PULHEIM. In NRW beginnen die Abitur-Prüfungen. Sehen sich die 148.000 Schüler trotz Corona-Wirrwarrs gut vorbereitet – oder droht ein Leistungsabsturz? Konnten Schulen und Lehrer die XL-Orga-Aufgabe überhaupt rechtzeitig stemmen?
Das Abitur wird in diesem Jahr eine echte Prüfung. Nicht nur in fachlicher Hinsicht. Auch bei Organisation und Ablauf der schriftlichen und mündlichen Prüfungen darf es in Corona-Zeiten möglichst keine Fehler geben. Damit es ab kommenden Dienstag (12. Mai) glatt geht für die 148 000 Abiturienten in NRW, laufen die Vorbereitungen in den Gymnasien und Gesamtschulen auf Hochtouren. So auch im Abtei-Gymnasium Brauweiler in Pulheim nahe Köln mit insgesamt 1100 Schülern.
Knapp 150 junge Erwachsene werden dort ihre Abi-Prüfungen ablegen, ein großer Jahrgang. «Unsere Schüler wollen ihre Abi-Prüfungen unbedingt machen. Sie wollen kein Abitur zweiter Klasse», schildert Schulleiter Martin Sina. Und so wird das Prozedere sein: Die Schüler kommen mit Mundschutz auf den Hof, stellen sich mit Abstand auf. «Der Kurslehrer holt sie ab. Die Anwesenheit wird überprüft, dann geht es gemeinsam im Gänsemarsch in die Räume.»
An alles ist gedacht: «In den Fluren und Gängen herrscht Rechtslaufgebot, damit man Abstand hält. Alle Türen bleiben offen, damit kleine Klinken angefasst werden», erläutert Sina. Maximal 12 Schüler dürfen in einen Raum. Die Abiturienten gehen ans Waschbecken, nehmen dann sofort ihren Platz ein. Alle Tische sind mit Nummern versehen, die die Schüler vorher erhalten haben. Das Arbeitsmaterial wartet bereits auf dem Tisch. «Wir wollen möglichst wenig Bewegung im Raum haben.» Nach den Prüfungen wird der gesamte Raum desinfiziert.
Alle Schüler kennen die Verhaltensregeln, es gibt auch ein eigenes Video dazu. Trotzdem: Kann man unter solchen Umständen quasi auf Knopfdruck konzentriert arbeiten? «Ich mache mir keine Sorgen um meine Schüler in fachlicher Hinsicht, mit dem Unterrichtsstoff sind sie durchgekommen. Was sich schwer einschätzen lässt, ist die psychische Belastung», sagt der Schulleiter.
Bei Emma (18) wächst die Anspannung gerade heftig. Am Dienstag steht für sie als erste schriftliche Prüfung Bio an. «Ich bin nervös, aber eher normal nervös, gar nicht so sehr beeinflusst von Corona», schildert die Schülerin aus dem bergischen Leichlingen. «Für mich war es gut, dass wir noch mal zwei Wochen zurück in die Schule kommen konnten. Das hat ein bisschen geholfen.» Ein letzter gemeinsamer Ritt durch Genetik, Neurobiologie oder Evolution war möglich, ein intensiver Blick auf das Wesentliche in Englisch, Deutsch und Pädagogik. An einen Corona-Bonus glaubt die Gymnasiastin nicht: «An den Aufgaben und der Bewertung wird sich sicher nichts ändern.»
Die Resonanz der Schüler auf das Angebot seit dem 23. April, vor den Abschlussprüfungen noch mal in die Kursräume zu kommen, sei sehr positiv ausgefallen, berichtet Sabine Mistler, Vorsitzende des Philologenverbands NRW. «Der abiturrelevante Stoff war weitgehend schon vor Ostern erarbeitet. Aber die Möglichkeit, jetzt noch mal zu vertiefen, zu wiederholen, sich direkt auszutauschen – das war den meisten Schülern doch sehr wichtig.»
Mistler beobachtet: «Die meisten wollen nach dem ganzen Hin und Her jetzt auf jeden Fall ihre Abi-Klausuren schreiben.» Sie befürchtet keinen coronabedingten Noteneinbruch. «Dass Schüler bei den Leistungen massiv abgebaut haben, nein, das sehe ich bis jetzt nicht.» Es gab allerdings auch laute Stimmen gegen die Abschlussprüfungen. Das Aktionsbündnis «Schulboykott NRW» hatte gefordert, das Abitur 2020 nach dem Durchschnitt der zuvor schon erbrachten Leistungen in der Oberstufe zu vergeben – erfolglos.
Aber die Pandemie-Ausnahmesituation sei auch für die Abiturienten nicht einfach. «Da sind die Pädagogen gefordert. Lehrer haben das in ihrer pädagogischen Verantwortung im Vorfeld sicherlich intensiv aufgegriffen und versucht, positiv auf die Schüler einzuwirken», sagt Mistler. Auf die Frage, ob man bei den Abi-Korrekturen etwas Nachsicht walten lassen werde, antwortet die Verbandschefin: «Ich bin sicher, dass die Lehrer angemessen und verantwortungsvoll korrigieren werden.»
Bis zum 25. Mai dauert der schriftliche Teil, dann folgen die mündlichen Abi-Prüfungen. Auch personell eine gewaltige Herausforderung, unterstreicht Schulleiter Sina. Auf ein Drittel seiner Lehrkräfte muss er verzichten, weil sie vorerkrankt oder älter sind und damit zur Corona-Risikogruppe gehören. Aber allein für eine mündliche Prüfung braucht es drei Lehrkräfte in der Kommission.
Geht das Abitur 2020 also als das traurigste aller Zeiten in die Geschichte ein? Emma meint: «Es wird auf jeden Fall ein sehr spezielles Abi.» Die Mottowoche war der Pandemie zum Opfer gefallen, der Abiball fällt aus. Die landesweit Ausgabe der Abizeugnisse am 27. Juni könnte schlimmstenfalls auf einen einsamen, tristen Gang ins Schulsekretariat reduziert werden. Martin Sina ist aber zuversichtlich: «Irgen detwas Festliches draußen auf dem Schulhof mit Abstandsgebot werden wir schon hinbekommen.» (Yuriko Wahl-Immel, dpa)
Anwalt: Prüfungen unter Corona-Bedingungen können juristisch angreifbar sein
Die Prüfungen hätten abgesagt werden müssen.
Neben der größeren psychischen Belastung und der fraglichen Hygiene sehe ich es kritisch, dass die Schüler an unterschiedlichen Schulen nun eine extrem unterschiedliche Vorbereitung und Begleitung erlebt haben.
An der Schule, an der ich unterrichte, hatten die Schüler vor den Osterferien noch 2,5 Wochen intensiven Unterricht nach Stundenplan der Prüfungsfächer über Office Teams und zusätzlich nach Schulöffnung drei Wochen Präsenzunterricht.
Im Gegensatz dazu war mein Sohn, auch Abiturient, vor Ostern völlig auf sich allein gestellt mit dem einzigen allgemeinen Arbeitsauftrag, sich aufs Abi vorzubereiten. Nach Schulöffnung gab es dann noch jeweils eine Doppelstunde im LK, eine davon über Teams. In den anderen Prüfungsfächern gab es gar nichts.
Eine Begleitung zur Prüfung fiel also aus.
Ich finde das nicht gerecht.
Nur nebenbei: Es ist wirklich erstaunlich, dass es wohl unmöglich ist, Fotos mit einer richtigen Stifthaltung zu zeigen. Beste Grüße!