„Bin beeindruckt, was sich an vielen Schulen entwickelt hat“: PISA-Chef Schleicher zieht zur didacta eine (optimistische) Corona-Bilanz

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STUTTGART. Heute ist die größte europäische Bildungsmesse didacta mit über 15.000 angemeldeten Besucher im digitalen Format gestartet. Zahlreiche Praktikerinnen und Praktiker sowie Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Bildungswirtschaft berichten noch bis zum 12. Mai 2021 von ihren Erfahrungen und Erkenntnissen. Viele Themen betreffen die Digitalisierung und die Lehren aus dem Corona-Jahr. Wir sprachen vorab mit Prof. Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der OECD und Koordinator der PISA-Studie, der am Dienstag bei der didacta DIGITAL live zu sehen ist. 

OECD-Bildungsdirketor Andreas Schleicher. Foto: flickr / Organisation for Economic Co-operation and Develop is licensed under CC BY-NC-ND 2.0

News4teachers: Bezogen auf die Digitalisierung: Ist Corona eher Fluch oder Segen?

Andreas Schleicher: Kurzfristig gesehen eher ein Fluch, weil die Pandemie Deutschland zunächst schwer auf die Füße gefallen ist. Die Corona-Krise hat das Land und auch die Schulen kalt erwischt, darauf waren sie nicht ausreichend vorbereitet. Aber langfristig hilft die Krise, dass man sich mit Fragen der Digitalisierung jetzt ernsthaft befasst und auch die Potenziale der digitalen Bildung sieht. Außerdem ist die soziale Akzeptanz für Technologie im Bildungsbereich enorm gestiegen. Also insofern: Das kann sich langfristig durchaus positiv auswirken.

News4teachers: In den letzten Monaten haben die Schulen viele neue Konzepte und Ideen entwickelt. Was denken Sie, welche Ansätze und Konzepte haben sich besonders bewährt und sollten auch im Präsenzunterricht übernommen werden?

Schleicher: Wichtig ist, dass die Schülerinnen und Schüler durch digitale Medien heute einen ganz anderen Zugang zu der Welt haben, der genutzt werden sollte. Dau gehört auch ein viel breiteres Spektrum an Lernangeboten. Ich denke, es ist jedem klar, dass das Lernen mit Technologie in vielen Fällen viel spannender sein kann als klassischer Frontalunterricht: Warum sollte man einer Lehrerin oder einem Lehrer bei der Erklärung eines Experiments zuhören, wenn man dieses Experiment auch selber in einem virtuellen Laboratorium durchführen kann? Also ich denke, da schafft die Digitalisierung spannende Lernumgebung. Darüber hinaus kann Digitalisierung für viel mehr Individualisierung sorgen, denn Schülerinnen und Schüler lernen unterschiedlich und Technologie kann auf diese Unterschiede eingehen. Sie kann Lehrkräften bessere Daten beschaffen, wie Schülerinnen und Schüler lernen. Stichwort Learning Analytics. Und man kann im Grunde durch digitale Technik die Grenzen zwischen der Schule und zu Hause aufheben, indem man die Schule viel stärker als sozialen Raum nutzt, aber das Lernen, also die Akkumulation von Fachwissen, nach Hause an den eigenen Computer verlagert. Also da sehe ich schon enorme Potenziale, auch für die Lehrkräfte selber. Ich kann mich viel besser mit meinen Kollegen vernetzen, ich kann mit ihnen lernen, von ihnen lernen. Ich kann im Sinne von Crowd-Creation mit meinen Kolleginnen und Kollegen an der Entwicklung neuer pädagogischen Konzepte arbeiten. Auch da gibt es viele Potenziale.

Die didacta Digital
Die didacta sollte eigentlich in Stuttgart stattfinden – jetzt digital. Foto: Koelnmesse

Europas größte und Deutschlands wichtigste Bildungsmesse wird nach dem pandemiebedingten Ausfall im letzten Jahr nun doch vom 10. bis 12. Mai 2021 stattfinden – erstmals als Online-Veranstaltung. Dutzende von Workshops, Referate und Diskussionsrunden versprechen wichtige Informationen und Ideen für die berufliche Praxis in Kita, Schule und Ausbildungsbetrieb. 180 Aussteller haben sich angesagt. Die Teilnahme ist kostenlos.

Der OECD-Bildungsdirektor Prof. Dr. Andreas Schleicher spricht auf der didacta DIGITAL über die „Schülerpersönlichkeit der Zukunft“ (Forum Bildungsperspektiven), 11.05., 11:00 – 11:45.

Zum vollständigen Programm und zur Anmeldung geht es hier.

News4teachers: Haben Sie denn das Gefühl, dass Lehrkräfte diese Potenziale im vergangenen Jahr auch für sich entdeckt haben und weiter nutzen werden?

Schleicher: Ich glaube, viele haben das wirklich sehr positiv aufgenommen und für sich genutzt, ja. Da bin ich schon beeindruckt, was sich an vielen Schulen entwickelt hat. Natürlich nicht überall, das muss man klar sagen. Es gibt, wie immer, ein sehr breites Spektrum. Aber insgesamt ist die soziale Akzeptanz von Technologie enorm gestiegen. Es gibt viele, nicht mehr nur Vereinzelte, sondern wirklich viele Lehrkräfte, die sich intensiv damit auseinandergesetzt haben und Technologie für sich nutzen. Und zwar geht es dabei nicht darum, dass sie das, was sie immer schon gemacht haben, jetzt einfach mit der Technik machen, sondern die Technologie wird wirklich für die Transformation von Bildungsprozessen genutzt. Und dafür gibt es viele gute Beispiele.

News4teachers: Das heißt, der Start ist gemacht, vor allem in den Köpfen. Aber wie würden Sie den Stand der Digitalisierung insgesamt beurteilen, auch im Vergleich zu anderen Ländern?

Schleicher: Das ist ein schwieriges Umfeld. Man muss einfach feststellen, dass Deutschland praktisch eine Dekade, also zehn Jahre, zu spät in diesen Bereich eingestiegen ist und deswegen jetzt enorm viel nachholen muss. Gute digitale Lernplattformen sind kaum verfügbar, der Kenntnisstand der Lehrkräfte ist mäßig und so weiter. Aber wie gesagt, ich denke, die Corona-Pandemie hat nun zumindest den Anschub gegeben. Im letzten Jahr ist wahrscheinlich mehr passiert als in zehn Jahren zuvor.

„Bei einer guten digitalen Bildung sehen Sie die Technologie eigentlich gar nicht mehr. Ich glaube, dort, wo Technologie sichtbar ist, stört sie meistens.“

News4teachers: Wenn sich Schulen nun auf den Weg machen und Konzepte für die Zukunft erarbeiten, was würden Sie ihnen raten? Was bedeutet gute, digitale Bildung?

Schleicher: Bei einer guten digitalen Bildung sehen Sie die Technologie eigentlich gar nicht mehr. Ich glaube, dort, wo Technologie sichtbar ist, stört sie meistens. Gute digitale Bildung heißt zum Beispiel, dass wir im Grunde mehr Technologie in den Lernalltag integrieren, ohne dass sie im Fokus steht. Ein Beispiel: Lesekompetenz im 21. Jahrhundert ist ein völlig anderes Konstrukt. Im 20. Jahrhundert haben wir in der Schule alle noch Bücher gelesen, linearere Texte, die alle sehr sorgfältig vorbereitet und von den Bildungsministerien abgestempelt waren. Heute informieren sich die Schülerinnen und Schüler bei Google und kriegen 100.000 Antworten auf ihre Frage. Niemand sagt ihnen, was richtig oder falsch ist. Lesekompetenz meint deshalb heute im Grunde die Fähigkeit, sich in einer Flut von Informationen sicher bewegen zu können. Das ist für mich im Grunde digitale Bildung, junge Menschen darauf vorzubereiten.

In der digitalen Welt, in sozialen Netzwerken, besteht außerdem die Gefahr, dass ich nur noch mit Leuten spreche, die genauso denken wie ich, genauso aussehen wie ich und so weiter. Auch da muss Schule Kompetenzen bilden, über diese Echokammern hinauszuschauen. Das ist für mich die Herausforderung der Bildung für morgen. Den Kindern die Bedienung der Technik beizubringen, das ist trivial, das können die sowieso schon. Die Frage ist im Grunde: Können wir den Schülerinnen und Schülern die konnektiven, sozialen, emotionalen Kompetenzen vermitteln, die sie für diese Technologien brauchen, damit sie aus der Technologie neue Potenziale schöpfen können? Und das, denke ich, ist keine Frage von Ausstattung, sondern die Frage, wie diese Ziele sinnvoll in pädagogische Arbeit integriert werden. Das sehe ich als Problem: In Deutschland verlässt man sich zu sehr darauf, dass man Digitalisierung im Grunde irgendwie einkaufen kann. Man schaut zu wenig darauf, dass diese Ideen und Konzepte wirklich vor Ort in den Schulen verarbeitet werden müssen. Davon hängt der Erfolg ganz entscheidend ab.

News4teachers: Wenn wir jetzt schon von Kompetenzen reden: Im Moment wird in der öffentlichen Debatte häufig darauf verwiesen, dass die Schülerinnen und Schüler sozusagen ein Jahr verlieren. Würden Sie das auch so sehen? Oder kann es nicht auch sein, dass die jetzige Schülergeneration ganz neue Kompetenzen erlernt hat und in gewissen Dingen schon weiter ist als die Generationen vor ihr?

Schleicher: Ich glaube eher, dass diese Pandemie die Schülerschaft polarisiert hat. Also Schüler, die wissen, wie man lernt, die auch die Disziplin und die Motivation mitbringen, sich mit Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, die Zugang zu guter Technologie und zu Hause ein unterstützendes Umfeld haben, für die war das bestimmt eine spannende Erfahrung. Sie haben wahrscheinlich gelernt, mehr Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen. Viele Schülerinnen und Schüler machen sich vielleicht zum ersten Mal Gedanken: Was lerne ich eigentlich und warum und wie mache ich das? Das sind natürlich ganz wichtige Kompetenzen. Aber bei Schülern, die eben nicht diese Motivation von zu Hause aus mitbringen und auch nicht das unterstützende Umfeld haben, die sind in dieser Zeit wahrscheinlich weit zurückgefallen. Ich glaube, das wird man sehr differenziert betrachten müssen.

News4teachers: Sie haben schon erwähnt, dass Schülerinnen und Schüler in der heutigen Zeit neue Kompetenzen in der Schule erlernen müssen. Was gehört für Sie noch dazu, um auf die Herausforderung der Zukunft vorbereitet zu sein?

Schleicher: Früher ging es, wie gesagt, darum, Wissen einfach zu reproduzieren. Heute geht es darum, Wissen infrage zu stellen. Das ist, glaube ich, in der digitalen Welt das A und O. Wer das nicht kann, der wird auch mit der besten Technologie nicht klarkommen. Der wird die Algorithmen nicht verstehen, sondern zum Sklaven der Algorithmen werden. Zweiter Punkt: Das Lösen komplexer Probleme. Kann ich kreativ arbeiten? Kann ist selbst neue Lösungen finden? Schulen sind meistens gut darin, zweitklassige Computer zu unterrichten, also Leute, die gut darin sind, das wiederzugeben, was vorher erzählt wurde. Aber die Frage ist doch: Was macht uns zu Menschen im Zeitalter der künstlichen Intelligenz? Ich glaube, diese Frage, die sozial-emotionalen Kompetenzen sind wichtig. Und dazu zählen dann eben auch Dinge wie Verantwortung, wie Disziplin, Empathie, oder die Fähigkeit, mit Menschen, die anders sind als ich, wirkungsvoll zusammen zu arbeiten. Das sind für mich auch ganz entscheidende Fähigkeiten im Zeitalter der Digitalisierung.

„In Deutschland werden lediglich 17 Prozent aller Entscheidungen in den Schulen selbst getroffen. Im Nachbarland Niederlande sind es über neunzig Prozent.“

News4teachers: Zum Schluss würde ich gerne noch einmal den Blick auf die Schulen richten. Eine aktuelle OECD-Erhebung hat gezeigt, dass vor allem die Schulen gut durch die Krise gekommen sind, an denen die Lehrkräfte viel Gestaltungsspielraum hatten. Wie erklären Sie sich diesen Befund?

Schleicher: Ich glaube, dieser Punkt ist für Deutschland eine große Herausforderung, wo es relativ wenig Gestaltungsfreiraum vor Ort in den Schulen gibt. In Deutschland werden lediglich 17 Prozent aller Entscheidungen in den Schulen selbst getroffen. Im Nachbarland Niederlande sind es über neunzig Prozent. Aber in so einer Pandemie ist es ganz entscheidend, dass ich als Schule sagen kann: Okay, so setzen wir jetzt soziale Distanzierung um, so richten wir Technologie ein und so weiter. Wenn ich dann aber erst mal im Ministerium nachfragen und sehr komplexe Verweisungsvorgänge initiieren muss, dann dauert das Monate und stellt ein Hindernis dar. Die Corona-Krise ist ein gutes Beispiel dafür, wie man in Echtzeit reagieren können muss und man darauf angewiesen ist, dass die Verantwortung vor Ort liegt.

News4teachers: Wovon hängt es noch ab, ob Schulen gut durch die Krise kommen?

Schleicher: Es sind drei Punkte. Erstens braucht es wirklich diese Möglichkeit, Gestaltungsspielräume zu nutzen und auf die sich täglich ändernden Herausforderungen zuzugehen. Darüber hinaus ist es dann zweitens wichtig, eine gute Verbindung zu den Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern zu haben. Es hat sich in der Krise wirklich bezahlt gemacht, wenn die Schülerinnen und Schüler jeden Tag einen verlässlichen Ansprechpartner in der Schule hatten. Und kein Schulsystem kann mir erklären, dass man das nicht bewerkstelligen kann. Auch sollten Schulen in der Lage sein, Ressourcen für Eltern bereitzustellen und sie einzubeziehen. Man kann nicht einfach sagen: Jetzt macht das mal zu Hause, unterrichtet mal eure Kinder. Nein, es braucht Ressourcen, Unterstützung und Lehrkräfte, die als Mentoren oder Coaches agieren. Die Integration von Schule in die Gesellschaft ist ganz wichtig. Und das dritte Thema ist Digitalisierung. Also diese drei Punkte würde ich an erste Stelle stellen.

News4teachers: Wenn wir auf diese Befunde schauen: Was kann das deutsche Bildungssystem daraus und aus der Krise insgesamt lernen? Wie kann Schule in den nächsten Jahren krisensicher werden?

Schleicher: Ich glaube, wir müssen lernen, dass wir weniger für eine Zukunft planen können, sondern dass die Zukunft uns immer wieder überraschen wird. Und ich glaube, was uns krisenfest und zukunftsfest macht, ist, im Grunde nicht abzuschätzen, wie die Zukunft aussehen wird, sondern uns auf mögliche verschiedene Zukünfte vorzubereiten. Die Welt kann sich in verschiedene Richtungen entwickeln. Und es gilt, diese Alternativen gründlich durchzudenken und zu überlegen: Wie können wir uns auf verschiedene Möglichkeiten vorbereiten? Dann ist man auch vorbereitet, wenn eine dieser Möglichkeiten eintritt. Also noch einmal: Die Zukunft wird uns immer wieder überraschen. Das ist für mich die entscheidende Lektion aus dieser Krise. Es ist also viel wichtiger, die Leute vor Ort zu mobilisieren, wirklich Verantwortung zu übernehmen. Ich muss Vertrauen in die Leute vor Ort haben, dass sie gute Entscheidungen treffen. Es braucht Vertrauen in die Schüler, die Lehrkräfte, in die Schulleitungen vor Ort. Dies ist eine Zeit, in der vertikale Steuerungsmechanismen nicht greifen und man horizontale Steuerungsmechanismen braucht. Das heißt für das Bildungssystem in Deutschland: Es muss ein bisschen flexibler werden.

Laura Millmann führte das Interview / Agentur für Bildungsjournalismus

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KnechtRuprecht
2 Jahre zuvor

https://www.swr.de/wissen/corona-infektion-oeffentliche-verkehrsmittel-100.html

„Diese Studie wurde so angelegt, dass sie das gewünschte Ergebnis bringt.

Hat geklappt. Den Menschen, die jeden Tag Bus und Bahn fahren, hilft das aber kein Stück.“

Kommt bekannt vor …