Aufstand in der Provinz: Eltern betreiben Schule in Eigenregie

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SEIFHENNERSDORF. 21 Fünftklässler sind in Sachsen ein Politikum. Sie und ihre Eltern bekommen mächtig Ärger. Der Grund: Sie wehren sich dagegen, dass in ihrem Ort keine fünfte Klasse zugelassen wurde.

Sie werden Schulrebellen genannt und sind stolz darauf. Im sächsischen Seifhennersdorf, gut anderthalb Autostunden von der Landeshauptstadt Dresden entfernt, kämpfen Eltern und Gemeinderat um den Erhalt ihrer Mittelschule – mit ungewöhnlichen Mitteln. Seit Wochen werden hier 21 Fünftklässler von Freiwilligen unterrichtet. Eigentlich müssten die Mädchen und Jungen längst in umliegenden Orten die Schulbank drücken. Doch deren Eltern wollen, dass ihre Sprösslinge weiter in Seifhennersdorf lernen können.

Dass ihre Aktion illegal sein soll, stört die Schulrebellen wenig. Sie sehen sich ungerecht behandelt, getäuscht, ausgetrickst. Sie wollen nicht hinnehmen, dass in ihrem knapp 4000 Einwohner zählenden Ort mangels Schülern wie schon in früheren Jahren keine fünfte Klasse zugelassen wurde – es fehlten diesmal gerade zwei Kinder, um die Mindestanforderungen zu erfüllen. Und der negative Bescheid – mittlerweile von Gerichten bestätigt – kam erst kurz vor Beginn des neuen Schuljahres.

Die parteilose Bürgermeisterin Karin Berndt redet und organisiert ohne Unterlass. Seit sie im Amt sei, kämpfe sie um den Erhalt von Schulen in ihrem Ort. Erst war es das Gymnasium, nun die Mittelschule. In einem Büro des Rathauses stapeln sich Akten über Akten. «Normalerweise ist das ein Beratungsraum, jetzt liegt hier das Schulelend», sagt die 55-Jährige und gibt sich dennoch angriffslustig. Sie zeigt auf einen Zettel, der inmitten der Papiere liegt. «Spruch des Monats: Wer will, findet Wege. Wer nicht, Gründe.»

Sinkende Geburtenraten und Abwanderung

Die Gründe allerdings liegen auf der Hand. Sachsen hat schon vor Jahren angesichts sinkender Geburtenraten und Abwanderung geregelt, wie es mit den Schulen und einem anspruchsvollen Unterricht weitergehen soll. So wurden unter anderem Mindestschülerzahlen für Klassen festgeschrieben. Viele Kommunen mussten deswegen – trotz Protesten – bittere Pillen schlucken. Landauf, landab wurden Einrichtungen geschlossen oder zusammengelegt. 1995 gab es in Sachsen noch 2448 öffentliche Schulen, heute sind es mehr als 1000 weniger. Eine Rebellion wie in Seifhennersdorf aber gab es noch nie.

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«Krümelkackerei» nennt die Bürgermeisterin die Debatte um die Schülerzahlen. «Unverschämtheit» ist ihr Wort für die Bußgeldbescheide wegen des Fernbleibens der Kids von den zugewiesenen Schulen, die den Eltern ins Haus geflattert sind – und sich bis zu 600 Euro je Kind summieren. Es hat sie und die Eltern hart getroffen, dass sie als Störer des sozialen Friedens bezeichnet werden – zumal Kultusministerin Brunhild Kurth (parteilos) noch im Frühjahr Verständnis für das Anliegen der Seifhennersdorfer signalisiert habe.

«Ich möchte trotzdem nicht zum Wutbürger werden», sagt Renate Arlandt, deren Tochter zu den betroffenen Fünftklässlern gehört. «Wir halten durch, bis zum guten Ende.» Ihr Mann nickt dazu. Sie setzen dabei auf Menschen wie Waltrud Hartmann. Die hatte 38 Jahre lang an der Mittelschule gelehrt, seit 1996 ist sie im Ruhestand. Für die Schulrebellen ist sie an ihre frühere Wirkungsstätte zurückgekehrt: «Für mich ist es selbstverständlich, dass ich mitmache und jetzt wieder vor der Klasse stehe.» Wie es weitergehen soll? «Ich hoffe auf den gesunden Menschenverstand», meint Mutter Andrea Urban und erwartet, dass der Freistaat einlenken wird.

Das Kultusministerium sieht keine Chance

Zeichen dafür aber gibt es nicht. Das Kultusministerium sieht keine Chance, einem Beschluss des Seifhennersdorfer Stadtrates zur Lösung des Konfliktes zu folgen. Der hatte jüngst vorgeschlagen, dass die Stadt die Schule künftig in Eigenregie führt. Das ist laut Ministerium nicht möglich. Die Rebellen könnten maximal eine freie Schule gründen – zum nächsten Schuljahr.

Die Bürgermeisterin lässt keinen Zweifel daran, dass sie weiter kämpfen will. «Wir bekommen so viel Ermutigung», verweist sie auf Zuschriften und Anrufe. Es gebe ein positives Echo aus ganz Deutschland. Kritik und Unmut etwa aus den umliegenden Orten, wo auf die Schüler gewartet wird, weist sie zurück. Dass der Widerstand weiter bröckelt – nur die Hälfte der diesjährigen Fünftklässler gehört zu den Rebellen – hofft sie nicht. Auch wenn Unbekannte kürzlich Plakate an der Schule angekokelt haben. Am Schulzaun hängt Trauerflor. Der «Protestunterricht» soll nach den Herbstferien in der kommenden Woche weitergehen. PETRA STRUTZ; dpa
(2.11.2012)

Zum Bericht: „Rebellische Kleinstadt will dem Land eine Schule abtrotzen“

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