„Diese Freiheit funktioniert“– Montessori-Landesvorstand Manfred Burghardt im Interview

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DÜSSELDORF. Von der Schulgründungsberatung bis hin zur Lobbyarbeit: Manfred Burghardt bearbeitet als geschäftsführender Vorstand beim Montessori Landesverband Bayern e.V. und Vorstandsmitglied des Montessori Bundesverbands Deutschland ein vielfältiges Aufgabenspektrum. Seit rund 20 Jahren engagiert sich der Agraringenieur mit Leidenschaft für die Montessori-Pädagogik. Warum? Darüber sprachen wir mit ihm im Interview.  

Manfred Burghardt kam über seine eigenen Kinder mit der Montessori-Pädagogik in Berührung. Seit rund zwei Jahrzehnten setzt er sich auf Landes- und Bundesebene für kind- und jugendlichengerechte Bildung ein. Foto: Montessori Deutschland

News4teachers: Herr Burghardt, Sie sind selbst kein Pädagoge und haben auch als Schüler nie eine Montessori-Schule besucht. Warum haben Sie trotzdem so eine starke Verbindung zur Montessori-Pädagogik?

Manfred Burghardt: Diese Verbindung kommt durch meine Kinder. Ich selber habe das klassische bayerische Schulsystem durchlebt, und habe mir damals ausgerechnet, welche Noten ich erreichen und was ich tun muss, damit ich mein Abitur schaffe. Das war rückblickend keine besonders schöne Erfahrung. Nach dem Studium bin ich Gartenbauingenieur geworden. Etwa im Jahr 2000 kam ich zum ersten Mal mit der Montessori-Pädagogik in Berührung, als zunächst mein Sohn und im Anschluss meine Tochter ein Montessori-Kinderhaus besuchten. Hier hatte ich zum ersten Mal den Gedanken: Es gibt noch etwas anderes als die Regelschule. Und so sind letztlich alle Kinder unserer Patchwork-Familie den Montessori-Weg gegangen.

News4teachers: Was ist denn aus Ihrer Sicht anders und besser an einer Montessori-Schule?

Burghardt: Für mich, der selbst keinen pädagogischen Hintergrund hat, geht es darum, Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu schaffen, ihren eigenen Weg zu gehen. Das habe ich bei meinen Kindern erleben dürfen: Kinder sind so unterschiedlich, ihre Wege sind so verschieden und es ist spannend zu sehen, wie sie sich individuell zu jungen Erwachsenen entwickeln, die fest im eigenen Leben stehen und wissen, was sie wollen.

News4teachers: Haben Sie dafür ein Beispiel?

Burghardt: Mein Sohn hat sich schon immer intensiv mit Zahlen beschäftigt. Für ihn ging es immer nur um Zahlen, Zahlen, Zahlen. In der Montessori-Schule konnte er seine Faszination ausleben und war deshalb bereits in der Grundschule im Bereich Mathematik recht weit. Sprache wiederum interessierte ihn nicht so sehr. Die Pädagog:innen konnten dieses Interesse aber in ihm wecken, indem sie ihm Angebote gemacht haben. Der Grundsatz für die Kinder lautete: ‚Wo du Interesse hast, mach weiter, vertiefe es und wir helfen dir dabei. Vergiss jedoch nicht, dass es auch noch andere Bereiche gibt – auch dort unterstützen wir dich.‘ In der Montessori-Pädagogik geht es darum, Interesse für alle Dinge zu wecken, die Kinder zu motivieren und sich dabei eben nicht am Schulgong zu orientieren und nacheinander Fächer abzuarbeiten.

News4teachers: Und das funktioniert?

Burghardt: Ja, diese Freiheit funktioniert. Auch später in der Pubertät, wenn Schule in den meisten Familien zum Streitpunkt wird, merkt man, dass die Kinder auf Basis dieser Vertrauensebene trotzdem gerne lernen. Und dass sie, auch wenn sie auf ihre eigene Weise lernen, einen Schulabschluss machen können. In Bayern machen Schülerinnen und Schüler ihren Abschluss noch nicht an der Montessori-Schule, sondern an einer staatlichen Prüfungsschule. Die Vergleichbarkeit ist also gegeben. Alle meine Kinder haben ihren Schulabschluss mit Bravour gemeistert. Es gab nie das Problem, dass sie Lücken gehabt hätten oder sie schlechter gewesen wären als Gleichaltrige an der Regelschule. Sie konnten den Unterrichtsstoff und hatten außerdem Teamfähigkeit gelernt, weil Altersmischung an Montessori-Schulen zum Alltag gehört. Sie haben gelernt, in Gruppen zu agieren und Lerninhalte weiterzugeben. Also die Dinge, die man fürs Leben braucht.

News4teachers: Sie sind aber nicht bloß Vater geblieben, sondern haben dann auch angefangen, sich für die Montessori-Pädagogik zu engagieren.

Burghardt: Ja, das war dann im Jahr 2005, als ich ehrenamtlich an der Montessori-Fachoberschule München geholfen habe, den Agrarwirtschaftszweig aufzubauen. Dort konnte ich mein Wissen als Agraringenieur einbringen. Ich war begeistert davon, dass die Montessori-Schule die Kinder so angenommen hat, wie sie sind. Als 2010 die Stelle beim Montessori-Landesverband Bayern als Geschäftsleiter ausgeschrieben wurde, habe ich mich beworben, auch weil ich vorher schon in einem anderen Verband in der Beratung gearbeitet habe. Inzwischen bin ich sowohl hauptamtlich im Vorstand von Montessori Bayern, zusammen mit Monika Ullmann, als auch seit circa sieben Jahren im Vorstand von Montessori Deutschland. Zu meinen Aufgaben gehören vor allem die politische Lobbyarbeit, aber auch die Beratung und Vernetzung im Innern.

News4teachers: Haben Sie das Gefühl, dass das Interesse an der Montessori-Pädagogik in den letzten Jahren gestiegen ist, auch von Seiten der Lehrkräfte?

Burghardt: Ich spreche jetzt für Bayern, aber in anderen Bundesländern ist es ähnlich: Unser Problem ist, dass die Verbeamtung an staatlichen Schulen eine Sicherheit und Altersvorsorge für Lehrkräfte bietet, die ein freier Schulträger nicht bieten kann. Wir haben also grundsätzlich nicht die gleichen Voraussetzungen. Auch wenn Pädagog:innen an Schulen in freier Trägerschaft mehr Freiheiten als im staatlichen System haben, entscheiden sich die meisten doch für die Sicherheit. Trotzdem haben wir auch viele Pädagoginnen und Pädagogen, die den Beamtenstatus abgeben und sagen: ‚Ich will raus aus dem Regelschulsystem. Ich möchte den Kindern ihren eigenen Weg ermöglichen, ohne die vielen Zwänge.‘ Es kommen viele Lehrkräfte schon vor dem Ende ihres Referendariats, weil sie merken, dass sie doch lieber an einer reformpädagogischen Schule unterrichten wollen. Denn selbst wenn eine Schule im staatlichen Schulsystem sagt, sie möchte die Montessori-Pädagogik umsetzen, wird das in Bayern nur bedingt klappen, weil es noch immer noch den 45-Minuten-Takt, Prüfungen und Noten gibt.

News4teachers: Ein bisschen Montessori geht also nicht?

Burghardt: Das Problem ist, dass der Begriff „Montessori“ nicht geschützt ist. Deswegen ist immer die Frage, was jemand meint, wenn gesagt wird: ‚Ich mache Montessori-Pädagogik.‘ Mit dem Qualitätsrahmen haben wir deshalb nun Standards festgelegt, die Montessori-Einrichtungen bei der Reflexion und Umsetzung ihrer Arbeit unterstützen. Natürlich können sich auch Regelschulen daran orientieren. In den letzten 20 Jahren haben gerade im Bereich Sprachentwicklung und Mathematik Montessori-Materialien und -Methoden dort Einzug gehalten. Allerdings ist es für Regelschulen angesichts der Rahmenbedingungen im staatlichen bayrischen Schulsystem kaum möglich, Montessori-pädagogische Standards, die als Basis die freie Entfaltung der Kinder haben, vollumfänglich umzusetzen. In einigen anderen Bundesländern gibt es aber staatliche Schulen mit Montessori-Profil, die sich die Freiheit quasi erkämpft haben, Montessori-Pädagogik umzusetzen.

News4teachers: Kommen denn regelmäßig Schulen oder engagierte Pädagogen zu Ihnen als Verband, die gerne eine Montessori-Schule gründen würden und Unterstützung benötigen?

Burghardt: Ja, die Gründungsberatung macht zurzeit einen Großteil meiner Arbeit aus. Es gibt in fast jedem Bundesland einen Montessori Landesverband, der für die Beratung von Schulen zuständig ist, weil Bildung nun einmal Ländersache ist. Wir in Bayern haben jedes Jahr im Schnitt eine Schule, die neu an den Start geht und die wir im Prozess betreuen. Zurzeit sind es vier, fünf Gründungsinitiativen, die sich auf den Weg machen. Das hat sich auch in den letzten Jahren verstärkt – woran auch erkennbar wird, dass das Interesse insgesamt steigt.

News4teachers: Wie muss ich mir das vorstellen? Wer kommt da zu Ihnen und wie läuft so eine Neugründung ab?

Burghardt: Allgemein sind Montessori-Schulen in den meisten Bundesländern in freier Trägerschaft. So ein freier Schulträger könnte beispielsweise auch die Kirche oder ein Wohlfahrtsverband sein, aber im Regelfall sind es Elterninitiativen, die sagen: ‚Wir möchten eine andere Schule für unsere Kinder.‘ Viele Anfragen, die wir im Landesverband Bayern bekommen, erledigen sich schon im ersten Telefonat. Die Leute merken schnell, welchen Aufwand eine Schulgründung bedeutet und auch, wie viel Geld man mitbringen muss – weil es am Anfang kaum eine Refinanzierung durch den Staat gibt. Aber wenn sich Eltern entscheiden, diesen Weg zu gehen, gründen sie in der Regel einen Verein, der dann Träger vom Kinderhaus oder der Montessori-Schule wird. Wir beraten sie auf ihrem Weg, wenn sie das möchten. Vor allem zu Beginn gibt es viele Fragen: juristische und arbeitsrechtliche Fragen, Fragen zum Schulalltag und so weiter. Auch das muss man sich einmal deutlich vor Augen führen: Wenn ich einen Verein mit einem ehrenamtlichen Vorstand gründe und eine Schule betreibe, habe ich relativ schnell Umsätze im Millionenbereich und Personalverantwortung wie in einem mittelständischen Unternehmen mit 50, 60 Mitarbeiter:innen. Da macht es in der Regel Sinn, irgendwann einen hauptamtlichen Vorstand einzusetzen. Auch auf diesem Weg berate ich beim Landesverband Bayern.

News4teachers: Sie haben zu Beginn gesagt, dass eine Ihrer Aufgaben auch die politische Lobbyarbeit ist. Was bedeutet das?

Burghardt: Unser Ziel in allen Bundesländern ist es, den Schulen in freier Trägerschaft mehr Gewicht zu geben. In Bayern gehen ungefähr 14 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in eine freie Schule. Das sind rund 200.000 Schülerinnen und Schüler. Und mit Blick auf den Montessori-Bundesverband ist es uns enorm wichtig, dieser wertvollen Pädagogik für Kinder eine Stimme zu geben. In Bayern profitieren wir davon, dass es schon sehr früh eine Professionalisierung gegeben hat, und das wollen wir auf Bundesebene auch erreichen. Wir brauchen ein gemeinsames Sprachrohr, um mehr bewegen zu können. Um gemeinsam etwas Positives aufzubauen. Ich würde auch sagen, der Kontakt zu den Kultusministerien war in den letzten Jahren überwiegend positiv, und trotzdem ist es so, dass wir sozusagen der natürliche Feind des staatlichen Schulwesens sind. Deshalb müssen wir viel Überzeugungsarbeit leisten.

News4teachers: Stellen Sie sich vor, Sie dürften das aktuelle Schulsystem umgestalten und Entscheidungen treffen. Was würden Sie verändern?

Burghardt: Es ist schwierig, einen einzelnen Aspekt herauszugreifen. Für mich ist der Gleichschritt, den es im staatlichen Schulsystem gibt, nicht kind- und jugendlichengerecht. Wir brauchen insgesamt mehr Individualität. Wenn wir auf die Hattie-Studie schauen, sehen wir, dass Lernen immer auch in Beziehung stattfindet. Wenn man also aus dem Gleichschritt herausgeht und Lernen über Beziehung möglich macht, dann wäre Kindern und Jugendlichen schon viel geholfen. So lernen sie Teamfähigkeit, Eigenmotivation und all die Skills, die die Wirtschaft von Schulabgängern erwartet. Aber solange sich alles im Gleichschritt bewegt, ich nächsten Mittwoch eine Klausur schreibe, dann noch zwei Referate halte, Hausaufgaben machen muss, und alles bewertet wird, schaue ich nur darauf, wie ich gut durchkomme. So lerne ich nicht das Lernen – das ist jedoch etwas, was meine Kinder können. Sie haben mir voraus, dass sie ihren Weg des Lernens gelernt haben. Und ich glaube, sie gehen dadurch mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein durch ihr Leben. News4teachers, Laura Millmann/Agentur für Bildungsjournalismus führte das Interview.

Zur Person

Manfred Burghardt hat an der Technischen Universität (TU) in Weihenstephan Gartenbauwissenschaften studiert und über 14 Jahre als Agraringenieur gearbeitet. Ab 2010 war er Geschäftsleiter und seit 2015 ist er geschäftsführender Vorstand bei Montessori Landesverband Bayern e.V., zu dem circa 120 Träger als Mitglieder gehören. Er ist außerdem Vorstandsmitglied bei Montessori Deutschland.

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Philine
1 Monat zuvor

Die Montessori-Pädagogik wird hier immer so überaus positiv bewertet – sollte sie nicht endlich flächendeckend eingeführt werden, wenn es dabei nur Vorteile gibt? Ich frage für eine Freundin, eine eher gestresste Lehrerin an einer staatlichen Schule.

Hannah Halloumi
1 Monat zuvor
Antwortet  Philine

Vielleicht ist ja dieser Podcast etwas für Dich bzw. Deine gestreßte Freundin, mit Heinz-Elmar Tenorth, der viel über Bildungsgeschichte und die Reformpädagogik des 19. und 20. Jahrhunderts geforscht hat:

https://kritisches-denken-podcast.de/episode-66-reformpaedagogik-in-der-praxis-prof-dr-heinz-elmar-tenorth/

Alese20
1 Monat zuvor

Ich kann dem nur zustimmen und finde es für mein Kind so schade, dass es hier in unserem Umfeld keine weiterführenden Monterssorischule oder welche mit vergleichbarem Konzept gibt!

laromir
1 Monat zuvor

Also hier sind alle Montessori Schulen Privatschulen, die sogar relativ teuer sind. Also nix flächendeckend und sehr selektiv, welche Kinder genommen werden. Zusätzlich Eltern die alles mittragen. Wäre interessant das Konzept mal unter “normalen” Bedingungen zu testen. Und dann schauen wie es läuft und dann ein Konzept für alle Schulen entwickeln

Alese20
1 Monat zuvor
Antwortet  laromir
Unverzagte
1 Monat zuvor
Antwortet  laromir

An Montessorischulen greift das Solidarprinzip, d. h. Eltern, die sich die Gebühr nicht leisten können, werden unterstützt. Soviel zu dem “Auswahlverfahren”.

A.J. Wiedenhammer
1 Monat zuvor
Antwortet  Unverzagte

Das Solidarprinzip ist aber nicht endlos ausdehnbar. Wenn hier und da “generell kompartible” Eltern unterstützt werden, funktioniert das noch. Nicht, wenn sich das Verhältnis umkehrt, was bei Flächendeckung vielerorts so sein wird.

laromir
1 Monat zuvor
Antwortet  Unverzagte

Das ändert doch nichts daran, dass die SuS ausgewählt werden, die genommen werden.

Fräulein Rottenmeier
1 Monat zuvor

Wenn man sich das Klientel aussuchen kann und auch tut, hat das mit realistischen aktuellen Schulbedingungen eher wenig gemein. Die Montessorischule in unserem Einzugsgebiet nimmt nur Kinder, die tippitoppi in unserer Eingangsdiagnostik (müssen ja parallel an einer „normalen“ Grundschule angemeldet werden) abschneiden….

Alese20
1 Monat zuvor

Das beweist aber nicht, dass es nicht auch in öffentlichen Schulen funktionieren könnte.

Fräulein Rottenmeier
1 Monat zuvor
Antwortet  Alese20

Kleinere Konzepte, einige Materialien hat wohl jede Schule mal übernommen und praktiziert das auch…..aber das große Ganze ist aus verschiedenen Gründen eher schwierig umzusetzen….

A.J. Wiedenhammer
1 Monat zuvor
Antwortet  Alese20

Nein, legt es aber sehr nahe.
Erinnert ein wenig an die Anfänge der Waldorf-Schulen, die wohlmeinend als Arbeiterkinderschulen gedacht waren, mit einem kleinen Anteil von Schülern aus reformbildungsinteressierten Familien, und wo sich das Verhältnis dann innerhalb weniger Jahre komplett gedreht hatte, hauptsächlich, weil sich die “Arbeiterkinder” so wenig von der – im Gegensatz zu den robusten Methoden der üblichen Schulen – zartfühlenden Pädagogik beeindrucken ließen und sich auch dementsprechend benommen haben.

Ich finde, es wird immer viel zu sehr auf ein Konzept geschaut, ohne wirklich zu berücksichtigen, welches Schülerklientel dem als “Ausgangsmaterial” zugrunde liegt. So, als wären alle Schüler bei Schuleintritt quasi tabulae rasae und alle Entwicklungen ausschließlich (oder zumindest zum uberwiegenden Teil) dem Wirken der Schule zuzuortnen. Das geht m.M.n. vollkommen an der Realität vorbei.
Ich kenne keine Privatschule, die sich aus pädagogischem Altruismus freiwillig die offenkundigen Problemfälle ins Haus holt.