„Scheitern ist durchaus ein wichtiger Aspekt”: Was macht Leistung in der Schule aus? Ein Talk mit Philologen-Chefin Mistler

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DÜSSELDORF. Was bedeutet Leistung in der Schule? News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek diskutiert im Podcast „Schulschwatz! – Der Bildungstalk“ mit Sabine Mistler, Landesvorsitzende des Philologenverbandes NRW, über Leistungsmessung, Scheitern als Lernerfahrung und die Balance zwischen Wettbewerb und sozialer Verantwortung. Ein tiefergehendes Gespräch, das Perspektiven auf das Schulsystem beleuchtet – mit Einblicken in die Lehrpraxis.

Leistung? Ja, bitte – aber welche? Sabine Mistler und Andrej Priboschek. Foto: Olaf Steinacker

Was bedeutet Leistung in der Schule? Wie wird sie gemessen, bewertet und vermittelt? Und wird der Begriff der Leistung in der Gesellschaft und im Bildungswesen über- oder unterschätzt? Sabine Mistler gibt in diesem Gespräch tiefgehende Einblicke in ihre Sichtweise, geprägt durch ihre Erfahrungen als Englisch- und Sportlehrerin: „Für mich zählt beides: Die Leistung eines talentierten, geförderten Schülers, der eine Rekordzeit schafft, und die Anstrengung eines Kindes, das sich mit großer Mühe und Energie zu einem passablen Ergebnis durchkämpft.“ Sie betont die Bandbreite von Leistung und schildert eindrückliche Erlebnisse aus ihrer Lehrpraxis. „Aber die Tränen in den Augen eines Mädchens aus der neunten Klasse, die durchaus ein ganz gutes Gewicht hatte, als sie dann es geschafft hat, in den Handstand zu gehen und dort zu stehen, werde ich nie vergessen.“

Ein weiteres kontroverses Thema ist die Reform der Bundesjugendspiele. Mistler kritisiert die Abkehr vom Wettkampfcharakter zugunsten von Teamgeist und Engagement. Sie fragt: „Was ist mit den Kindern, die durchaus auch den Wettbewerb suchen und Leistung zeigen wollen? Es ist so, als würde ich einem Schüler im Mathematik oder Deutschunterricht verbieten, die richtige Lösung aufzuschreiben, weil er sich zurücknehmen soll.“ Mistler plädiert für eine Balance zwischen Wettbewerb und sozialer Komponente – mit der Lehrkraft als entscheidender Schlüsselperson, die Respekt für individuelle Leistungen vermittelt.

„Ich glaube, dass wir in unserem Leben am meisten lernen, wenn wir die Erfahrung machen, mal auf die Nase zu fallen“

Sabine Mistler stellt in der Diskussion das Scheitern als wichtigen Aspekt da, der ihrer Ansicht nach zum Leben dazu gehört. Er ist ein zentraler Aspekt im Wettkampf. „Ich möchte das sehr deutlich unterstreichen. Scheitern ist durchaus ein wichtiger Aspekt, der zum Leben gehört. Es gibt diesen Spruch, hinfallen, Krone zurechtrücken, wieder aufstehen und weitermachen. Ich glaube, dass wir in unserem Leben am meisten lernen, wenn wir die Erfahrung machen, mal auf die Nase zu fallen und wieder aufzustehen. Und viel stärker danach sind, wenn wir feststellen, dass wir weiter Motivation haben, weiterzumachen und nicht aufzugeben.“ Zudem erläutert die Chefin des Philologenverbandes NRW, dass auch Teilerfolge wichtig sind und es nicht immer auf die großen Ziele ankommt. Auch müsse man bedenken, dass Menschen unterschiedliche Stärken haben.

Das Gespräch weitet sich auf die generelle Leistungsmessung in der Schule aus, etwa durch Noten, Portfolios oder alternative Formen der Bewertung. Mistler betont: „Eine Note ist das Produkt vieler Faktoren. Sie sollte transparent sein und den Prozess widerspiegeln, den Schüler durchlaufen.“ Auch diskutieren Andrej Priboschek und Sabine Mistler über Noten als Instrument der Leistungsmessung einer Lerngruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt. Dabei wird auch über benotete unangekündigte Tests diskutiert, die in Nordrhein-Westfalen unzulässig sind (aber in Bayern zur Zeit hitzig diskutiert werden, News4teachers berichtete), sowie über die Frage, ob Leistung ohne den Einfluss von Sozialstrukturen gemessen werden kann. Mistler sieht hier Defizite im aktuellen System und fordert mehr Aufklärung der Eltern sowie die Stärkung von Grundschulempfehlungen.

Sabine Mistler betont die Bedeutung differenzierter Übergangsmöglichkeiten an weiterführenden Schulen. „Wir sind schon der Meinung, dass hier mehr Möglichkeit gegeben sein müsste, auch vonseiten der aufnehmenden Schule, also hier der Gymnasien, ein bisschen auch auf den Aspekt der Leistung zu schauen und das natürlich auch vom Kind aus zu sehen.“ Gleichzeitig unterstreicht sie die Wichtigkeit von Durchlässigkeit im System: „Dass also hier sowohl die Kinder, die an anderen Schulformen wirklich sich herausheben und herausragen, durchaus auch mal die Empfehlung zum Gymnasium erhalten. Und umgekehrt passiert es natürlich auch.“

Ein weiteres zentrales Thema der Diskussion ist die zunehmende Attraktivität des Gymnasiums und die gestiegene Abiturientenquote. Doch Sabine Mistler weist darauf hin, dass dies nicht nur positiv bewertet wird. Sie führt dies unter anderem auf die Kompetenzorientierung und das Zentralabitur zurück, die mehr Breite statt Tiefe betonen. Dennoch sieht sie Optimierungspotenzial: „Wir müssen auch gesellschaftlich, denke ich, ein Umdenken initiieren und auch in dem Sinne, dass wir auch alle Abschlüsse mehr wertschätzen, als es jetzt der Fall ist.“

„Wir bemängeln, dass die vertiefte Allgemeinbildung ein bisschen zu sehr auf der Strecke bleibt“

Es entspannt sich im Verlauf des Gesprächs eine Diskussion um das Thema Kompetenzorientierung. Andrej Priboschek führt aus, dass es heutzutage nicht mehr allein darum gehen könne, Wissen zu repetieren. Diese Aufgabe werde im digitalen Zeitalter zunehmend von Tools wie der Künstlichen Intelligenz übernommen. Zusätzlich komme es heute darauf an, dass Schülerinnen und Schüler eine Transferleistung erbringen und aus ihrem erworbenen Wissen Bezüge zu anderen Kontexten herstellen.

Sabine Mistler sieht sowohl Fortschritte als auch Defizite: „Wir bemängeln, dass die vertiefte Allgemeinbildung ein bisschen zu sehr auf der Strecke bleibt. Und dass es eine Kombination sein muss von vertiefter Allgemeinbildung, bestimmten Grundsätzen, von denen man nicht abweichen kann und sollte.“ Gleichzeitig betont sie, dass eine stärkere Verknüpfung von Kompetenzen und Inhalten notwendig sei, um den Anforderungen des Digitalzeitalters gerecht zu werden.

War früher alles besser? Keineswegs. Andrej Priboschek erläutert, dass zu seiner Schulzeit zum Beispiel der Englischunterricht wenig auf Alltagstauglichkeit, sondern eher auf die wissenschaftliche Analyse literarischer Werke ausgerichtet gewesen sei. Heutzutage seien gymnasial ausgebildete Jugendlichen international anschlussfähig und sprächen auch die zweite oder dritte Fremdsprache fließend. Im Bereich der Fremdsprachen sieht Sabine Mistler auch ein besonderes Beispiel für den Einfluss der Kompetenzorientierung. Während die kommunikativen Fähigkeiten heutiger Abiturient*innen herausragend seien, habe das Wissen um Grammatik, Vokabular und Literatur nachgelassen. „Das schmerzt mich natürlich als Englischlehrerin“, gibt sie zu.

Dennoch erkennt sie auch Positives: „Die jungen Menschen haben das Vertrauen in sich, die Sprachen auch tatsächlich anzuwenden.“ Sie führt dies teils auf den Unterricht, teils auf die sozialen Medien zurück, betont jedoch: „Man sollte noch mehr darauf achten, dass wir hier sowohl die vertiefte Allgemeinbildung und die Verknüpfung von Kompetenzen mit Inhalten in den Fokus nehmen.“

Am Ende steht die Frage danach, was Leistung am meisten fördert. Sabine Mistler ist überzeugt, dass beides wichtig ist: „Leistung ist ja eine Kombination aus Freude, Leistungsbereitschaft, Anstrengungsbereitschaft, Disziplin und Frustrationstoleranz.“ Sie lehnt Extreme ab und fordert eine Balance: „Es kommt auf die Kombination an“, betont sie. Leistung bestehe einerseits aus Laissez-faire und andererseits aus intrinsischer Motivation. Diese Motivation müsse die Lehrkraft bei der Schülerschaft fördern und den Kindern und Jugendlichen ein Verständnis von Leistung mitgeben. News4teachers

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Den Podcast finden Sie auch auf

 

Hausaufgaben, Noten, Leistungsdruck – “Es ist zu viel für mich”: Wie Schülerinnen und Schüler die Schule erleben

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Rainer Zufall
12 Tage zuvor

“Ein weiteres kontroverses Thema ist die Reform der Bundesjugendspiele.”
Ist es das? Steigen die betroffenen Kinder und Eltern auf die Barrikaden? Wurden Sportvereine in NRW auch abgeschafft? =/

Was Frau Mistler Sorgen in Bezug aufs heute Englisch betrifft, muss Sie sich nur die Spitzenpolitikerin der AfD im Chat anhören XD

potschemutschka
11 Tage zuvor
Antwortet  Rainer Zufall

“Was Frau Mistler Sorgen in Bezug aufs heute Englisch betrifft, …” – das trifft immer mehr auch auf D-Kenntnisse zu – q.e.d.

Rainer Zufall
11 Tage zuvor
Antwortet  potschemutschka

Irritierend, wollen Sie an dieser Stelle für Frau Weidel in die Bresche springen?

potschemutschka
10 Tage zuvor
Antwortet  Rainer Zufall

Nö!

Lisa
12 Tage zuvor

Schlecht ist Wettbewerb nur für Jugendliche, die nirgends Erfolge bekommen und dann vielleicht noch von Mitschülern und Elternhaus kein positives Feedback – dafür aber von kruden Internetseiten und Netzwerken. Auch die müssen im Blick bleiben, aber nicht auf die Weise, das Begabte ihre Begabungen unterdrücken müssen.

Alese20
10 Tage zuvor
Antwortet  Lisa

Begabte unterdrücken ihre Begabung doch nicht, nur weil es nicht mehr so vieleWettbewerbe geben soll. Das erschließt sich mir zumindest nicht. Maximal, wenn die Begabung darin besteht, immer der/die Beste sein zu wollen…