“Zweite Chance”: Wie Schulverweigerer wieder an den Unterricht herangeführt werden

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WIESBADEN. Schulverweigerung ist ein bundesweites Problem. Allein in Hessen, wie ein beispielhafter Blick in das Bundesland zeigt, gab es im vergangenen Jahr Tausende Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Schulpflichtverletzungen. Mit speziellen Hilfen sollen die Jugendlichen wieder ins System integriert werden.

Schulverweigerung hat tieferliegende Ursachen als bloße Lustlosigkeit. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

«Das Problem Schulvermeidung zieht sich durch alle Schichten», sagt Detlev Barth. Der Sozialpädagoge begleitet von Beginn an das seit 2009 bestehende Programm «Schulverweigerung – die 2. Chance». Die Hilfe richtet sich an Schülerinnen und Schüler ab zwölf Jahren in der Stadt Kassel, die schulmüde sind und aktiv oder passiv den Unterricht verweigern.

«Wir haben im Stadtgebiet etwa 80 bis 90 permanente Schulverweigerer», berichtet Udo Pfingsten, Leiter des Kasseler Jugendamtes. Ausprägung und Gründe der Schulabstinenz seien vielfältig, erläutert Barth. Manche Jugendliche seien im Unterricht zwar anwesend, beteiligten sich aber nicht. «Oder sie bleiben der Schule aus inhaltlich nicht nachvollziehbaren Gründen fern, indem sie etwa wegen einer Bagatellerkrankung lange fehlen. Das kommt relativ häufig vor», sagt Barth. Dann spreche man von passiver Schulvermeidung.

Wenn die Jugendlichen wiederholt und/oder über einen längeren Zeitraum unentschuldigt fehlten oder anwesend seien und den Unterricht durch Störungen verweigerten, spreche man von aktiver Schulvermeidung. Schulverweigerer seien nicht faul, betont Barth. Ihr Verhalten habe immer Gründe, meist gebe es familiäre Probleme. Die Corona-Pandemie habe die Problematik noch verstärkt. «Schüler, die vorher schon Schwierigkeiten hatten, haben dann gar nichts mehr gemacht.»

Individuelle Unterstützung für Schulvermeider

Mit der Hilfeform «Die 2. Chance» soll den Jugendlichen wieder eine schulische Perspektive gegeben werden. Dazu entwickeln Barth und seine drei Kolleginnen und Kollegen in Zusammenarbeit mit den Jugendlichen, ihren Eltern und den Klassenlehrerinnen und -lehrern individuelle Unterstützungsangebote.

Die Anfrage käme meist von den Schulen, berichtet der Sozialpädagoge. «Dann gibt es ein Erstgespräch mit dem Jugendlichen und den Eltern in der Schule, das, wenn gewollt, in einer längerfristigen Betreuung von ein bis zwei Jahren mündet.» Zu dem Zeitpunkt stünden oft schon Ordnungsmaßnahmen im Raum oder seien bereits verhängt worden. «Nicht jede Anfrage wird auch eine Betreuung», sagt Barth. Im vergangenen Jahr etwa habe es 70 Anfragen, 165 Beratungstermine und 21 längerfristige Betreuungen gegeben.

«In Rahmen der Betreuung machen wir sehr viel Freizeitgestaltung mit den Jugendlichen, begleiten und unterstützen sie in alltäglichen Dingen», schildert Barth. Das seien manchmal ganz einfache Dinge wie schwimmen gehen. «Wir gehen auch in die Familien. Wir möchten die Jugendlichen kennenlernen, Vertrauen auf- und Ängste abbauen. Irgendwann kommen die Probleme dann auf den Tisch.»

Ziel ist Schulabschluss

Ziel sei es, die Verweigerer wieder in das Schulsystem zurückzuführen und sie so zu stärken, dass sie die Schule selbst bewältigen könnten und nicht von Problemen abgelenkt würden. «Das funktioniert nicht immer, aber oft.» Zumindest könnten sie so stabilisiert werden, dass sie die Schule schafften. «Unser Motto ist: Keiner geht verloren», sagt Jugendamtseiter Pfingsten. Kassels Bürgermeisterin und Jugenddezernentin Nicole Maisch ist überzeugt von der Hilfe. «Es wäre schon ein Erfolg, wenn wir einen Schüler erreichen, aber wir erreichen sehr viele mehr», sagt die Grünen-Politikerin.

Auch in Marburg setzt man nach Angaben der Stadt neben Prävention etwa durch Schulsozialarbeit auf die individuelle Betreuung schulabstinenter Jugendlicher. Sie werden dort bis zu einem Jahr lang durch ein Team des Projektbüros «Die 2. Chance» begleitet. «Für Jugendliche, die nicht mehr in das Regelschulsystem integriert werden können, gibt es außerdem die Flex-Fernschule», erklärt eine Pressesprecherin der Stadt. Anders als in der Schule lernen die Jugendlichen dabei in ihrer vertrauten Umgebung und arbeiten im individuellen Tempo. Das Angebot im Rahmen der Jugendhilfe ermögliche es, die Förderung individuell an den Lernstand und die Bedürfnisse der Jugendlichen anzupassen. «Ziel ist eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft und das Bildungssystem.»

Überdies habe das Staatliche Schulamt die Schulen dazu angehalten, Verstöße gegen die Schulpflicht schneller zu melden, damit nötigenfalls ein Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet werden könne. «So kann intensiver und systemübergreifend gehandelt werden. Das Ordnungswidrigkeitsverfahren führt unter anderem zu einer offiziellen Ermahnung, einer Bußgeldstrafe und leitet zudem Hilfeleistungen sowie beratende Gespräche ein.»

Alternativer Unterricht

In Offenbach werden Schulverweigerer nach Angaben des zuständigen Staatlichen Schulamtes im Rahmen des Projekts «Scout» ein Jahr lang in einem alternativen Schulprogramm unterrichtet. Zudem kümmere sich das «Netzwerk-Schulabsentismus» der Stadt bestehend aus dem Allgemeinen Sozialen Dienst, der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Jugendhilfe an Schule und der Schulpsychologie zur Förderung des institutionellen Austauschs um die Problematik.

Es gebe zusätzlich Abrufangebote der Schulpsychologie für Schulen zur Unterstützung bei der Erstellung von schulischen Konzepten im Umgang mit Schulabsentismus sowie schulpsychologische Beratung im Einzelfall auf Basis der Handreichung «Pädagogisch-psychologische Maßnahmen zum Umgang mit Schulvermeidung» des hessischen Kultusministeriums.

In Hanau und dem Main-Kinzig-Kreis gibt es der Stadt zufolge ein gut funktionierendes Netzwerk unter anderem aus Schule, Beratungsstellen, Jugend- und Berufshilfe und dem kinderärztlichen Dienst. Man wolle zudem aktuell verstärkt auf die Problematik Schulverweigerung hinweisen und Hilfe anbieten. Dazu solle in Kürze ein neuer Flyer veröffentlicht werden, der unter anderem in Schulen und bei Kinderärzten ausliegen werde.

Rund 4.800 Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Schulpflichtverletzung

Dem hessischen Kultusministerium zufolge sind im vergangenen Jahr landesweit 4.811 Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen sogenannter Schulpflichtverletzungen eingeleitet worden. Zum Vergleich: 2022 waren es 4.944, 2019 verzeichnete das hessische Kultusministerium 5.052 Verfahren, von denen sich mehrere auf einen Menschen beziehen können.

Entscheidend im konkreten Einzelfall sei stets die frühzeitige Identifikation und Analyse von Fehlzeiten, die Klärung der Ursachen von Schulvermeidung und die Entwicklung eines gezielten professionellen Unterstützungsplans für die betroffenen Schülerinnen und Schüler zum Beispiel mit Hilfe schulpsychologischer Beratung, erklärt eine Sprecherin. «Darüber hinaus legen wir einen Schwerpunkt auf präventive Maßnahmen, die darauf abzielen, ein positives Schulklima zu fördern und ein gesundes Schulumfeld zu schaffen, in dem alle Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben, ihre körperliche und psychische Gesundheit zu entwickeln und zu erhalten.» News4teachers / mit Material der dpa

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3 Kommentare
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Fräulein Rottenmeier
15 Tage zuvor

Schulabsentismus fängt manchmal schon in der Grundschule an. Oft sehr schleichend und von den Eltern unterstützt, die ihr Kind, wenn es über Bauchschmerzen (oft Sonntagabend) klagt oder ein anderes „Wehwehchen“ (ich will das gar nicht kleinreden) klagt, am nächsten Tag zuhause lassen. Aus einer Ausnahme wird dann manchmal eine Routine. Solange die Eltern ihr Kind aber entschuldigen, kann Schule erstmal wenig machen. Es dauert auch erst ziemlich lange, dass ein übermäßiges Fehlen als Problem wahrgenommen und angesprochen wird. Meist reagieren die Eltern aber eher verständnislos und versuchen das Problem kleinzureden oder zu negieren. Da braucht es von Seiten der Schule Durchhaltevermögen und eine beharrliche Ansprache, damit Eltern erkennen, dass sie ihrem Kind nichts gutes tun. Auch sanfter Druck, z.B. ein Brief, indem über die Schulpflicht aufgeklärt wird und auch Konsequenzen aufgezeigt werden, helfen oft. Zudem ist die Schule berechtigt, ärztliche Atteste einzufordern, allerdings spielen da die Kinderärzte leider nicht mehr mit (berechtigt, aber kontraproduktiv). Auch das Hinzuziehen von Schulpsychologen bedarf einer Einverständniserklärung der Eltern….allerdings können sich Lehrer anonym beraten lassen….
Bußgeldverfahren habe ich in den letzten Jahren einige beantragt, aber da wurde das Kind einfach nicht zur Schule geschickt, nicht abgemeldet, nicht entschuldigt und die Eltern waren nicht erreichbar. Das ging aber in 100% der Fälle von den Eltern aus, die nicht einsehen wollten, dass es so etwas wie eine Schulpflicht überhaupt gibt. Genau da hilft dann auch ein Bußgeld, denn es geht konkret an den Geldbeutel (und der Schulträger ist da sehr regide, wenn um das Eintreiben des Geldes geht).

Lisa
14 Tage zuvor

Ich selber habe nie erlebt, dass hinter Absentismus keine massiven Probleme stecken. Manchmal so Gravierende, dass “nicht in die Schule gehen” noch das kleinste Problem ist.

Lisa
14 Tage zuvor

Eigentlich sollte Schule wie im Artikel beschrieben für alle Schüler so sein. Individualisierung gibt es jedoch erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist.