DRESDEN. Tausende Menschen in Deutschland verlieren durch Krankheit die Fähigkeit zu sprechen oder werden schon sprachlos geboren. Ihre Interessen werden in Deutschland kaum vertreten, das Verständnis Außenstehender ist gering.
Immer mehr Menschen in Deutschland können nicht sprechen und sind auf Hilfsmittel für ihre Kommunikation angewiesen. Das gaben Experten der Internationalen Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation (Isaac) auf einer Tagung in Dresden bekannt. Die Zahl Betroffener wachse nicht nur aus demografischen Gründen – durch eine Zunahme von Demenzkranken in einer immer älter werdenden Gesellschaft. Paradoxerweise führe gerade medizinischer Fortschritt dazu, dass auch immer mehr Babys schwere Behinderungen haben, weil sie zum Beispiel als Frühchen mit extrem geringem Geburtsgewicht auf die Welt kommen. Nach Angaben des Kölner Professors Jens Boenisch hat sich in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen 30 Jahren die Zahl der Neugeborenen mit schwersten Behinderungen um fast ein Drittel erhöht.
Etwa 52 000 Kinder und Jugendliche und 300 000 Erwachsene sind betroffen
Boenisch zufolge sind nach «zurückhaltender Hochrechnung» derzeit bundesweit etwa 52 000 Kinder und Jugendliche sowie bis zu 300 000 Erwachsene betroffen. Die Zahl enthalte noch nicht einmal die Aphasiepatienten, die nach Schlaganfällen oder Hirnblutungen die Sprache verlieren und selbst nach langer Therapie nicht verständlich sprechen können. Experten sehen in der Unterstützten Kommunikation (UK) die einzige Möglichkeit, Betroffenen den Weg in den Alltag zu erleichtern. Die UK wird dabei als Oberbegriff aller therapeutischen und pädagogischen Maßnahmen verstanden, um fehlende Lautsprache zu ergänzen oder zu ersetzen. Das kann von Bildtafeln mit Symbolen bis zu Computern mit Augensteuerung reichen.
Isacc beklagte eine fehlende Lobby für Betroffene und listete Defizite bei der Umsetzung der UN-Konvention für Behinderte in Deutschland auf. Vor allem in Ostdeutschland sei die Situation in diesem Bereich katastrophal – es fehle an Beratungsstellen, fachkundigem Personal und Möglichkeiten der Weiterbildung. Auch die Ausbildung von Lehrern und Klinikmitarbeitern lasse zu wünschen übrig. Deutschland habe sich mit Ratifizierung der UN-Konvention zwar verpflichtet, «angemessene Vorkehrungen» zu treffen, aber bisher nur wenig getan, sagte Imke Niediek vom Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover. «Behindert werden die Menschen auch durch mangelnde Gelegenheit, am Alltag teilzunehmen.»
Auf der Tagung gibt am Samstag auch ein Betroffener einen Workshop: Tobias Link aus Kempten sitzt im Rollstuhl und gibt seine Worte in einen Computer ein, der dann für ihn spricht. Nach Ansicht von Ulrike Stollberg, Isaac-Beraterin in Leipzig, geht es in der Gesellschaft erst einmal darum, für «Barrierefreiheit in den Köpfen» zu sorgen. «Es kann jeden treffen, keiner ist vor diesem Schicksal gefeit.» dpa
(02.11.2012)