Religionswissenschaftlerin: Ethikunterricht erfüllt vielerorts die Lehrplan-Ansprüche nicht

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LEIPZIG. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Leipzig und Hannover haben die Situation des religionskundlichen Unterrichts an Schulen untersucht – und kommen zu „unbefriedigenden“ Ergebnissen. Im Interview erläutert die Religionswissenschaftlerin Katharina Neef die Ergebnisse.

„Ein religionskundlich informierter Zugang nimmt Religionen als Teil von Lebenswelten in konkreten Gesellschaften ernst“. Foto: Shutterstock

Obwohl es nahezu alle Lehrpläne in Deutschland vorsehen, erhalten nur wenige Schülerinnen und Schüler in Deutschland eine konsequente religionskundliche Grundbildung auch aus nicht-religiöser Perspektive, wie eine Studie unlängst ergab (News4teachers berichtete). Die Religionswissenschaftlerin Katharina Neef von der Universität Leipzig äußert sich dazu im Interview.

Frau Dr. Neef, Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen haben untersucht, welche Rolle Religionskunde an deutschen Schulen spielt. Wie verbreitet ist Unterricht, in dem Schülerinnen und Schüler etwas über Religionen lernen, der aber nicht an eine bestimmte Konfession gebunden ist?

Neef: Auf diese Frage gibt es zwei Antworten: eine einfache und eine etwas komplexere. Einfach gesagt gibt es in fast allen deutschen Bundesländern ein Fach für Schülerinnen und Schüler, die aus Gewissensgründen vom konfessionellen Religionsunterricht abgemeldet sind – ein sogenanntes „Ersatzfach“. In den alten Bundesländern gibt es diese Fächer seit den 1970er-Jahren, in den neuen Bundesländern seit Anfang der 1990er-Jahre. Und fast alle Lehrpläne sehen hier eine religionskundliche Grundbildung vor, das heißt die Vermittlung von Kenntnissen über große religiöse Traditionen und Religion aus einer nicht-religiösen Perspektive. Letzteres ist insofern wichtig, als dass so eine negative Religionsfreiheit umgesetzt wird: Während der Religionsunterricht einen Raum für das religiöse Bekenntnis eröffnet, bietet der Ethikunterricht einen Raum für diejenigen, die das nicht möchten.

Die komplexere Antwort lautet, dass diese Unterrichte bis heute nicht in allen Bundesländern konsequent umgesetzt sind. Während zum Beispiel in den meisten neuen Ländern Ethik von der 1. bis zur 12. Klasse angeboten wird, bieten manche Bundesländer in der Grundschule keinen Ersatz an und betroffene Kinder werden gar nicht oder „irgendwie“ beschult. Unser Handbuch zeigt zudem sehr anschaulich, dass Ausmaß und Weise, wie über Religion gesprochen wird, sehr unterschiedlich sind. Das spiegelt sich auch in der Lehramtsausbildung, in der religionskundliche Inhalte zum Teil gar nicht oder nur sehr marginal vorkommen. Aber von den Lehrkräften wird dann erwartet, dass sie später den ganzen Lehrplan umsetzen.

In Ihrem Buch wird die Situation des Religionskunde-Unterrichts für jedes Bundesland noch einmal separat analysiert. Wie groß sind die regionalen Unterschiede und worauf führen Sie diese zurück?

Neef: Das klang schon an: Die regionalen Unterschiede sind enorm. Salopp gesprochen haben wir 16 Bundesländer und 17 Regelungen … Während der Religionsunterricht ja grundgesetzlich verbürgt ist (Artikel 7), sind die Ethikunterrichte Ländersache. Und hier entwickelten sich unterschiedliche Pfade: In den westdeutschen Flächenländern sehen wir eher einen Trend zur Diversifizierung, hier wurde eine Vielzahl von Religionsunterrichten für religiöse Minderheiten eingeführt (zum Beispiel freireligiöser, alevitischer, christlich-orthodoxer oder mennonitischer Unterricht) – im Gegenzug ist der Ethikunterricht als Alternative zum Religionsunterricht nicht weiter gestärkt worden. Trotz der Einführung dieser Fächer in den 1970ern wurden entsprechende Lehramtsstudiengänge teilweise erst in den 1990er-Jahren oder nach der Jahrtausendwende eingeführt und Lehrkräfte unterrichteten bis dahin oft fachfremd oder der Unterricht fiel ganz aus.

In den neuen Bundesländern war die Situation anders, da hier die Abmeldequote erwartungsgemäß so hoch war, dass man einen vollwertigen Ersatz anbieten musste – in Sachsen etwa besuchen cirka drei Viertel der Kinder und Jugendlichen den Ethikunterricht. Und obgleich Religionskunde, also die Information über Religionen, einen wichtigen Teil des Lehrplans ausmacht, werden diese Kenntnisse in den Studiengängen nur wenig vermittelt,  und es zeigt sich in der Praxis oft sehr viel Unsicherheit darüber, über Religion(en) zu sprechen.

Im Klappentext Ihres Handbuches ist zu lesen, dass Religionskunde im deutschen Schulsystem theoretisch zwar eingefordert wird, praktisch aber weitgehend eine Leerstelle darstellt. Was würden Sie sich diesbezüglich von der Bildungspolitik wünschen?

Neef: In Zeiten des umfassenden Lehrkräftemangels kann man sich viel wünschen – und muss wohl erst einmal froh sein, wenn vor den Klassen ausgebildete Lehrkräfte stehen.
Aber wenn Sie so fragen, dann wünschen wir uns zweierlei: zunächst eine Abkehr von der „Ersatzfach“-Rhetorik. Diese ist noch zu sehr der Situation der „alten Bundesrepublik“ verhaftet, in der in manchen Regionen diese Angebote tatsächlich nur Einzelfälle ansprachen. Mittlerweile sprechen sie einen signifikanten Teil der Bevölkerung an.

Und zum Zweiten wünschen wir uns die Erkenntnis, dass, wenn Religion schon einmal Gegenstand dieser Fächer ist, dieser auch produktiv eingebunden wird. In vielen Fachkonzepten bleibt Religion etwas sehr Altes, Fremdes oder sogar Skurriles, zum Beispiel wenn über Gottesbeweise gesprochen wird oder Islam und Buddhismus als exotische, fremde Religionen präsentiert werden. Ein religionskundlich informierter Zugang dagegen nimmt Religionen als Teil von Lebenswelten in konkreten Gesellschaften ernst, er begreift sie nicht nur als geistige, sondern auch als soziale Phänomene und bietet so auch die Möglichkeit, die Dinge aus mehreren Perspektiven zu betrachten – eine wichtige Bedingung für die auch oft in den Fächern angestrebte Toleranzerziehung. Katrin Henneberg führte das Interview

Wissenschaftliches Gutachten: Ethik-Unterricht nimmt Religion oft nicht ernst genug

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9 Kommentare
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Ron
1 Jahr zuvor

Irgendwann muss man sich ehrlich machen und anerkennen, dass Religion in unserer Gesellschaft keinen herausragenden Stellenwert mehr hat, der es legitimieren würde, Religion als durchgehendes (quasi) Pflichtfach an den allgemeinbildenden Schulen zu unterrichten. Religionsunterricht ist ein geschichtliches Konstrukt und gehört dringend auf den Prüfstand. Auch Ethik bedarf keines eigenständigen Unterrichts, da es in vielen Unterrichtseinheiten wie z.B. im Literaturunterricht, in Geschichte oder Erdkunde, auch Kunst, Musik und einigen Biologiethemen bereits mitgedacht wird. Ich glaube sogar, dass die Behandlung eines Buches wie ‚Damals war es Friedrich“ oder „Anne Frank“ weit über die Möglichkeiten eines faktisch orientierten Ethikunterrichts hinausgeht, da sich in der Literatur sachliches Erfahren und sinnliches Erfassen gegenseitig katalysieren.

laromir
1 Jahr zuvor
Antwortet  Ron

Wenn sie das glauben, sind sie über die Inhalte des Ethikunterrichts schlecht informiert. Denn dort werden alle von Ihnen genannten Punkte (inkl. Religion) ausführlich behandelt und zwar unter ethischer und nicht literarischer oder biologischer Sicht. Ebenfalls werden Lektüren gelesen und wichtige Positionen von der Antike, über die Aufklärung bis zur heutigen Zeit durch gesprochen. Von Religion und Mythen, Staatsphilosophie, Liebe, Tod, Glück bis hin zu Mobbing, Technikfolgenabschätzung und Bioethik ist alles mit dabei. Welches Fach deckt ein so breites Spektrum über die meisten Fächer hinweg ab? Welches Fach ist für den Alltag wirklich für jeden relevant? Welcher Mensch will nicht glücklich sein? Wer wird nie von Tod und Trauer betroffen sein? Diese und viele weitere Fragen kann man sich stellen. Warum verlangen wir auf der einen Seite soziales, moralische richtiges Verhalten und reden auf der anderen Seite immer so abwertend über ein Fach, das eben genau dieses Verhalten in der Schule und bestenfalls für die Gesellschaft fördern soll. Zudem werden wahrscheinlich in der Sek II in Ethik mit die anspruchsvollsten Texte gelesen (z.B. Kant). Und man kann es drehen wie man will, es gibt in der Gesellschaft religiöse Menschen. Bestes Rezept, um Vorurteile abzubauen, ist den anderen in seinem Glauben oder auch nicht Glauben bestenfalls halbwegs zu verstehen, mindestens mal zu tolerieren.

Last edited 1 Jahr zuvor by laromir
Ron
1 Jahr zuvor
Antwortet  laromir

Sie haben mich nicht ganz richtig verstanden. Ich sprach bei Literatur über Prosa und nicht über Sachtexte. Gerne gebe ich Ihnen übrigens recht, dass der Ethikunterricht in der Sek2 seinen Wert hat. Ich hatte da vielleicht zu sehr meinen Blick auf Sek1 und Grundschule.

Anvi
1 Jahr zuvor
Antwortet  Ron

Das sehe ich genauso. Kein anderes Nebenfach wird so viel und durchgehend unterrichtet. Selbst an der Berufsschule, wo nur an 1-2 Tagen Unterricht stattfindet, wird man hier als Atheist zu Bibelkunde und Heiligengeschichten genötigt. Als gäbe es nicht Wichtigeres.

Dil Uhlenspiegel
1 Jahr zuvor

Gott würde Ethik wählen. Mein Glaube.

Inge M.
1 Jahr zuvor

Dass Kinder in konfessionelle Schulen gesteckt und somit separiert werden, ist in der Tat ein seltsames soziales Phänomen, das unterschiedlicher Perspektiven bedarf:
Wieso muss man in eine weiter entfernte Schule gehen, bloß weil die nächstgelegene Schule vor der Haustür einer anderen Konfession gehört? Wieso geht der beste Freund auf eine andere Grundschule, obwohl man im selben Haus wohnt?
Inwiefern ist der Deutschunterricht an einer katholischen Schule anders als an einer evangelischen?

Prolog
1 Jahr zuvor

Ich hatte Ethik mit 26 SuS, einige davon sprachen deutsch. Die ersten 2UE habe ich sechs Wochen zu unterrichten versucht. Solide!

Finagle
1 Jahr zuvor

Derzeit dürfte die Diagnose „Unterricht erfüllt die Lehrplan-Ansprüche nicht.“ mehr als nur das Fach Ethik betreffen.

PaPo
1 Jahr zuvor

„Und zum Zweiten wünschen wir uns die Erkenntnis, dass, wenn Religion schon einmal Gegenstand dieser Fächer ist, dieser auch produktiv eingebunden wird. In vielen Fachkonzepten bleibt Religion etwas sehr Altes, Fremdes oder sogar Skurriles, zum Beispiel wenn über Gottesbeweise gesprochen wird […].“

Hier bedeutet „produktiv eingebunden“, dass im Rahmen von Wissenschaftspropädeutik i.V.m. einem zentralen teleologischen Agens von Schule, Schüler zu eigenverantwortlichen, auch i S.v. (hinreichend) gebildeten, selbstreflexiven, logisch denkenden Menschen zu erziehen, die vermeintl. Gottesbeweise, egal ob kosmologisch, ontologisch oder teleologisch, egal ob vom Aquinaten, Anselm von Canterbury, Blaise Pascal oder sonstwem, als intellektuell unredlich (unlogisch, basierend auf falschen Prämissen/Axiomen etc.) auch konsequent dekonstruiert werden – so wie sie alle bereits vor Ewigkeiten dekonstruiert wurden -, dass evident wird, dass diese vermeintl. Beweise letztlich jeden Theismus negieren und selbst einen Deismus nicht nahelegen?

Denn das wäre es doch, worauf so eine Thematisierung hinauslaufen müsste: Die Erkenntnis, dass diese vermeintl. Gottesbeweise „etwas sehr Aktes […] und Skurilles“, ja Ridiküles sind.

Worauf will K. Neef hier hinaus?
Wir lassen ja auch nicht im Biounterricht kreationistischen Unsinn als Alternative zur Evolutionstheorie (unkommentiert) bestehen.