Schreibmotorik Institut und VBE fragen Lehrkräfte: Wie läuft’s mit dem Handschreiben?

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BERLIN. Dass sich die Corona-Krise auf die Lernleistungen von Schülerinnen und Schülern negativ ausgewirkt hat, ist mittlerweile durch Studien bestätigt. Wie sieht’s beim Handschreiben aus? Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) und das Schreibmotorik Institut befragen derzeit Lehrkräfte in Deutschland, wie sie die Situation einschätzen. Im Interview mit News4teachers sprechen der VBE-Bundesvorsitzende Udo Beckmann und die Geschäftsführerin des Schreibmotorik Instituts Dr. Marianela Diaz Meyer über ihre Beweggründe, die Umfrage zu starten. Titel der Studie: STEP 2022 („Studie über die Entwicklung, Probleme und Interventionen zum Thema Handschreiben”).

Wie läuft’s mit dem Handschreiben – in der Corona-Krise? Foto: Shutterstock

News4teachers: Eine Studie des Instituts für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund kam unlängst zu dem Ergebnis, dass den Viertklässlern von 2021 beim Leseverständnis gegenüber früheren Jahrgängen ein halbes Schuljahr fehlt, dass also die Kompetenzen Pandemie-bedingt deutlich nachgelassen haben. Hat nach Ihrer Beobachtung auch der Schreibunterricht gelitten?

Die Step-Studie 2022

Wie gut können Schülerinnen und Schüler von Hand schreiben? Gibt es womöglich Auswirkungen der Corona-Krise auf die schreibmotorischen Fertigkeiten der Kinder und Jugendlichen? Und welche Konsequenzen hat die Digitalisierung? Das Schreibmotorik Institut hat jetzt gemeinsam mit dem Verband Bildung und Erziehung (VBE) eine Umfrage unter Lehrkräften gestartet, die aktuelle Antworten auf diese Fragen liefern soll. Der Zeitaufwand beträgt 20 Minuten.

Hier geht es zur Umfrage: https://www.soscisurvey.de/STEP2022/

Beckmann: Es gab ja auch schon eine Studie der Stiftung Lesen aus dem Schuljahr 2020/21, die beim Leseverständnis erhebliche Defizite festgestellt hat. Eins hängt mit dem anderen zusammen. Wir müssen deshalb fürchten, dass wir ähnliche Entwicklungen auch beim Handschreiben zu erwarten haben. Zumal dann, wenn wir auch den frühkindlichen Bereich in den Blick nehmen. In der Kita soll die erste Lesefreude geweckt werden. Dort werden die Grundlagen für das spätere Schreibenlernen gelegt. Dabei verzeichnen wir aber – ebenso wie im schulischen Bereich – einen riesigen Personalmangel, der sich in den beiden Krisenjahren noch verschärft hat und der die Frühförderung beeinträchtigt.

Diaz Meyer: Das Thema hat signifikant an Bedeutung gewonnen. Wir beobachten, dass die Schreibkompetenzen in der Pandemie gelitten haben, dafür gibt es deutliche Indikatoren. Lehrerinnen und Lehrer, aber verstärkt auch Eltern kontaktieren uns und suchen verzweifelt nach Lösungen, weil ihre Kinder Probleme mit dem Handschreiben haben. Wir können feststellen, dass sich die Zahl der Anfragen in der Corona-Krise gegenüber der Zeit zuvor verdreifacht hat. Auch aus Sicht vieler Kinder gibt es eine Verstärkung der schon bestehenden Probleme, wie eine internationale Umfrage zeigt. Wir vermuten, dass das Handschreiben ohne die regelmäßige Übung und Kontrolle für viele Schülerinnen und Schüler noch mühsamer geworden ist. Deshalb ist es für uns so wichtig, die aktuelle Lage beim Handschreiben jetzt aus Sicht der Lehrkräfte zu erfahren. Das erfragen wir derzeit in unserer aktuellen STEP-Studie. Hier hoffen wir noch bis 24. April auf eine rege Teilnahme der  Lehrerinnen und Lehrer.

News4teachers: Haben Schulen und Kitas denn in der aktuellen Situation genug Möglichkeiten, das Handschreiben zu fördern?

Beckmann: Mit Sicherheit nicht. Ich denke, die ganzen Auswirkungen der Pandemie haben einen starken Einfluss auf den Unterricht. Aufgrund der Personalenge müssen Stundentafeln zusammengestrichen werden, Lehrkräfte haben oft mehrere Lerngruppen gleichzeitig zu betreuen. Da ist es natürlich schwierig, gerade solche Förderbereiche wie das Handschreiben im Blick zu haben, die ja auch die besondere zeitliche Zuwendung für einzelne Schülerinnen und Schüler durch die Lehrkraft erfordern.

„Mangelnde Bewegungserfahrungen von Kindern führen zu einer verkrampften Haltung“

News4teachers: Kinderärzte beobachten, dass Kinder in der Pandemie mehr Zeit vor Bildschirmen verbracht haben, dass eine große Zahl von Kindern sich offenbar nicht körperlich austoben konnte, weil Sport- und Bewegungsangebote wegfielen. Hat das womöglich Auswirkungen auf die motorische Entwicklung – und damit auf die Entwicklung der Schreibmotorik?

Diaz Meyer: Die Bewegungszeit von Kindern in den 1970er Jahren betrug täglich noch drei bis vier Stunden – 20 Jahre später war es nur noch eine Stunde. Das haben Studien festgestellt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt eine Bewegungszeit von 150 Minuten für Kinder am Tag. Die haben schon vor der Pandemie in Deutschland nur jeder sechste Junge und  jedes siebte Mädchen erreicht. In der Pandemie sind dann nicht nur die Sportmöglichkeiten weggebrochen, sondern auch die Bewegung nebenbei wie der Schulweg oder Zeit mit Freunden auf dem Spielplatz. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass immer mehr Kinder unter Rückenschmerzen leiden. Diese Bewegungsarmut wirkt sich auch negativ auf das Handschreiben aus. Mangelnde Bewegungserfahrungen führen zu einer verkrampften Haltung.

Beckmann: Das sehe ich auch so. Das Sportangebot in den Schulen musste in der Pandemie ja stark zurückgefahren werden, aber auch künstlerisch-musische Aktivitäten haben sehr gelitten. Das kommt noch dazu. Die Angebote, bei denen es um die Schulung motorischer Fähigkeiten geht – und damit auch um Feinmotorik – waren in der Pandemie nur sehr eingeschränkt möglich. Und als dann der Präsenzunterricht wieder hochgefahren wurde, standen zunächst die sogenannten Kernfächer im Fokus, die dann auch prüfungsrelevant sind, bei denen es etwa auch um die Entscheidung über die weiterführende Schule geht.

News4teachers: Die Bundesländer versuchen mit Aufholprogrammen, die entstandenen Lücken zu schließen. Gibt es dabei Initiativen, die auf das Handschreiben zielen – oder zumindest auf sportliche oder künstlerisch-musische Aktivitäten, die einen Ausgleich schaffen könnten?

Beckmann: Dass das Thema Handschreiben hierbei eine hervorgehobene Rolle spielt, ist mir nicht aufgefallen. Allerdings haben die Aufholprogramme ja zwei Säulen. Sie sollen zum einen helfen, die Lerndefizite auszugleichen. Zum anderen sollen emotional-soziale Belastungen aufgefangen werden. Um die Kinder psychisch zu festigen, sind auch musisch-kreative Angebote vorgesehen. Da haben wir dann womöglich eine Unterstützung auch für das Handschreiben.

News4teachers: Könnten Sie sich da mehr vorstellen, Frau Dr. Diaz Meyer?

Diaz Meyer: Wir vom Schreibmotorik Institut arbeiten gerade in einem europäischen Projekt mit Partnern aus Deutschland, Luxemburg und Frankreich, bei dem es um eine zusätzliche Förderung des Handschreibens im Unterricht geht – individuell, aber nur mit minimalem Zeitaufwand. Konkret betrifft das die Fächer Musik, Sport, Werken und Gestalten sowie Deutsch und Mathematik. Wenn wir hier eine stärkere Integration des Themas in die jeweiligen Lehrpläne erreichen könnten, wäre viel gewonnen. Die bisherigen Rückmeldungen der beteiligten Lehrkräfte fallen sehr positiv aus. Weil die Schreibgeschwindigkeit und die Motivation der Schülerinnen und Schüler deutlich profitieren, lässt sich die Zeit für die Förderung dann wieder einsparen – etwa weil das Abschreiben von der Tafel sich viel schneller erledigen lässt, weil Aufgaben schneller erledigt werden.

News4teachers: Wenn Defizite am Ende der Grundschulzeit auftreten: Lassen die sich aufholen? Wenn ja – wie?

Diaz Meyer: Eine vollständige Automatisierung des Handschreibens – also dass man nicht mehr darüber nachdenkt, was man tut – findet erst bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen statt. Eine Teilautomatisierung gibt es aber bereits ab einem Alter von neun, zehn Jahren. Die Förderung der Schreibfertigkeiten sollte daher auch in weiterführenden Schulen einen Platz haben. Eine Stunde Üben in der Woche reicht dafür aus. Motivierend ist beispielsweise, Texte von Lieblingssongs aufzuschreiben oder damit schriftlich zu spielen. Neurowissenschaftliche Studien haben zudem festgestellt, dass auch Jugendliche und Erwachsene von den Vorteilen handschriftlicher Notizen profitieren, nicht nur Kinder. Sie erlangen ein besseres inhaltliches Verständnis des Geschriebenen, merken sich die Dinge besser und setzen sich intensiver mit den Inhalten auseinander.

„Zwischen der ersten und der zweiten Studie haben wir keine Verbesserung feststellen können – und dann kam die Pandemie“

News4teachers: Die STEP-Studie wird bereits zum dritten Mal durchgeführt. Was hat sich nach Ihrer Beobachtung seit der Veröffentlichung der ersten Ausgabe 2015 bildungspolitisch getan?

Beckmann: Das Thema Handschreiben ist durch die STEP-Studien mehr ins Bewusstsein der verantwortlichen Politikerinnen und Politiker gekommen, bei einzelnen jedenfalls. Da ist aber noch viel Luft nach oben. Signifikante Verbesserungen der Unterrichtsbedingungen kann ich nicht feststellen. Im Gegenteil. Wenn man sieht, womit sich Lehrkräfte in der Pandemie beschäftigen mussten – ich nenne hier nur mal die Hygienestandards –, dann haben sich die Bedingungen für die Handschreib-Förderung wohl eher deutlich verschlechtert. Ich habe jedenfalls einige Sorgenfalten mehr.

Diaz Meyer: Zwischen der ersten und der zweiten Studie haben wir keine Verbesserung der Situation feststellen können – und dann kam die Pandemie. Dadurch gab es noch weniger Zeit für die Handschreib-Förderung einerseits, andererseits aber gibt es einen zunehmenden Bewegungsmangel. Das lässt in der Fläche nichts Gutes erwarten. In einigen Bundesländern hat allerdings die Politik reagiert. In Mecklenburg-Vorpommern hat man bei der Entwicklung des neuen Rahmenlehrplans für den Deutsch-Unterricht auf unser Know-how zurückgegriffen – mit dem Ergebnis, dass das Thema Schreibmotorik jetzt mehr Raum einnimmt.

News4teachers: Warum ist es denn so wichtig, dass Kinder eine gute Handschrift entwickeln – im Zeitalter der Digitalisierung?

Diaz Meyer: Die Digitalisierung bietet vielversprechende Möglichkeiten, die Bildung zu unterstützen. Gleichzeitig bieten die analogen Methoden – Handschreiben, ein Buch lesen –, die mit Wahrnehmung und Bewegung zu tun haben, einzigartige Vorteile für das Lernen und die kognitive Entwicklung der Schülerinnen und Schüler. Das kann durch digitale Medien einfach nicht ersetzt werden, dessen muss sich jeder bewusst sein. Das Gehirn ist auf reale Erfahrungen durch unseren Körper und unsere Sinne angewiesen. Gerade für das Lernen, für die inhaltliche Auseinandersetzung und den Schriftspracherwerb, ist das Handschreiben dem Tippen vorzuziehen.

Beckmann: Wir machen ja selbst immer wieder die Erfahrung – wenn wir mit der Hand etwas auf einen Zettel schreiben, dann benötigen wir den Zettel später gar nicht mehr. Daddele ich eine Notiz in mein Handy, dann behalte ich den Inhalt längst nicht so gut. Wir wissen, dass Handschreiben eng mit der Entwicklung von Rechtschreibung, Lesekompetenz und Textverständnis verknüpft ist. Handschreiben ist ein ganzheitlicher Lernprozess, den ich allein durch digitale Medien nicht erreiche. Andrej Priboschek führte das Interview / Agentur für Bildungsjournalismus

Hier geht es zur Umfrage: https://www.soscisurvey.de/STEP2022/

Leidet das Handschreiben in der Corona-Krise? VBE und Schreibmotorik Institut fragen Lehrkräfte

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G. P.
2 Jahre zuvor

Mit meinem Kommentar möchte ich Eltern Mut machen, die Sorgen wegen der Schrift ihrer Kinder haben.
Unser Sohn – übermorgen wird er 37 – hatte als Kind eine schlechte Schrift, obwohl er gerne gemalt und gebastelt hat und dabei alles andere als ungeschickt war. Und obwohl die Schrift schlecht blieb, was öfter zu Diskuissionen geführt hat, machte er sein Abitur als einer der jüngsten in seiner Klasse in einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium in Baden-Württemberg mit einer 1 vor dem Komma. An der Berliner Humboldt Universität schloss er sein Diplom im Alter von 24 Jahren mit 1 ab und seinen Dr. rer. nat. machte er magna cum laude. Im Beruf ist er sehr erfolgreich und er hat einen netten Freundeskreis. Mit seinen Professoren und seinen Chefs kommt er genauso gut zurecht, wie mit den Handwerkern, denen er beim Aufbau eines Gerüsts an unserem Haus geholfen hat. Auch bei einem Ferienjob in einem Altersheim während seiner Schulzeit wurde ihm nichts erspart und er machte klaglos was nötig war.
Was können Eltern mehr wollen?
Vor ein paar Jahren schnitt ich ihm gegenüber das Thema „Schrift“ einmal an und er lachte und sagte: „Das war alles überbewertet, heute macht man sowieso alles mit dem PC.“
Klar ist ihm natürlich, dass eine Handschrift eindeutig lesbar sein muss.

Lera
2 Jahre zuvor
Antwortet  G. P.

Das ist ein Einzelfall und darf nicht sein, Handschrift ist nämlich nach allgemeinem Dafürhalten suuuuper wichtig. Für alles. Und alle.

Ken Haddorf
2 Jahre zuvor
Antwortet  G. P.

„Klar ist ihm natürlich, dass eine Handschrift eindeutig lesbar sein muss.“

…um mehr geht es doch gar nicht. Die Kinderschriften sollen lesbar sein – vor allem für die Kinder selbst.

Was vor 20 Jahren als schlechte Handschrift angesehen wurde, ist nicht vergleichbar mit der heutigen Lage. Damals wurde die falsche Schräglage (zu sehr gekippt /zu gerade) oder zu lange Ober- und Unterlängen negativ bewertet. Eine krickelige aber lesbare Schrift war halt maximal ausreichend. Da ging es in den seltensten Fällen um die Unlesbarkeit.

Der Schreibunterricht hatte ein viel größeres Gewicht damals. Das änderte sich, als die Kerncurricula die vorherigen Rahmenrichtlinien ablösten.