Ein Jahr Grün-Rot in Stuttgart: Schulpolitik im Gegenwind

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STUTTGART. Angesichts von Milliarden-Haushaltslöchern sind der ambitionierten Schulpolitik von Grün-Rot in Baden-Württemberg Grenzen gesetzt. Das dämmert der Regierung langsam. Unter selbst auferlegtem Zeitdruck hat sie viele Projekte angeschoben, ohne auf reibungslose Umsetzung zu achten.

Gegenwind in der Schulpolitik: Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD). Foto: Staatsministerium Baden-Württemberg
Gegenwind in der Schulpolitik: Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD). Foto: Staatsministerium Baden-Württemberg

Mit Elan ist Grün-Rot auf dem bildungspolitischen Reformpfad vorangestürmt: Sie schaffte Studiengebühren ebenso wie die verbindliche Grundschulempfehlung ab, führte die Gemeinschaftsschule als Regelschule ein und erlaubte die Rückkehr zu neunjährigen Gymnasialzügen.

Dabei hat die Koalition die Betroffenen auf ihrem Parforceritt mit Ministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD) an der Spitze nicht immer ausreichend mitgenommen. Beispiel Gemeinschaftsschule: Die prinzipiell wohlwollende Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wünscht sich unter anderem kleinere Klassen, langfristige Fortbildungsprogramme für Lehrer sowie wissenschaftliche Begleitung für die im September startende neue Schulart.

„Vielleicht haben wir am Anfang etwas zu viel gemacht“

GEW-Landeschefin Doro Moritz schreibt Grün-Rot ins Stammbuch: «Ich wünsche mir, dass die Regierung so ehrlich ist, dass sie nur Projekte angeht, die sie auch gut ausstatten kann.» Sonst gehe den Lehrern bei der Umsetzung die Puste aus. Selbst Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) gibt ihr Recht. Er räumt «handwerkliche Mängel» ein und sagte kürzlich nachdenklich: «Vielleicht haben wir am Anfang etwas zu viel gemacht.» Auch er macht deutlich, dass Bildungspolitik in Zeiten hoher Sparanforderungen durch die Schuldenbremse und rückläufiger Schülerzahlen kein Fass ohne Boden sein darf.

Ein Mitglied der Regierungskoalition bringt es auf den Punkt: «Das Effizienzprinzip muss auch für die Schulpolitik gelten.» Beispielhaft sei Innenminister Reinhold Galls (SPD) Kosten-Nutzen-Analyse für die Polizei. «Das ist im Kultusministerium noch nicht passiert.»

Die Opposition schlägt naturgemäß schärfere Töne an und rügt den Kurs der Koalition als unausgegoren, undurchdacht und chaotisch. Die Gemeinschaftsschule, in der Kinder mit Haupt-/Werkrealschul-, Realschul- und Gymnasialempfehlung gemeinsam unterrichtet werden, ist ihr ein Dorn im Auge: Ein solche «Einheitsschule» ignoriere die unterschiedlichen Begabungen von Schülern und werde das erfolgreiche gegliederte Schulsystem verdrängen.

Die Verkörperung des grün-roten Aufbruchs sollte die forsche Kultusministerin sein. Doch im Landtag macht sie keine gute Figur, finden selbst führende Koalitionäre. Die frühere Mannheimer Schulbürgermeisterin lasse sich zu leicht von der Opposition aus dem Konzept bringen, rede wenig konkret und warte mit wenig neuen Gedanken auf. Auch im eigenen Haus agierte sie bislang recht glücklos. Kurz vor Weihnachten bescherte ihr Abteilungsleiter Manfred Hahl ein vergiftetes Geschenk.

In einem Schreiben hieß es, der Wechsel an der Spitze des Hauses sei «von vielen von uns weniger als Aufbruch als vielmehr als Abbruch wahrgenommen» worden. Die Führung, zu der auch Staatssekretär Frank Mentrup (SPD) und Amtschefin Margret Ruep gehören, schotte sich ab und zeige sich gegenüber dem Haus misstrauisch. Warminski-Leitheußer äußerte sich betroffen: «Ich will nicht verhehlen, dass die Kritik mir unter die Haut gegangen ist» – und setzt nun auf mehr Dialog.

Ein Bravourstück gelang ihr dagegen mit dem Pakt für frühkindliche Bildung, darunter vor allem der Krippenausbau. Im Jahr 2012 erhalten die Kommunen dafür 444 Millionen Euro, 2013 sogar 477 Millionen Euro. Das Geld kommt aus einer – ohne großes Murren – eingeführten Erhöhung der Grunderwerbsteuer. Jedoch hält die allseits gelobte Vereinbarung die kommunalen Landesverbände nicht von weiterer Kritik ab.

So rügt der Städtetag, dass bei der Wiedereinführung von G9-Zügen nicht alle interessierten Kommunen zum Zug kommen und bei den Gemeinschaftsschulen noch zu viele Fragen ungeklärt sind, etwa zur Schulbaufinanzierung. «Grün-Rot hat sich nicht die Zeit genommen, sein Premiumprodukt Gemeinschaftsschule gut im Schulmarkt einzuführen», meint Norbert Brugger, Bildungsexperte des Städtetags.

Neben der Gemeinschaftsschule hat Warminski-Leitheußer zwei weitere kostentreibende Baustellen zu bearbeiten: den Ausbau der Ganztagsschulen und die Inklusion. Wie das Ziel eines flächendeckenden Angebots an Ganztagsgrundschulen bis 2020 finanziell zu stemmen ist, darauf bleibt die Ministerin die Antwort schuldig. Derzeit ist Baden-Württemberg mit nur etwa einem Fünftel der Schulen mit Ganztagsangeboten bundesweites Schlusslicht. Konzepte, wie man die Integration von behinderten Schülern in die Regelschule vorantreiben kann, sind derzeit noch nicht einmal in Sicht. JULIA GIERTZ, dpa
(8.5.2012)

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