BONN. Der Bürgerrat Bildung und Lernen ist ein bundesweit einmaliges, unabhängiges Gremium aus zufällig ausgewählten Menschen in Deutschland. Das Ziel: Gemeinsame Empfehlungen formulieren, um die Politik ins Handeln zu bringen. Zu den über 700 zufällig ausgelosten Teilnehmer*innen des von der Montag Stiftung Denkwerkstatt ins Leben gerufenen Gremiums gehört seit der Gründung 2020 auch die Münchnerin Dr. Katharina Roos, Geschäftsführerin (des Beratungsunternehmens Netzwert Partner) von Beruf. Die ehrenamtliche Bürgerrätin wirft im Interview einen Blick auf die vergangenen vier Jahre Engagement für die Bildung – und spricht über Erwartungen, Enttäuschungen, aber auch Erfolge.

Im Mittelpunkt der Arbeit des Bürgerrats Bildung und Lernen steht die Frage, wie Bildung in Deutschland in Zukunft aussehen soll. Was hat Sie bewogen, sich für dieses Thema zu engagieren?
Katharina Roos: Ausschlaggebend für meine Entscheidung waren mehrere Faktoren. Erstens beschäftige ich mich bereits beruflich mit Teilhabeprozessen und datengestützter Organisationsentwicklung. Ein zentraler Aspekt dabei sind Mitarbeiterbefragungen, die darauf abzielen, verschiedene Perspektiven innerhalb eines Unternehmens zusammenzubringen – worauf ja auch der Bürgerrat abzielt. Zweitens habe ich zwei Kinder und mir daher schon viele Gedanken über das Schulsystem gemacht. Und drittens habe ich Pädagogik und Psychologie studiert, darin promoviert und mich bereits währenddessen mit der Frage auseinandergesetzt „Was braucht gute Bildung?“.
Ich bin außerdem der Meinung, dass man als Bürger, sobald man sich über die Welt und die Politiker empört, selbst aktiv werden muss. Denn durch eigenes Engagement kann man nicht nur Selbstwirksamkeit erfahren, sondern auch zu einer Verbesserung beitragen. Als die Einladung zum Bürgerrat daher in den Briefkasten flatterte, war es im Grunde nur eine Frage der Organisation, dass ich daran teilnehme.
Wenn Sie auf das aktuelle deutsche Schulsystem blicken, was sind die derzeit größten Herausforderungen?
Roos: Eine der größten Herausforderungen ist ganz klar die Chancengerechtigkeit. Der Bildungsabschluss in Deutschland hängt stark vom Einkommen der Eltern ab, und dieses Problem hat sich über die Jahre verhärtet.
Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass die Lehrenden in ihrer Ausbildung immer noch Methoden des letzten Jahrhunderts vermittelt bekommen. Es gibt in der Praxis natürlich viele wahnsinnig engagierte Lehrende, die innovative Ansätze verfolgen, aber in den Kultusministerien muss grundsätzlich ein Umdenken stattfinden. Die Frage, wie Bildung heutzutage aussehen muss, um Kinder und Jugendliche auf die Zukunft vorzubereiten, ist noch nicht vollständig beantwortet. In vielerlei Hinsicht ist das deutsche Bildungssystem weiterhin sehr traditionell.
Im Bürgerrat Bildung und Lernen sind Menschen unterschiedlichen Alters mit unterschiedlichen Berufserfahrungen vertreten: Wie erleben Sie die Zusammenarbeit?
Roos: Ich bin wirklich begeistert von dem, was da passiert. Besonders drei Aspekte faszinieren mich: Erstens, dass so viele Menschen, die sich vorher nicht kannten, ernsthaft über ein Thema sprechen können, ohne sich gegenseitig abzuwerten. Zweitens finde ich es unglaublich gut orchestriert. Jeder weiß immer, wohin er sich wenden muss, die Abläufe sind gut portioniert und methodisch hervorragend umgesetzt. Drittens haben die Lösungen, die wir bislang erarbeitet haben, alles übertroffen, was ich mir allein hätte ausdenken können, obwohl ich mich schon intensiv mit dem Thema beschäftigt hatte. Das ist großartig und gibt mir enorme Kraft.
Seit seiner Gründung hat der Bürgerrat schon einige Ergebnisse vorgelegt. Dazu gehören auch 15 Empfehlungen für mehr Chancengerechtigkeit. Haben Sie den Eindruck, dass Sie von Gesellschaft und Politik gehört werden?
Roos: Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht so genau. Ich habe das Gefühl, dass sich nicht allzu viele Politiker dafür interessieren. Einmal war ich beim Deutschen Städtetag, weil ich für den Bürgerrat einige Sprecherrollen wahrnehme, und wurde dort regelrecht abgewatscht. Ich hatte den Eindruck, dass der Bürgerrat nur aus Höflichkeit eingeladen worden war, nicht zum Austausch. Wir wurden mit unseren Ergebnissen lediglich an den Elternbeirat verwiesen. Das war wirklich enttäuschend; entmutigen lassen haben wir uns davon aber nicht. Im Gegenteil, wir haben uns gesagt, dass es bei dieser Einstellung auf politischer Ebene umso wichtiger ist, dass wir weitermachen.
Wenn Sie entscheiden dürften, welche der erarbeiteten Lösungen würden Sie priorisiert umsetzen wollen?
Roos: Dazu gehören vor allem Punkte, die die beteiligten Kinder und Jugendlichen eingebracht haben. Sie wünschen sich zum Beispiel einen schönen Schulort – und dabei geht es nicht um Komplettsanierungen gesamter Schulen, sondern eher darum, ein paar Räume neu zu streichen. Sie wünschen sich auch einen Aufenthaltsraum, in dem sie nach dem Unterricht zum Beispiel Hausaufgaben machen oder lernen können. Ein solcher Raum wäre auch im Hinblick auf die Chancengerechtigkeit sinnvoll, etwa für Kinder, die zu Hause keinen geeigneten Platz zum Lernen oder kein ausreichendes WLAN haben.
Mir persönlich wäre es auch wichtig, längeres gemeinsames Lernen zu ermöglichen. Warum müssen Kinder schon nach der vierten Klasse auf verschiedene Schulformen aufgeteilt werden, gerade wenn sie sich in einem so labilen Alter befinden?
Sie sind beruflich Expertin für Organisationsentwicklung, wie erleben Sie aus dieser Perspektive das Format des Bürgerrats?
Roos: Es ist das bestmögliche Format für die Ziele, die wir verfolgen, weil blinde Flecken vermieden werden. Wenn ich mir nur in einem kleinen Kämmerlein Gedanken über eine Zielgruppe mache, ohne sie einzubeziehen, kommt es zwangsläufig zu Fehlentscheidungen.
Das ist in der Organisationsentwicklung ähnlich: Wenn ein Vorstand eine Strategie entwirft, vielleicht noch kluge Berater hinzuzieht, die jedoch nicht wissen, wo die Organisation aktuell steht, dann kennt man zwar das Ziel, hat aber keine Standortkoordinaten. Es ist, als ob man das Navi nicht richtig einstellen kann, weil man nicht weiß, wo man startet. Durch die breite Aufstellung des Bürgerrats wird aber niemand vergessen. Das hat zwei Effekte: Erstens werden die verschiedenen Perspektiven berücksichtigt. Das heißt nicht, dass alle zufrieden gestellt werden, aber dass Entscheidungen sehenden Auges unter Einbezug aller Informationen getroffen werden. Zweitens wird die Basis, die die Entscheidung trägt, umso größer, je mehr Menschen am Prozess teilhaben können. Die beteiligten Kinder und Jugendlichen sind beispielsweise begeistert, dass sie einmal zu einem für sie so zentralen Lebensbereich tatsächlich gehört werden.
Durch das Format bin ich aber auch demütiger gegenüber den Entscheidern in der Politik geworden. Ich habe erlebt, wie schwierig und anstrengend es ist, viele unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen – und am Ende trotzdem nie alle gleichzeitig zufriedenstellen zu können.
Ursprünglich war die Arbeit des Bürgerrats auf drei Jahre angelegt und sollte 2023 enden. Doch der Zeitraum wurde um zwei Jahre bis Ende 2025 verlängert. Was steht als nächstes auf dem Programm? Und was erhoffen Sie sich von der weiteren Arbeit des Bürgerrats?
Roos: Genau, wir haben beschlossen, weiter hartnäckig an diesem Thema dranzubleiben. Mein Wunsch ist es, dass wir mehr Sichtbarkeit erlangen und mehr Zuhörer finden, damit diese wertvollen Ergebnisse zumindest als Entscheidungsgrundlage in der Politik oder in Schulen berücksichtigt werden. Die Ergebnisse sind mehrheitsfähig, eigentlich ein Geschenk für die Politik. Wenn sie bei künftigen Entscheidungen beachtet würden, wären wir meiner Meinung nach einen großen Schritt weiter. Das Thema darf nicht in der Schublade verschwinden, es muss weitergetragen werden. Anna Hückelheim, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.
„Der Bürgerrat Bildung und Lernen hat in den vergangenen Jahren gezeigt, dass er etwas bewegen kann, zum Beispiel bei den Themen Teilhabe und Chancengerechtigkeit“, sagt Sabine Milowan, Projektleiterin und Leiterin der Montag Stiftung Denkwerkstatt, die das Projekt initiiert hat. „Es geht auch darum, vorhandene Freiräume zu nutzen, die das Bildungssystem ermöglicht.“
Regelmäßiger Austausch, das Abwägen von Pro- und Contra-Argumenten, Abstimmungen über konkrete Empfehlungen: All das gehört zur Arbeit von Bürgerrät*innen, die in den vergangenen Jahren in verschiedenen Bereichen auf sich aufmerksam gemacht haben. Ihr Ziel ist es, dass gesellschaftlich wichtige Fragen nicht nur auf parlamentarischer Ebene diskutiert werden, sondern dass Bürger*innen aktiv in die Suche nach Lösungen einbezogen werden.
Auch der Bürgerrat Bildung und Lernen hat nun über drei Jahre ganz unterschiedliche Menschen zusammengebracht, damit sie im Sinne einer lebendigen Demokratie gemeinsam über gesellschaftliche und bildungspolitische Fragen diskutieren. Welche Probleme und Herausforderungen müssen im Bildungsbereich dringend bearbeitet werden? Wie könnten bildungspolitische Reformen aussehen, die Probleme lösen und gleichzeitig in der Gesellschaft mehrheitsfähig sind? Und: Wie soll gerechte Bildung in Zukunft aussehen?
Die bisherigen Empfehlungen des Bürgerrats
Insgesamt 15 Empfehlungen hat der Bürgerrat Bildung und Lernen bereits in mehreren Schritten erarbeitet. Diese hat er im Juni 2023 an die Präsidentin der Kultusministerkonferenz übergeben. Die übergeordnete Frage lautete: Wie müssen Rahmenbedingungen aussehen, um in der Bildung echte Chancengleichheit zu schaffen? Dabei haben die Autor*innen Vorschläge für die drei Bereiche frühkindliche Bildung, allgemeinbildende Schulen sowie berufliche Bildung formuliert. Zu diesen gehören beispielsweise „eine verbindliche Förderung der Sprachkompetenz in Kindertagesstätten“, „die Ausweitung des Fachpersonals an Schulen“, „längeres gemeinsames Lernen“ sowie eine „engere Verzahnung von Schulen und Betrieben“.
Insgesamt setzt sich der Bürgerrat Bildung und Lernen aus mehr als 700 zufällig ausgewählten Teilnehmer*innen aus ganz Deutschland zusammen. Zugleich ist er aktuell der einzige Bürgerrat, der auf Bundesebene aktiv ist und auch Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren einbezieht. Zunächst war die Arbeit des Bürgerrats auf drei Jahre angelegt und sollte Ende 2023 enden. Doch nun wurde der Zeitraum um zwei Jahre verlängert. Das Ziel bleibt das gleiche: trotz unterschiedlicher Sichtweisen gemeinsame Empfehlungen erarbeiten, die Einfluss auf die Bildungspolitik in Deutschland nehmen.
Ins Leben gerufen wurde der Bürgerrat Bildung und Lernen 2020 von der Montag Stiftung Denkwerkstatt. Diese unabhängige, gemeinnützige Stiftung gehört zu den Montag Stiftungen in Bonn und hat sich zur Aufgabe gemacht, gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen, den konstruktiven Austausch zu fördern und Veränderungsprozesse anzustoßen. Anders als die meisten Bürgerräte wurde der Bürgerrat Bildung und Lernen nicht von einem politischen Gremium beauftragt.
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Gibt es irgendwo Informationen darüber, aus welchen 700 Personen sich der Beirat zusammensetzt und wie sie ausgewählt wurden?
Die 700 Personen wurden zufällig ausgewählt und angeschrieben. Herzliche Grüße Die Redaktion