Fragwürdige Migrationsdebatte torpediert Recht auf Bildung: Bildungsnotstand anerkennen statt nationalen Notlage herbeireden

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Ein Gastbeitrag des Sprecherteams der Bildungswende JETZT! zum Weltkindertag.

Am Weltkindertag sollten die besonderen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen im Fokus stehen. Doch aktuell haben sie einen schweren Stand. Seit Wochen überbieten sich Politiker*innen verschiedener Parteien mit Einlassungen und Entgleisungen in der sogenannten Migrationsdebatte. Nicht wenige von ihnen neigen dazu, Migration nun auch noch für die Probleme im Bildungssystem verantwortlich machen zu wollen. Als breites zivilgesellschaftliches Bündnis wollen wir diese Behauptungen nicht unwidersprochen hinnehmen. Denn diese Ablenkungsdebatte ist gesamtgesellschaftlich gefährlich und sie schadet dem Bildungssystem.

Die Initiative fordert von der Politik bessere Bedingungen für die Bildung. Foto: Bildungswende JETZT!

Kein*e Schüler*in und kein Kitakind erhält durch die aktuelle Debatte bessere Lernbedingungen oder eine angemessene Betreuung. Im Gegenteil: Die dringend notwendigen Entscheidungen für ein besseres, gerechteres, inklusives Bildungssystem und die dafür notwendigen Investitionen werden verschleppt und die Bildungskrise damit weiter verschärft.

Das deutsche Bildungssystem ist in einer tiefen Krise. Doch diese Krise ist hausgemacht und das Ergebnis politischer Fehlentscheidungen der letzten 20 Jahre. Anstatt zum wiederholten Mal Migration als Sündenbock für eigene politische Fehlentscheidungen heranzuziehen und eine angebliche „nationale Notlage“ herbeizureden, deren Vorhandensein von den allermeisten Jurist*innen angezweifelt wird, sollten die maßgeblichen politischen Entscheidungsträger*innen den täglich ablaufenden Bildungsnotstand anerkennen und hier endlich handeln!

Das System bricht auseinander – Brücken, Schulen, Kitas

Marode Brücken brechen plötzlich in sich zusammen wie gerade in Dresden oder müssen gesprengt werden wie in Lüdenscheid. Kitas und Schule fallen nicht schnell in sich zusammen, der Zerfall im deutschen Bildungssystem ist schleichender, aber nicht weniger gefährlich. Deutschland ist dabei, immer weitere Infrastrukturschulden anzuhäufen – auch in der Bildung. Der Sanierungsstau bei Schulen beläuft sich laut der Förderbank KfW auf knapp 55 Milliarden Euro, bei den Kitas auf knapp 13 Milliarden Euro. Im internationalen Vergleich der öffentlichen Bildungsausgaben hinkt Deutschland dem Durchschnitt hinterher und liegt weit entfernt von den Spitzenreitern. 4,6% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gab Deutschland 2021 für Bildung aus, im OECD-Durchschnitt waren es 4,9% und Spitzenreiter Norwegen investierte 6,5% des BIP in Bildung. Wollte Deutschland mit Norwegen gleichziehen, müsste es über 70 Mrd. Euro zusätzlich investieren – und das jährlich.

Statt das Ziel Bildungsweltmeister anzustreben oder wenigstens über den Durchschnitt zu kommen, werden diese Infrastruktur- und Bildungsschulden den kommenden Generationen aufgebürdet. Doch anstatt ernsthafte Vorschläge für die dringend notwendigen Investitionen zu machen, gefallen sich sowohl Kanzler Olaf Scholz als auch Oppositionsführer Friedrich Merz darin, mit einer äußerst überzogenen Migrationsdebatte von diesen drängenden Problemen abzulenken. Damit laufen sie der menschenfeindlichen Rhetorik der in großen Teilen rechtsextremistischen AfD hinterher und lassen reale Probleme in der Bildungspolitik ungelöst, während das System weiter zerbrösselt.

Nationaler Bildungsgipfel statt ständiger Migrationsgipfel

Bester Ausdruck für diese absurde Verschiebung von politischen Prioritäten ist die Tatsache, dass in den letzten Jahren und Wochen zahlreiche Migrationsgipfel und Migrationstreffen stattgefunden haben, sei es als Bund-Länder-Treffen oder als Treffen zwischen Ampel-Koalition und CDU, aber kein bundesweiter Bildungsgipfel, der diesen Namen verdient. Dabei ist ein „nationaler Bildungsgipfel“ im Gegensatz zu den Migrationsgipfeln im Koalitionsvertrag der Ampel vereinbart.

Als wir am 20. Juni dieses Jahres über 100.000 Unterschriften für einen nationalen Bildungsgipfel und eine Ausbildungsoffensive für Lehrkräfte und Erzieher*innen an die Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), Boris Rhein (CDU) und Stephan Weil (SPD), übergeben haben, bestand die Reaktion vor allem aus Desinteresse. Während mit Stephan Weil immerhin ein Folgetreffen in Planung ist, zeigte sich Boris Rhein nicht interessiert, sich in seiner Rolle als MPK-Vorsitzender für die dringend benötigte Bildungswende oder das Thema Bildung stark zu machen. In der aktuellen sogenannten „Migrationsdebatte“ äußert er sich hingegen regelmäßig.

Fragwürdige Migrationsdebatte verschlimmert Bildungskrise

Die Debatte um Migration, wie sie aktuell geführt wird, verstärkt Hass und Ausgrenzung, fördert die Spaltung der Gesellschaft und verschärft die Bildungskrise, indem sie vom eigentlichen Handlungsdruck im Bildungsbereich ablenkt.  Mit einer solchen Verdrängungskultur wird es nichts mit dem „Jahrzehnt der Chancengerechtigkeit“, für das die Ampel laut ihrem Koalitionsvertrag den Grundstein legen wollte. Natürlich stellt Migration in manchen Kitas und Schulen eine zusätzliche Herausforderung dar, ebenso wie die Omnipräsenz von Handys und der Einfluss der sozialen Medien. Aber die grundlegenden Probleme in Kita und Schule – Personalmangel, marode Gebäude, oftmals altbackene Vorgaben und mangelnde Unterstützung bei neuen Aufgaben – sind hausgemacht und nicht durch Migration verursacht.

Für ein bereits überlastetes System sind zusätzliche Aufgaben deutlich schwerer zu stemmen. Dass Kita und Schule aber kaum Reserven für weitere Aufgaben haben und die Bildungspolitik immer noch nicht verstanden hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, liegt in der Verantwortung der Politik, und weder bei Erzieher*innen, Lehrkräften und weiteren Beschäftigten, die tagtäglich dafür sorgen, dass es in dieser Gesellschaft ein Bildungssystem gibt, und damit den Grundstein für die gesellschaftliche Zukunft legen noch bei den Kindern und Jugendlichen, die in Kita und Schule gehen.

Verfassungsmäßiges Recht auf schulische Bildung sicherstellen

Die Kinder und Jugendlichen sollten am Weltkindertag, aber auch im Rest des Jahres, im Mittelpunkt stehen. Wir wollen an diesem Tag an das Recht auf schulische Bildung erinnern, das das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom November 2021 formuliert hat. Dort ist der „Anspruch auf Einhaltung eines für ihre [von Kindern und Jugendlichen] Chancen gleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten“ festgelegt. Dieser Anspruch gilt für alle Kinder unabhängig von der sozialen oder geographischen Herkunft. Doch diesem Anspruch wird das deutsche Bildungssystem oftmals nicht gerecht. Erst Anfang des Monats haben 300 Wissenschaftler*innen und Organisationen die Überlastung in vielen Kindertagesstätten angeprangert und warnen vor einer Gefährdung des Kindeswohls.

Wollten die politisch Verantwortlichen dieses Problem tatsächlich angehen, würden sie sich mit dem Bildungsnotstand auseinandersetzen und die Grundlagen für die Ausgestaltung des „Recht auf schulische Bildung“ schaffen, statt Ablenkungsdebatten zu führen, die auch rechtlich fragwürdig sind.

Zeichen für diesen politischen Willen wären, dass Kanzler Scholz und die Bundesländer – vertreten durch MPK und KMK – endlich zu einem nationalen Bildungsgipfel oder Bildungsdialog einladen und dass aus diesem Treffen die Vereinbarung hervorgeht, dass Deutschland endlich deutlich mehr in die Bildung – insbesondere in die frühkindliche und frühe Bildung – investiert, anstatt weiter Infrastruktur- und Bildungsschulden anzuhäufen.

Autoren des Gastbeitrags sind Dorothee Berres, Amelie, Markus Sänger, Janne Schmidmann, Max, Dr. Bianka Wachtlin – Sprecher*innen von “Bildungswende JETZT!”

Initiatoren des von mehr als 200 Organisationen unterzeichneten Bildungsappells sind die Bildungskampagne „Schule muss anders”, „Teachers for Future” und die Elternvertretung „ARGE-SEB”. Zu den Unterzeichner*innen zählen die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), ver.di, der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), der Bundeselternrat, das Bundeselternnetzwerk der Migrantenorganisationen für Bildung & Teilhabe (bbt), die Bundeselternvertretung für Kinder in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege (BEVKi), der Bundesverband der Kita- und Schulfördervereine, die Föderation der Türkischen Elternvereine, der Bildungsrat von unten, die Omas for Future, mehrere Landesschüler*innenvertretungen, Greenpeace, Fridays for Future u. v. a.

Dies ist eine Pressemeldung der Initiative Bildungswende JETZT!

Der Protest rollt weiter: Warum die Initiative “Bildungswende jetzt!” noch lange nicht am Ende ist – eine Gegenrede

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2 Kommentare
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AlterHase
12 Tage zuvor

Was soll bei einem Bildungsgipfel anderes herauskommen als das übliche Blabla zu den üblichen Themen? Mehr Geld für die frühkindliche Bildung — auch das macht nur Sinn, wenn man sich einig ist, wofür es ausgegeben werden soll. Die Transformation von Geld in Bildung — das ist eine gar nicht so einfache Sache.