Steinmeier tritt Debatte um Pflicht-Sozialdienst nach der Schulzeit los, Paus dagegen

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BERLIN. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier regt die Einführung eines sozialen Pflichtdiensts für junge Menschen in Deutschland an – erntet aber prompt Widerspruch: Bundesfamilienministerin Lisa Paus. Sie verweist auf die Belastungen, die gerade junge Menschen in der Corona-Krise zu tragen hatten.

„Man kommt raus aus der eigenen Blase“: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Foto: Bundesregierung/Steffen Kugler

„Es geht um die Frage, ob es unserem Land nicht gut tun würde, wenn sich Frauen und Männer für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der Gesellschaft stellen“, sagte Steinmeier der „Bild am Sonntag“. Das müsse nicht bei der Bundeswehr sein, „die soziale Pflichtzeit könnte meiner Meinung nach genauso bei der Betreuung von Senioren, in Behinderteneinrichtungen oder in Obdachlosenunterkünften geleistet werden“. Dies so einzuführen werde sicherlich nicht einfach, eine Debatte über eine soziale Pflichtzeit halte er aber in jedem Fall für angebracht.

Wie lange ein solcher Dienst aus seiner Sicht dauern sollte, ließ Steinmeier offen: „Ich habe bewusst Pflichtzeit gesagt, denn es muss kein Jahr sein. Da kann man auch einen anderen Zeitraum wählen.“ Wichtig sei, den eigenen Horizont zu erweitern und verschiedene Sichtweisen kennenzulernen. „Gerade jetzt, in einer Zeit, in der das Verständnis für andere Lebensentwürfe und Meinungen abnimmt, kann eine soziale Pflichtzeit besonders wertvoll sein. Man kommt raus aus der eigenen Blase, trifft ganz andere Menschen, hilft Bürgern in Notlagen. Das baut Vorurteile ab und stärkt den Gemeinsinn.“

„Ein sozialer Pflichtdienst würde einen Eingriff in die individuelle Freiheit eines jeden Jugendlichen bedeuten“

Familienministerin Lisa Paus spricht sich gegen die Einführung eines Pflichtdienstes für alle Jugendlichen aus. „Ein sozialer Pflichtdienst würde einen Eingriff in die individuelle Freiheit eines jeden Jugendlichen bedeuten“, sagte die Grünen-Politikerin am Sonntag in Berlin. Sie verwies auf die große Beliebtheit der Freiwilligendienste. „Aus freiwilligem Engagement würde Verpflichtung. Wir sollten unsere jungen Menschen, die unter der Corona-Pandemie besonders gelitten und sich trotzdem solidarisch mit den Älteren gezeigt haben, weiterhin die Freiheit zur eigenen Entscheidung lassen.“

Bislang gibt es speziell für junge Menschen das Freiwillige Soziale Jahr, das Freiwillige Ökologische Jahr und den Internationalen Jugendfreiwilligendienst. Diese Angebote stehen jungen Frauen und Männern unabhängig von Schulabschluss, Herkunft oder Einkommenslage bis zum Alter von 27 Jahren offen. Daneben gibt es den Bundesfreiwilligendienst als Angebot für Menschen jeden Alters.

Paus sagte: „Für den einzelnen Jugendlichen bedeutet ein solcher Freiwilligendienst eine persönliche Bereicherung, für die Gesellschaft ist er eine wichtige Unterstützung – auch, weil die jungen Menschen sich freiwillig engagieren und mit Herzblut bei der Sache sind.“ Bereits jetzt, als freiwilliger Dienst, sei die Nachfrage größer als das Angebot. „Es steht den Jugendlichen aber frei, sich für oder gegen einen solchen Dienst zu entscheiden.“ Dabei sollte es aus Sicht von Paus auch bleiben.

Die Wehrpflicht war 2011 nach 55 Jahren ausgesetzt worden, was praktisch einem Ende des Wehr- und Zivildienstes gleichkam. Der russische Angriff auf die Ukraine löste eine neue Debatte über die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht aus. Politiker aus Union und SPD forderten eine Diskussion über einen solchen Schritt, der Wehrdienst und soziale Dienste vereint. News4teachers / mit Material der dpa

Verpflichtet doch Senioren!

Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek

Das vergreisende Deutschland hat ein Problem mit seiner Jugend. Einerseits wird pauschal an jungen Menschen herumgemeckert: Sie seien schlecht erzogen, mangelhaft in Rechtschreibung, kaum noch ausbildungs- oder studierfähig, trotzdem einem Akademisierungswahn anheimgefallen. Andererseits überlässt die Generation der Baby-Boomer, die  – noch – an den Schalthebeln der Macht sitzt, die unbequemen Zukunftsentscheidungen gerne mal den folgenden Generationen (siehe Klima).

Der Bildungsjournalist Andrej Priboschek. Foto: Tina Umlauf

Der Vorschlag eines sozialen Pflichtjahrs für junge Menschen passt ins Bild – Über-60-Jährige (in diesem Fall: Steinmeier, 66) regen an, dass die Jugend doch mal mehr fürs Gemeinwohl arbeiten müsste. Als ob die jungen Menschen in Deutschland nicht genug damit zu tun hätten, sich durch marode Bildungseinrichtungen zu kämpfen und ihren Platz in einer immer komplexer werdenden Welt zu erarbeiten, eine Aufgabe, bei denen ihnen die Älteren immer weniger helfen können – eben weil die Welt so kompliziert geworden ist.

Wie wäre es denn andersherum mal mit einer Debatte um ein soziales Pflichtjahr für Ruheständler? Die Menschen werden im Schnitt immer älter, die Lebenserwartung steigt, und viele sind mit Eintritt ins Rentenalter topfit. Statt egoistisch dem Hedonismus zu frönen, könnten diese Senioren doch wunderbar den Jüngeren dabei helfen, Deutschlands Zukunft zu gestalten – sei es, dass sie (die Älteren) soziale Dienste in Kitas und Schulen übernehmen, sei es, dass sie sich in Umwelt-Initiativen engagieren, um den folgenden Generationen mehr als verbrannte Erde zu hinterlassen.

„Man kommt raus aus der eigenen Blase, trifft ganz andere Menschen, hilft Bürgern in Notlagen. Das baut Vorurteile ab und stärkt den Gemeinsinn“, meint der Bundespräsident zurecht über einen verpflichtenden Sozialdienst – klingt doch nach einem herrlichen Programm für Menschen, die sich gerade voller Tatendrang aus ihrem Berufsleben verabschiedet haben.

Umfrage: Gros der Deutschen (auch der Jugendlichen!) befürwortet soziales Pflichtjahr

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17 Kommentare
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Julia
1 Jahr zuvor

Verehrter Herr Herausgeber,
Ihre Argumentation hat durchaus etwas
für sich, ist sie auch ein wenig polemisch.
Die Generation der Älteren hinterlässt nicht nur „verbrannte Erde“, sondern auch die -nicht zuletzt ökonomischen- Grundlagen für sich und die nachfolgenden Generationen. Diese ermöglichen ihnen zu lernen, aufzuwachsen und zu studieren. Nicht zuletzt durch einen an vielen Stellen durchaus nachhaltigen Lebensstil- z. B. geringe Wegwerfquote von Lebensmitteln, weniger Wegwerf-Take-away-Konsum erhalten Boomer und andere Lebensraum.
Aber vor allem haben sie ihre Pflicht im Generationenvertrag durch Aufzucht der Kinder und Pflege der Angehörigen in ebenfalls komplexen Zeiten getan. Und durch Jahrzehnte der Berufstätigkeit die Rente erworben. DAS alles müssen junge Menschen erst einmal leisten! DANN können sie auch etwas beanspruchen.

AndiBandi
1 Jahr zuvor
Antwortet  Julia

genau so sieht es aus! Ich werde es nie verstehen, Millionärstöchter wie Luisa Neubauer stellen Forderungen um Forderungen, haben aber selber noch nie was zur Gesellschaft beigetragen!
Erstmal selbst was leisten und dann fordern!

Milla
1 Jahr zuvor

Ich habe einen anderen Vorschlag: Jeder Politiker zahlt in die Rentenkasse ein, zunächst verpflichtend für 1 Jahr. Dann können sie auch gern, nach guten Erfahrungen, weiter zahlen. Danach schauen wir mal,…Man könnte auf jeden Fall ganz schnell Geld für die Sanierung der Schulen und Kitas erhalten. Auch für unsere armen Rentner und Pfleger bliebe sicher noch Geld übrig, verdient hätten sie es auf jeden Fall. Also Herr Steinmeier, voran mit gutem Beispiel.

Indra Rupp
1 Jahr zuvor

FSJ, FÖJ…… es gibt mehr Nachfragen als Angebote…….. Oje!

Honigkuchenpferd
1 Jahr zuvor

Ich habe „Angst“ vor einem Pflichtjahr und den jungen Leuten, die gegen ihren Willen alte Menschen pflegen oder Tiere versorgen oder etwas mit Kindern machen sollen und dann vermutlich mehr Unheil anrichten als sie nutzen. Deshalb lasst das lieber.

Last edited 1 Jahr zuvor by Honigkuchenpferd
Rai Mi
9 Monate zuvor
Antwortet  Honigkuchenpferd

Es geht nicht nur um eine Wehrpflicht. Ein Dienst an der Gesellschaft sorgt für diesen Zusammenhalt und ein Gefühl von Gemeinschaft. Man lernt ganz unterschiedliche Menschen kennen, bricht aus seiner „Bubble“ aus und beginnt, andere Lebensentwürfe zu verstehen und zu schätzen. Die Gesellschaft wächst zusammen
Andere Länder machen es vor: In Frankreich gibt es seit 2019 den „Service national universel“, ein verpflichtender Nationaldienst, der mindestens einen Monat dauert und französische Werte vermitteln, den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und das soziale Engagement fördern soll.
Bildung der Persönlichkeit. Bildung ist viel mehr als Formeln anwenden und Vokabeln pauken. Empathie, Zivilcourage, Lebenserfahrung, Respekt, Menschlichkeit und Toleranz sind genauso wichtig, um ein verantwortungsvolles und eigenständiges Mitglied unserer Gesellschaft zu werden.
All das kann die Schule nicht ausreichend vermitteln, man muss dafür „echte“ Erfahrungen sammeln. In sozialen Institutionen lernt man, soziale Verantwortung zu übernehmen und sich für andere einzusetzen. Für viele Schulabgänger-innen wäre ein soziales Jahr also ein wertvolles Erlebnis, das sich positiv auf ihre persönliche und soziale Entwicklung auswirkt und sie in ihrem gesamten Leben weiterbringt.
Ein weiterer Grund, der häufig als Argument für ein verpflichtendes soziales Jahr angeführt wird, ist der Mangel an Fachkräften in Pädagogik und Pflege. Die Jugendlichen können einerseits die ausgebildeten Fachkräfte unterstützen und außerdem vielleicht Gefallen an dem Beruf finden und später selbst in diesem Bereich arbeiten, so der Gedanke.

TaMu
1 Jahr zuvor

Sobald Menschen Kinder bekommen, leisten sie ihre Pflichtjahre. Ich sehe ohne Ausnahme Mütter Pflichtjahre leisten, die sie entweder zugunsten ihrer Kinder beruflich benachteiligen oder sie in einen Spagat zwischen Kind und Vollzeitarbeit stürzen. Jeder Magen- Darm -Infekt, jede nicht planbare und dennoch voraussehbare Unregelmäßigkeit im Leben mit Kindern führt zu Pflichtstunden. Häufig arbeiten diese Frauen Voll- oder Teilzeit in Berufen, die systemrelevant, aber nicht gut bezahlt werden, oder aber schwierig mit Kind vereinbar sind. Und ausschließlich Frauen leisten mit Schwangerschaft und Geburt jedes Mal ein komplettes Pflichtjahr ab, in dem viele mit negativen Folgen für Beruf und Einkommen schon frühzeitig Bekanntschaft machen. Mit Zwangsverpflichteten Löcher in der Pflege und auch sonst überall stopfen zu wollen, ist einfach billig. Auch Männer und damit Väter haben Probleme, für ihre Kinder da zu sein, ihre berufstätigen Frauen zu entlasten und häufig den Hauptanteil des Familieneinkommens zu erwirtschaften.
Statt nach Pflichtjahren zu rufen, muss die Pflege professionell entlastet und das Pflegesystem erneuert werden. Und das ist nicht die Aufgabe der Schulabgänger, sondern die der Regierung.

tachelesme
1 Jahr zuvor

Die Generationen der Entscheidungsträger verschweigen und leugnen die Klimakrise und die damit verbundene künftige Probleme, die sie selbst herbeigeführt hatten und die die künftigen Generationen lösen müssen, um zu überleben. Dafür verlangen sie von den Jugendlichen Bereitschaft zur sozialen Verantwortung, die sie selbst nicht haben, und eine Pflicht, die sie selbst nicht trifft und aus der sich ihre eigenen Nachfahren aufgrund der sozialen Vorteile frei kaufen oder sich ihr entziehen können. …

Echt
1 Jahr zuvor

Vor Jahren hätte ich dies als Ersatz für die Wehrpflicht (1/2 Jahr) sinnvoll empfunden. Mittlerweile entsteht eher der Eindruck, dass die jungen Leute Löcher im Sozialsystem stopfen sollen.

Ich muss da mal was loswerden
1 Jahr zuvor

Immer schön die Symptome bekämpfen aber nicht die Ursachen. Am besten dafür Leute für lau nehmen und zeangsweise dazu verpflichten…

Ich muss da mal was loswerden
1 Jahr zuvor

War ironisch gemeint…

Stromdoktor
1 Jahr zuvor

Ich teile die Gedanken von Hrn. Priboschek bzw. habe grundsätzlich auch ein Störgefühl.

Aus meiner Sicht gibt es aber einen (naheliegenden) Kompromiss:

Jeder könnte im Laufe seines Erwerbslebens dazu verpflichtet werden, sich ehrenamtlich/sozial für einen bestimmten Zeitraum zu engagieren.

Den Zeitpunkt sollte dabei jeder selber bestimmen können.

Wer jung und ggf. beruflich noch nicht abschließend orientiert ist, könnte den Dienst zu Beginn seines Erwerbslebens leisten (analog Zivilidienst bzw. Wehrpflicht).

Wer genau weiß, was er machen möchte, absolviert erst einmal seine Ausbildung, steigt in den Beruf ein gründet ggf. eine Familie.

Später wird dann der Sozialdienst nachgeholt. Spätestens im letzten Berufsjahr vor der Pension/Rente.

Dazwischen gibt es noch permanente Ersatzdienste. Bsp. Feuerwehr, THW…

Vorteile:
Flexibilität und bessere Qualifikation (ausgebildete Ärzte, LK, Ingenieure…)

Nachteile:
Einige schaffen es vielleicht nicht bis ins letzte Drittel des Erwerbslebens. Stichwort Burnout…

Alles in allem aber deutlich fairer – zumindest aus meiner Sicht.

Last edited 1 Jahr zuvor by Stromdoktor
Ich muss da mal was loswerden
1 Jahr zuvor
Antwortet  Stromdoktor

Leider werden dann viele plötzlich kurz vor der Rente arbeitsunfähig und können dann ihr soziales Jahr nicht mehr ableisten. Viele in dem Alter werden auch eher selbst soziale Betreuung benötigen, statt welche zu leisten…

Stromdoktor
1 Jahr zuvor

Ja. Die Gefahr sehe ich auch.

Vom grundsätzlichen Gedanken möchte ich mich aber nicht verabschieden:

Dass Menschen egal welchen Alters, einen Beitrag für unsere Gesellschaft leisten können und dürfen.

Der Steinmeier-Ansatz orientiert sich doch in Wahrheit am vorletzten Jahrzehnt. Körperlich leistungsfähige junge Menschen für Bundeswehr und Zivildienst.

Das finden alle plausibel…und mit der gesellschaftlichen Mehrheit älterer Jahrgänge wird es auch so kommen.

Werner Hasenbrot
1 Jahr zuvor

Als Kranken- oder Altenpfleger würde ich mich von einer Politk verhöhnt fühlen, die lieberZwangsarbeit für junge Leute einführen als die Arbeitsbedingungen in diesen Berufen verbessern will.

Julia
1 Jahr zuvor
Antwortet  Werner Hasenbrot

Es könnte doch ein Pflichtjahr in der Schule geben. Da kennt sich jede:r aus und das kann auch jede:r, wie man an der momentanen Rekrutierungspraxis sehen kann!

kanndochnichtwahrsein
1 Jahr zuvor

Gerade in den genannten Bereichen kann man nur Menschen brauchen, die das wollen und sich freiwillig engagieren.
Sie werden nicht/schlecht bezahlt und leisten oft fast das Gleiche wie die (ebenfalls schlecht bezahlten) hauptberuflichen Kräfte.

Wenn hauptberufliche Kräfte gerade in den Bereichen, in denen mit Freiwilligen (schon lange) oder Verpflichteten (falls es denn so käme) Löcher gestopft werden sollen, die anderweitig und auch nachhaltig zu stopfen finanziell die Gesellschaft nicht bereit ist – genau in diesen Bereichen müssen dann die ohnehin chronisch überbelsteten hauptberuflichen Kräfte auch noch anleiten, kontrollieren und nicht zuletzt auch Konflikte klären, wenn Welten aufeinander treffen…

Weiterhin ist sowas ein Signal an die Bevölkerung: Hier kann man auch ohne Ausbildung und Qualifikation arbeiten – was wiederum die Anerkennung der Pfleger, Erzieher, Lehrer in der Gesellschaft weiter schwächt. Abschluss schlecht, Abi schlecht, Wartezeit auf einen Studienplatz – einfach nen Dienst machen (man muss ja nicht jeden Tag unbedingt hingehen (die haben eh keine Zeit, hinter dem FSJler herzulaufen), dann kriegste deinen Studienplatz gratis…“Kann ja jeder!“

Was sollen die eh unterbesetzten und falsch berechneten Systeme noch alles aushalten?

Freiwillige gerne, wenn sie sich aktiv und bewusst entscheiden – bitte aber auch besser bezahlt, damit sie vielleicht sogar nach guten Erfahrungen beruflich im Bereich bleiben.
Verpflichtete in diesen Bereichen bitte nicht!