angebote der Alphabetisierung und Grundbildung zu gewinnen. Neben den bewährten Weiterbildungsstrukturen mit den Volkshochschulen als zentralen Akteuren seien auch Kooperation etwa mit sozialen Diensten oder Fußballvereinen wichtig.

Schemmann zufolge ergab eine Analyse des Netzwerks zudem, dass aufsuchende Angebote besonders wichtig seien – also in die Stadtteile hineinzugehen. Als Einstieg könnten auch mal Nähkurse oder Sportangebote dienen.

Nach Bundesländern aufgeschlüsselte Schätzzahlen gebe es zwar nicht. Es handele sich aber um «erschreckend» viele Betroffene – «und das findet in jeder Kommune statt», schilderte der Parlamentarische Staatssekretär im NRW-Wissenschaftsministerium, Klaus Kaiser. Man komme an die Menschen oft nur schwer heran, weil das Thema mit einem Tabu belegt sei und viele Betroffene Strategien zur Verdeckung entwickelt hätten. So heiße es: «Ich habe gerade meine Brille nicht dabei, würden Sie mir den Text bitte vorlesen?» Oder auch: «Das Formular fülle ich lieber in Ruhe zuhause aus.»

Das vom Land NRW geförderte Forschungsnetzwerk AlphaFunk ist ein Kooperationsprojekt der Universitäten Köln und Duisburg-Essen sowie dem Deutschen Institut für Erwachsenenbildung in Bonn. dpa

„Deutschland verlernt das Schreiben!“, titelt der „Spiegel“ (mal wieder) – was dem der Grundschul-Didaktiker Brügelmann entgegenhält

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6 Kommentare
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Realist
2 Jahre zuvor

Wie kommen Sie darauf, dass die Schulen dies zu verantworten hätten? Der Bericht spricht von „Menschen in Deutschland“. Das umfasst auch die vielen Millionen, die entweder durch die Freizügigkeit aus anderen EU-Ländern nach Deutschland eingewandert sind oder die aus Krisengebieten nach Deutschland migriert sind.

Zudem: Es gibt bestimmt viele, die in Deutschland zur Schule gegangen sind und NACH dem Schulbesuch nie wieder ein Buch oder eine Zeitung in die Hand genommen haben. Auch durch das Internet kann man sich dank Youtube, Instagramm und Co. mittlerweile „lesefrei“ bewegen.

Aber Hauptsache wieder die Schulen gebasht…

trotzki
2 Jahre zuvor
Antwortet  Realist

Das hat doch nichts mit Bashing zu tun. In der Zahl stecken letztendlich beide Seiten.
Wenn ich höre, dass jetzt in der Grundschule auch schon Arbeitsblätter dank der Digitalisierung vorgelesen werden, werde ich nachdenklich.
Wenn ich mitbekomme, wie 8.Klässler einen Text vorlesen, werde ich nachdenklich.
Wenn ich sehe, welche Arbeiten die Schüler abgeben und dann sagen, ist doch gut, ich habe LRS, ich darf das, werde ich nachdenklich.

Tina+2
2 Jahre zuvor

Angesichts von 2 Kindern, die sich beide aus eigenem Antrieb selber (u.a. mit Hilfe des Tip-Toi-Buchs „Erste Buchstaben“) schon vor dem Schulstart das Lesen beigebracht haben, finde ich es absolut unfassbar, wie man es hinkriegt, nach mind. 4 Jahren Grundschule immer noch nicht lesen und schreiben zu können.

Mit K2 hatte ich im Frühjahr vor der Einschulung Bilder von dem Hotel geschaut, das wir für den Sommer gebucht hatten. Dort war auch das Kinderbuffet abgebildet und überall standen Schilder, was sich in den Töpfen befindet. Für K2 hat das als Anreiz gereicht, bis zum Sommer auch wie K1 endlich selber lesen zu können, was es sich dann selbständig am Buffet aussuchen und holen könnte.

Wir wurden ständig gelöchert, was irgendwo steht, bei Auto- und Werbeschildern oder der Frühstücksmarmelade wurde gefragt, welche Buchstaben das sind bzw. bald selber versucht, es rauszukriegen. Zusammen mit dem Tip-Toi-Buch hat das dann innerhalb weniger Wochen dazu geführt, dass das Kind im Urlaub alle Schilder (und auch kleine Bücher) selber lesen konnte.

Ganz ehrlich, ich würde dieses sprechende Buch auch jedem Erwachsenen empfehlen, der (nochmal) lesen lernen möchte weil es einfach total liebevoll, logisch und selbsterklärend gestaltet ist.

(Nein, ich verdiene keinen Cent mit meiner Empfehlung sondern hoffe einfach nur, dass es dem einen oder anderen helfen könnte 😉

Pit2020
2 Jahre zuvor
Antwortet  Tina+2

@Tina+2

Stimmt, die sind genial, früher hießen die nur anders (Elexikon) und ich habe das als Kind heiß und innig geliebt!
Ja, das gibt es tatsächlich schon „ewig“ (seit 1975)
https://www.spiele-check.de/18981-Elexikon.html
Und genau wie die LÜK-Kästen war das damals eine prima Möglichkeit, die Kids mal „ruhigzustellen“ 😉 … für’s TV gab es damals nämlich nur Erlaubnis für die „Kinderstunde“ und der Wortteil „Stunde“ war dann eben genau 1 Sendung am Nachmittag, meistens „Lassie“, „Flipper“ o.ä. Mit viel Glück konnte man noch 1 – 2x die Woche eine Vorabendserie schauen.
Toll waren auch die „Was ist was?“-Bücher, da konnte man schon stundenlang „Bildchen schauen“, bevor man lesen konnte – aber man wollte dann eben auch wissen, was da überall neben den Bildern geschrieben steht. Ebenso toll waren Hörspiel-Platten, wobei man als kleines Kind natürlich nicht selber an den Plattenspieler grabschen durfte.
Alles in allem: Man bekam kognitive Appetithäppchen (Das war in meinem Umfeld in vielen Familien früher so üblich, auch wenn nicht gerade viel Geld vorhanden war – dann wurde auf andere Dinge verzichtet.) … und als Kind hatte man rasch das Bedürfnis von den Erwachsenen unabhängig zu werden, u.a. eben durch Lesen-können.
Etliche Erwachsene bzw. Eltern waren allerdings selber teilweise seeehr schlechte Leser (da wurde auch damals schon NICHT vorgelesen, klar) bzw. sogar Beinahe-Analphabeten, weil auch damals schon Lebenläufe durch den 2. Weltkrieg dahin verändert wurden, dass man buchstäblich um sein Leben laufen musste – zack, Ende der Schullaufbahn.
Aber genau diese Erwachsenen haben dann erfreulich oft darauf geachtet, dass die eigenen Kinder auf jeden Fall lesen und schreiben (und rechnen) lernen und sie haben für entsprechende Anreize gesorgt.

Jedoch gab es damals auch eine gewisse Zahl von Eltern, denen die Laufbahn ihrer Kinder herzlich egal war – die meisten, die damals auf dem Gymnasium gelandet waren, haben LuL sowie SuS dann mit vereinten Kräften bis zur mittleren Reife durchgezogen. Das ging aber nur, weil die SuS, die damals durchgezogen wurden, tüchtig mitgerudert haben und – GANZ ENTSCHEIDEND: Es waren in der Summe viel weniger SuS, die durchgezogen werden mussten.
Unter den heutigen Bedingungen funktioniert das nicht mehr. Teilweise haben sich die quantitativen Verteilungen einfach umgedreht …

Und was mir auch noch ganz wichtig ist:
Über Analphabeten lässt sich vieles sagen – aber „dumm“ sind diese Leute ganz bestimmt NICHT, denn sämtliche Strategien zum Verheimlichen ihrer Situation entwickeln diese Leute in aller Regel komplett allein (Stichworte z.B.: Kreativität, Problemlösekompetenz usw.) und sie müssen darauf achten, dass ihre „Story“ auch oft über lange Zeit, z.T. über Jahrzehnte, funktioniert (Stichwort: stringente Gedankengänge, Erinnerungsvermögen, usw.).
Einige sind seit Jahren bzw. Jahrzehnten berufstätig, besitzen den Führerschein usw. Womöglich hatten wir alle schon mehrfach Kontakt mit Analphabeten, ohne das uns das wirklich aufgefallen wäre. Und damit meine ich nicht den netten Menschen, der – Oh Schreck! – die Brille dummerweise Zuhause liegen ließ … Das können auch Menschen sein, mit denen man schon mehrfach oder gar regelmäßig Kontakt hat (Verein o.ä.) und das funktioniert aus den o.g. Gründen, eben weil diese Menschen durchaus intelligent sind.

Konfutse
2 Jahre zuvor

*Wie oben genannt, muss es heißen.

Angelika
2 Jahre zuvor

„Die Schule“ ist eine Institution und von daher keine natürliche Person und kann also schon mal nicht unter einem „Bashing“ leiden. Dass es – vereinzelt – Lehrer gibt, die nicht merken, wenn einer ihrer Schüler nicht lesen kann, kann ja wohl nicht bestritten werden. Analphabeten sind immerhin oft erfinderisch und clever, wenn es darum geht, über ihr Manko hinwegzutäuschen. Von einigen Schulbegleitern weiß ich, dass deren taktvollen Versuche, einem Lehrer verstehen zu geben, dass ein Kind nicht das kann, was ihm der Lehrer an Fähigkeiten unterstellt hat, arrogant abgeschmettert wurden. Doch Tests und Untersuchungen führten dann zur Ernüchterung. Aber nicht zur Entschuldigung bei den Unstudierten, die es gewagt hatten, einem Lehrer oder einer Lehrerin zu widersprechen.

Schulbegleiter stellen übrigens immer wieder fest, dass es Lehrer gibt, wo alle Kinder schnell und mit viel Vergnügen lesen lernen. Und andere haben unter ihnen und Eltern bereits den Ruf weg, dass man bei ihnen unbedingt Eltern oder andere darauf achten müssen, dass ein Kind vor dem dritten Schuljahr lesen kann…