Tübinger Wissenschaftler wehren sich gegen „Big Brother Award“ – Was kann die Neurowissenschaft für die Schule leisten?

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TÜBINGEN. EEG und Eyetracking dienten nur dazu, Lehrer zu unterstützen, pädagogisch sinnvoll auf die Lernsituation von Kindern und Jugendlichen einzugehen. Mit einer Stellungnahme haben das Leibniz-Instituts für Wissensmedien und die Universität Tübingen auf die Verleihung des „Big-Brother Awards“ des Datenschutzvereins Digitalcourage reagiert. Auch das Land Baden-Württemberg hatte einen Negativpreis wegen der Zusammenarbeit mit Microsoft bei der digitalen Bildungsplattform erhalten.

Der Verein Digitalcourage e. V. hat dem Leibniz-WissenschaftsCampus Tübingen (WCT) am 18. September den sogenannten Big Brother Award in der Kategorie Bildung verliehen. Bei dem Award handelt es sich um einen Negativpreis für „Datensünder”, der jährlich an Behörden, Personen, Unternehmen und Organisationen verliehen wird.

Umstrittenes Verfahren. Unter Einsatz des EEG wollen die Wissenschaftler Lehrer stärken, pädagogisch sinnvoll auf die Lernsituation von Kindern und Jugendlichen einzugehen. Foto: Baburov / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0) [Ausschnitt gespiegelt]
In der Laudatio kritisierte der Verein, die Wissenschaftler würden in verschiedenen Projekten mit Technik herumspielen, ohne die größeren Folgen für die Gesellschaft zu bedenken. Das Projekt „Eine kognitive Schnittstelle zur Verbesserung des Unterrichts: Analyse der Aufmerksamkeit im Klassenzimmer“ etwa arbeite mit EEG, um die Konzentration von Schülern zu messen. Neben dem EEG machten sich die Forscher aus Tübingen außerdem die Eyetracking-Technik zunutze. Mit dieser Technik werde eine vollständige Überwachung des Lernverhaltens von Schülern im Unterricht möglich.

Das Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) und die Universität Tübingen wiesen diese Vorwürfe zurück. Besonders sauer aufgestoßen sind den Forscher Aussagen, wie sie würden Bildung einer „maschinell überprüfbaren Leistung“ opfern, es drohe eine „Dressur mittels Lernsoftware“ und die Rolle von Lehrern werde abgewertet.

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Die Wissenschaftler antworten mit einer öffentlichen Stellungnahme. „Es gab und gibt an beiden Einrichtungen keine Forschungsprojekte, die auf eine Totalüberwachung und Dressur von Schülerinnen und Schülern im täglichen Unterricht abzielen“, sagte darin die Direktorin des Leibniz-Instituts, Professorin Ulrike Cress: „Derartige Projekte würden nicht nur unserem Menschenbild, sondern auch unserer Vorstellung von gutem Unterricht diametral widersprechen.“ Der Rektor der Universität Tübingen, Professor Bernd Engler, betonte, Ziel der Universität sei es, angehenden Lehrern das notwendige Rüstzeug für guten Unterricht an die Hand zu geben. Dazu aber sei es wichtig, „zu verstehen, wie guter Unterricht gelingen kann.“

Am Leibniz-Institut für Wissensmedien und der Universität Tübingen werde in zahlreichen Projekten erforscht, welche Elemente auf dem Weg zu guter Bildung eine wesentliche Rolle spielen. „Hierzu sind Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft und der Kognitionspsychologie ebenso von Bedeutung wie die Entwicklung digitaler Lernmedien und eine wissenschaftlich fundierte Fachdidaktik“, sagte der Leiter der Arbeitsgruppe Multimodale Interaktion am IWM, Professor Peter Gerjets: „Um die Frage beantworten zu können, wie Bildung gelingen kann, sind wir auf belastbare Daten angewiesen. In diesem Zusammenhang helfen uns technische Verfahren wie EEG, Eyetracking oder Kamerabeobachtung wesentlich dabei zu verstehen, wie guter Unterricht funktioniert.“

Professor Ulrich Trautwein, empirischer Bildungsforsche an der Uni Tübingen, sagte, die Kritiker gingen von einer falschen Vorstellung der Tübinger Projekte sowie guten Unterrichts aus: „Wir sind uns alle einig, dass wir Schülerinnen und Schüler darin stärken müssen, selbstreguliert zu lernen und bestmögliche Teilhabe an einer demokratischen, lebenswerten Gesellschaft zu erwerben“. Nachgewiesenermaßen scheiterten Schule und Unterricht jedoch viel zu oft an diesem Anspruch.

Die Forschung der vergangenen Jahre habe deutlich aufgezeigt, an welchen Stellen im Schulalltag Hürden existieren, die guten Unterricht insbesondere auch für leistungsschwächere Schüler erschweren. „Viele Lehrkräfte erkennen nicht, woran das Lernen bei einzelnen Schülerinnen und Schülern oder ganzen Klassen scheitert, und sie nutzen zu selten individuelles Feedback, nicht nur in Corona-Zeiten.“, so Trautwein. Die Tübinger Arbeiten erforschten in diesem Sinne letztlich, wie Lehrkräfte darin gestärkt werden können, pädagogisch sinnvoll auf die Lernsituation von Kindern und Jugendlichen einzugehen, um allen ein möglichst selbstreguliertes und gelingendes Lernen zu ermöglichen – mit oder ohne Unterstützung durch digitale Medien. (zab, pm)

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