STUTTGART. Der Philologenverband hat die Entscheidung der grün-schwarzen Landesregierung in Baden-Württemberg kritisiert, die Gymnasien grundsätzlich im achtjährigen Bildungsgang zu belassen – und dafür den „Modellversuch“ (bei dem landesweit 43 Gymnasien G9 anbieten dürfen) zu verlängern. Die Philologen fordern Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) auf: „Ziehen Sie endlich die Konsequenzen aus dem eindeutigen Elternwillen in Sachen G8/G9!“
Eine repräsentative forsa-Umfrage von Februar 2022 bei Eltern mit schulpflichtigen Kindern in Baden-Württemberg habe, so heißt es in einer Pressemitteilung des Verbands, ein eindeutiges Stimmungsbild ergeben: 62 Prozent wollen ausschließlich G9 am Gymnasium, 28 Prozent eine Kombination von G9 und G8, nur 6 Prozent befürworten ein G8 für alle. „Schaffen Sie schnellstens das unbeliebte ‚G8 für alle‘ am allgemeinbildenden Gymnasium ab, so, wie das alle anderen Flächenländer im Westen bereits getan haben!“, fordert nun Philologen-Landesvorsitzender Ralf Scholl. „Geben Sie unseren Jugendlichen Chancengleichheit gegenüber den Absolventen aus diesen Ländern! Sonst steigt der Druck im Kessel bei Schülern und Eltern weiter an — gerade angesichts der weiterbestehenden Corona-Lücken!“
„Was 50 Jahre erfolgreich in Baden-Württemberg Standard war, muss nicht in einem ‚Schulversuch‘ getestet werden”
G8 sei mittlerweile eine Hürde für notwendige, in die Zukunft weisende Änderungen in der Sekundarstufe I. „Das Wahlalter in Baden-Württemberg wurde 2022 auf 16 Jahre
abgesenkt. Notwendige Voraussetzung dafür ist aus Sicht des Philologenverbands eine verstärkte politische Bildung aller SEK-I-Schüler, die nur mit zusätzlichen Politik-Stunden geleistet werden kann“, so heißt es. In G8 lasse sich aber keine einzige zusätzliche Stunde mehr hineinquetschen. Darunter leide auch das Thema Digitalisierung. Ein einstündiger, durchgängiger Unterricht im Fach Informatik in der gesamten Sekundarstufe I (Klasse 5-10) wäre eigentlich notwendig – aber in G8 nicht möglich.
Zum Schuljahr 2012/13 war aufgrund der nicht endenden Kritik an G8 von der damaligen Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD) der sogenannte „Schulversuch G9“ gestartet worden – eine „Ventillösung“, so Scholl, um die lautstärksten Kritiker ruhig zu stellen. „Was 50 Jahre erfolgreich in Baden-Württemberg Standard war, muss nicht in einem ‚Schulversuch‘ getestet werden. Und eine wissenschaftliche Evaluation dieses ‚Schulversuchs‘ wurde auch nie in Auftrag gegeben.“
Grund für den „Schulversuch G9“ waren und sind die offensichtlichen Vorteile von G9 – meint der Philologenverband und listet auf:
- Absenkung der wöchentlichen Unterrichtszeit von 34, 35 und mehr Wochenstunden insbesondere in den Klassenstufen 9 und 10 auf ein normales Maß,
- Stärkung der Schüler-Beteiligung am Vereins-Sport, an Musikschulen und jeglichem ehrenamtlichen Engagement, z.B. bei der Feuerwehr oder in kirchlichen Gruppen durch die gewonnen freien Nachmittage,
- Steigerung der Zahl von Schülern, die ein Schuljahr im Ausland verbringen (Mindestalter: 16 Jahre!). In G9 ist dies in der 11. Klasse ohne Schulzeitverlängerung möglich, in G8 gehört die 11. Klasse zur Abiturqualifikation, und ein Auslandsjahr bedeutet ein Jahr „Zeitverlust“ bis zum Abitur,
- Es muss nicht mehr die Hälfte eines jeden Abiturjahrgangs nach dem Abitur ein freiwilliges soziales Jahr (FSJ), Work and Travel oder eine Tour um die Welt machen, um erst einmal Orientierung zu finden: Der komprimierte Schulbetrieb im G8 fordert viel zu viele Schüler aufs Äußerste. G9 lässt parallel zur Schule genügend Gelegenheit zur Selbstfindung.
- Die Abschaffung der Wehrpflicht 2008 hat das Studieneintrittsalter bereits um ein dreiviertel Jahr abgesenkt.
Immerhin, so stellt der Verbandsvorsitzende sarkastisch fest, habe das Kultusministerium mit seiner aktuellen Entscheidung die notwendige Planungssicherheit für die G9-„Versuchs“-Gymnasien geschaffen hat. Scholl: „Das ist der einzige positive Punkt an dieser Entscheidung.“ News4teachers
„Keine Strukturdebatten“: Baden-Württemberg bleibt – trotz aller Widerstände – beim Turbo-Abitur
Durch eine Rückkehr zu G9 könnte man die Unterrichtstage auf max. 6 Schulstunden reduzieren. Dies würde die Anzahl von Kindern mit Rückenschmerzen, Übergewicht und Kurzsichtigkeit merklich reduzieren, da sie dann mehr Zeit im Freien und in Bewegung verbringen können.
Man könnte die Unterrichtstage auf max. 6 Schulstunden reduzieren – hat man in NRW mit Wiedereinführung von G9 aber auch nicht gemacht: Ganztagsschule bleibt Ganztagsschule – also bitte keine Ilusionen machen, dass auch dieses Rad zurückgedreht wird, aber vielleicht läuft es in BaWü ja anders. Und ob die die ggf. gewonnene Zeit tatsächlich mit Bewegung im Freien verbracht wird und nicht vor der Spielekonsole ist aus meiner Erfahrung auch eher fraglich. Nach anfänglicher Skepsis (wir brauchen Ganztagsbetreuung eigentlich gar nicht), sind wir heute eher überzeugt vom Ganztagskonzept.
Zur Umsetzung dürften die notwendigen Gelder fehlen.
Eine Rückkehr zu G9 bedeutet eine Erhöhung der Klassenzahl in den betreffenden Schulen. Dazu kommt ein Mehrbedarf an Lehrern (ggw. fehlen bereits viele Lehrer). Zudem sind jetzt schon freie Räumlichkeiten in den Schulen eine Mangelware.
Die Philologen sind natürlich nicht darauf eingegangen, was das alles kostet und wer das bezahlen soll. Und damit bin ich wieder bei meinem 1. Satz angelangt.
Man hätte G8 unter pädagogischen und didaktischen Gesichtspunkten niemals einführen dürfen, Experten haben davor gewarnt, aber die Regierung hat es durchgezogen, eher unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, denn diese zählen weitaus mehr als der Mensch. Mit den Folgen muss man sich nun herumschlagen. Die Zeiten sind vorbei, wo “Nachbessern” und “Schönreden” der verkorksten Bildungsreformen den Bürgern als gute Politik vermittelt werden kann.
Nein, die Gelder sind nicht das Problem, das Geld druckt notfalls die EZB. Es fehlt an Personal und an Räumlichkeiten. Und die kann die EZB nicht drucken. Fehlendes Geld war noch nie ein ernsthaftes Problem, wenn die Politik etwas wirklich will (siehe Euro-Rettung und Bundeswehr-Aufrüstung).
Bildung steht momentan nicht ganz oben auf der Dinglichkeitsliste. Ggw. gibt es andere Prioritäten, bei denen die Ausgaben erhöht werden.
Naja. Also als es das G9 noch gab, haben die Räume ja auch ausgereicht. Kenne keine Schule, die nach Einführung von G8 Klassenzimmer abgerissen hätte, weil man plötzlich zu viele Räume hatte.
Die Lehrer – auch hier: Widerspruch.
Es herrscht zwar Lehrermangel. Das Bild muss man aber differenzierter betrachten. Es gibt einen Mangel an Berufsschul- und Grundschullehrerinnen und -lehrern. Am Gymnasium gäbe es genug Personal. Momentan gehen ja viele Referendare am Gymnasium nach dem Referendariat an andere Schulformen.
Die Widereinführung von G9 am Gymnasium würde – was Lehrkräfte angeht – ja eben nur die Gymnasien betreffen.
Naja kurz gedacht schon?
Weiter gedacht fehlen dann natürlich die “Quereinsteiger durch Gym” an den anderen Schulformen? Daher auch hier ein noch höherer Mangel.
Klar die Gymnasien betrifft das dann weniger. (In-)Direkt aber die anderen Schulformen.
Und ich dachte, dass auch bei MINT-Fächern je nach Region die Lehrkräfte schon fehlen? Überhang ist Regions- und Fachabhängig, wenn ich mich nicht täusche? Auch das würde natürlich zunehmen.
Wie sieht es mit den Klassenteilern/Klassenstärken aus? Müssten die dann wieder Raumbedingt erhöht werden? Bei gleich vielen Räumen, aber mehr Schulstufen? Auch das sollte man natürlich mal durchgehen. Da kenne ich mich leider nicht aus. Nur so als Gedanke …
Genau, und bei G9 geht es ausschließlich um das Gymnasium, wo wir ausreichend Lehrer haben sollten.
Haben ALLE anderen Bundesländer auch geschafft.
Es gibt eine weitere Möglichkeit. SuS aus G8 wechseln nach der 10. Klasse auf die Oberstufe einer Gesamtschule oder auf ein Berufliches Gymnasium und haben dann 3 Jahre Zeit für ihr Abi. Dort dürfte das schwierige Klientel dann auch nicht mehr anwesend sein.
Nur plagen sich dann nach wie vor viele von Kl. 5 bis 10 …
Das Leben ist kein Wunschkonzert. Diese Aussage geht ausdrücklich an Eltern, die ihre Kinder nach Klasse 4 in ein G8 wechseln lassen und dann… aufwachen. Es können eben nicht alle Kinder Wirtschafts-/Finanzbosse werden, nur weil sie in der GS eine tolle Einzelleistung erbracht haben und dann mit einer falschen Empfehlung bedacht wurden – oder gar keine haben. G9 ist nicht die Lösung des Elternproblems.
Die Anzahl der SuS, die vom Gymnasium auf ein berufliches Gymnasium wechseln können ist sehr beschränkt. Meines Wissens nach 10% pro Klasse. Das berufliche Gymnasium ist für SuS von den Realschulen und den 2-jährigen Berufsfachschulen gedacht.
So eine Zugangsbeschränkung (10% pro Klasse) kenne ich nicht. Meines Wissens darf jeder auf ein berufliches Gymbasium wechseln, der die entsprechenden Voraussetzungen mitbringt.
Sie wissen aber schon, dass es in Baden-Wü keine Gesamtschulen gibt? Und auch die Gemeinschaftsschulen haben sehr sehr selten eine Oberstufe…
Es ist schon interessant, dass der Philologenverband seine Forderung nicht mit Eigeninteressen begründet, sondern mit dem Ergebnis einer Forsa-Umfrage. Es war in praktisch allen Bundesländern mit G8 nach vorherigem G9 so, dass die Eltern eher für G9 waren. Und einige Bundesländer sind dem dann widerstrebend gefolgt.
Eine Kompromisslösung hatte man mal in Berlin: Da gab es G8 in Form von sog. “Schnelllernerklassen” für besonders leistungsstarke SuS. Alle anderen hatten normalerweise ihr Abitur nach insgesamt 13 Schuljahren, an Gymnasien wie an Gesamtschulen. Nach Einführung von G8 hat man dann einen Eiertanz um diese Schnelllernerklassen aufgeführt (die immer noch so heißen, obwohl sie gar nicht mehr schneller sind) und sie mit “Enrichment” beglückt. Etwas platt gesagt, bedeutet “Enrichment” z.B., dass die talentierten Mathematikschüler sich mit einer Kletterwand beschäftigen oder sich auch der Bienenzucht zuwenden sollen. Ganz besonders schätzt man die sog. “sozialen Begabungen” und wird nicht müde, von Begabtenförderung zu reden (Bega-Schulen, “begabtes Berlin”). Aber gleichzeitig würden die Regierungsfraktionen am liebsten die grundständigen Gymnasialklassen abschaffen und damit ein G6-Gymnasium einführen. Also G6 vs. G9, das macht schon einen gewissen Unterschied. Zum Niveau der Grundschulen vergleiche man die katastrophalen Ergebnisse bei VerA 3.
G9 ist ein Elternproblem (“Mein Kind muss unbedingt aufs Gymnasium”). Ich vermute, dass auch die Einführung des G9 nicht zwingend zu besseren Ergebnissen führen wird. Noteninflation hin oder her, es gibt die 1,0er auch auf G8. Wozu braucht man dann noch ein G9? Bildung kostet Geld und unter der ggw. Bedingung wird wohl kaum mit einer Erhöhung von Ausgaben in diesem Bereich zu rechnen.
Man, es geht doch hier gar nicht um die besseren Ergebnisse bei den Schülern, sondern dass man den Kindern auch mal eine normale Kindheit lässt und sie nicht gleich ins Hasmsterrad (zeitlich) spannt.
Da ist der Ansatz bei den Eltern zu suchen, die ihre Kinder unbedingt auf das G8 anmelden mussten. Es müsste einfach das G8 sein.
Meinte natürlich- unter den ggw. Bedingungen.
“Um ersteinmal Orientierung zu finden” (s.Aussage der Philologen zu SuS nach G8), gibt es neben den dort aufgeführten Beispielen etwas, was auch helfen kann: ein freiwilliger Dienst bei der Bundeswehr, gern auch länger als 1 Jahr.
Ich bin davon überzeugt, dass der Dienst in der BW enorm zur Persönlichkeitsentwicklung beiträgt. Ein G9 allein heisst doch auch nur ein Jahr länger zur Schule zu gehen, mehr aber auch nicht.
Ja, so gesehen trägt irgendwie alles zur Persönlichkeitsbildung bei, aber der Dienst an der Waffe muss es dafür nicht gleich sein. Diese ewige Zwischenschieben von vorübergehenden Aktivitäten (hier mal ein Jahr arbeiten, da mal ein Jahr arbeiten) ist doch ein riesiges Problem. Man lernt dabei nix wirklich richtig. Schon gar nicht in der Bundeswehr.
Befehl und Gehorsam ist für viele eine ganz neue Welt.
Auch bei der Bundeswehr gibt es Studien- bzw. Fortbildungsmöglichkeiten.
Echt, was testen die Fraggles da eigentlich…