Kolumne „Boarderlines“ Teil 8: Lehrer Andi trifft den Hai

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DÜSSELDORF/KÖLN. Lehrer Andreas Brendt hat viele Jahre damit verbracht, durch die Welt zu reisen. Heute unterrichtet er in Köln und hat sich einen weiteren Traum erfüllt: Ein Buch über seine Erfahrungen zu schreiben. Es geht um Reisen, um Begegnungen auf der ganzen Welt und wie diese den Blick auf Zuhause verändern. Für die News4teachers.de-Leser veröffentlicht er hier in den folgenden Wochen in elf Folgen Teile seiner Geschichte. Viel Spaß bei der Sommerlektüre.

Teil 8 Andi trifft den Hai

Drei Wochen Bali mit all seinen Wellen sind wie der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. Am Wochenende bringe ich meine beiden Freunde schon wieder zum Flughafen. Wir liegen uns in den Armen, feiern den genialen Trip und kurz darauf sind sie bereits hinter den Sicherheitskontrollen verschwunden.
Furchtbar schade, obwohl ich jetzt wieder mein eigener Herr bin. Ich schmeiße den Motor an und kann mir die größten Wellen aussuchen, muss auf niemanden warten oder Rücksicht nehmen. Nach einer halben Stunde komme ich am Strand an.
Ich hüpfe in den Sand, lege die Leash an und wate zu den Wellen. Der Spot ist leer, wie ausgestorben…
Die beiden fehlen mir. Besonders im Wasser. Die Erlebnisse zu teilen und mit den Kumpels Unsinn zu quatschen, ist doch das Beste daran. Eigentlich eine Individualsportart: Du und die Welle. Vielleicht ein spiritueller Augenblick, in dem man eins wird mit der Natur. Manche sprechen von der letzten Wahrheit. Von dem Moment, in dem man sich selbst verliert und wieder findet. Irgendetwas davon geschieht in mir, aber es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Und ohne wirklich zu verstehen, was damit gemeint ist, vermeide ich das philosophische Hausieren.
Ich nehme eine brusthohe Welle, surfe sie bis zum Strand und paddele wieder hinaus. Tolles Gefühl.
Die Sonne scheint fahl im Licht des diesigen späten Nachmittags…
Vielleicht ist es einfach nur Spaß, vielleicht auch mehr. Natürlich das Spiel mit der Vergänglichkeit, als Übung für das Leben. Weil man nur den Moment hat, den kurzen Ritt und nichts davon bleibt. Aber vielleicht ist es auch etwas ganz anderes. Der Surfer zeichnet seine Linie in die Welle, wie ein Künstler in sein Bild. Und so sehr Kunst auch einem Selbstzweck folgt, so ist sie nichts ohne Betrachter.

Ich positioniere mich noch ein paar Meter weiter draußen…
Was gibt es Schöneres, als die herausragendsten Momente im Wasser mit seinen Freunden zu genießen. Sich gegenseitig zu beobachten, anzufeuern. Freude ist das Einzige, was mehr wird, wenn man es teilt. Freunde sollten einen Blick auf die Linien des anderen, auf sein Kunstwerk, werfen können.
Meine Beine baumeln im tiefen Nass und lassen den Gedanken freien Lauf…
Jetzt sitze ich wieder alleine hier draußen. Surfe für mich, wunderschön, aber es fehlt auch was.
Eine dunkle Wolke schiebt sich vor die Sonne und verdunkelt den blauen Himmel…
Freude ist ein Aspekt vom Surfen. Angst der andere. Und mit beidem ist man nicht gerne alleine. Besonders mit Angst. Und irgendetwas stimmt hier nicht.
Irgendwas stimmt hier ÜBERHAUPT NICHT!
Wieso bewegt sich das Wasser da vorne so merkwürdig?
Eine fiese Ahnung krabbelt in meinen Hinterkopf.
Dann Gewissheit: Da ist etwas.
Vielleicht 15 Meter entfernt, direkt unter der Wasseroberfläche.
Dann taucht es auf!
Die Rückenflosse ist so groß wie ein Rucksack.
Einen halben Meter, graublau, und die Spitze ragt zur Seite. Der dazugehörige Rumpf verbirgt sich unter der Wasseroberfläche. Der Schatten des Rückens ist sichtbar und er ist breit. Mit Schrecken erkenne ich, dass sich der Körper nicht auf und ab bewegt.
Es ist also KEIN Delfin!
Natürlich nicht, weil mir schon lange klar ist, was hier los ist. Die Flosse schneidet geradewegs durch das Wasser. Das ohne Zweifel große Tier steuert direkt auf mich zu. Zehn Meter, acht Meter, sechs Meter. Fünf Meter entfernt, erkenne ich den massige Silhouette und sehe auch die Schwanzflosse:
Der Hai misst über zwei Meter.
»SCHEISSE!«,
schreie ich still, während er seitlich an mir vorbeigleitet. Aus nächster Nähe wirkt das Tier gewaltig. Er beschreibt einen halben Bogen und bleibt dabei genau auf einer Distanz von drei Metern. Meine Gedanken brüllen mir zu, was Paul in Südafrika erklärt hat, dass die meisten Haie ihre Opfer drei Mal umkreisen, bevor sie abtauchen, um von unten, aus der Tiefe anzugreifen.
In diesem Moment taucht die Flosse ab. Und ist weg!
Reflexartig reiße ich Arme und Beine aus dem Wasser. Ich liege auf dem schmalen Board und blicke mich um. Die Wasseroberfläche ist gespenstisch glatt. Nichts bewegt sich. Nur Stille. Brutale Stille. Mir wird bewusst, dass mein halber Oberkörper im Wasser hängt. Wenn er von der Seite kommt, sind meine Flanken völlig ungeschützt. Mit einem Biss hat er einen Fetzen Fleisch aus meiner Taille gerissen. Wie groß ist das Vieh? Wie groß sein Maul? Kann er seine Zähne durch mein Brett bohren? Mir Leber oder Milz herausreißen?
Ich schaue nach rechts: Nichts. Dann nach links: Nichts!
Warum sind Eckart und Claus nicht da?
Was macht man in so einer Lage? Wo ist die Theorie?
Gibt es kein Handbuch?
Keine Panik. Das steht an erster Stelle! Die riecht der Hai, und er liebt sie wie das Salz in der Suppe. Angst lädt ihn ein, weil sein Opfer unterlegen, weil sein Opfer leichte Beute ist. Verdammt, was hat er vor, wo ist er jetzt? Hunde, die bellen, beißen nicht, aber der Hai schlägt einfach zu, ohne Vorwarnung, weil er Hunger hat. Oder Blutdurst!
Bloß ruhige, besonnene Bewegungen. Das ist es. Mit kräftigen, langsamen und vor allem selbstbewussten Armzügen einfach weg paddeln. Toller Plan. Ich traue mich kaum, das Wasser zu berühren. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie ich die Hand vor mir ins Wasser gleiten lasse, durchziehe und meinen Arm neben der Hüfte mit einem schreienden Schmerz und einem roten, verkrüppelten Stummel, aus dem Blut spritzt, wieder aus dem Wasser hebe.

Autor Brendt auf einer Lesung. (Foto: privat)
Autor Brendt auf einer Lesung. (Foto: privat)

»Scheiße verdammt!«
Ich mache zwei Züge und hänge sofort drei weitere dran. Ich muss hier weg! Ich sehe mich nochmals um. Dann werfe ich den Motor an. Meine Züge sind weder ruhig, noch langsam oder still. Rasende Panik statt kluger Beherrschung. Alles egal. Vollgas! Alles auf Hochtouren. Verfolgt. Gejagt. Trotzdem nur Schritttempo und ich brauche Lichtgeschwindigkeit, denn er kann jederzeit angreifen. Einfach zubeißen. Eine Welle muss her – sofort! Natürlich kommt keine.
Abgehackte Sekunden werden zu zähen Minuten.
Ist er hinter mir? Auf jeden Fall irgendwo unter mir!
Mit allem, was ich habe, ziehe ich durch, gleite auf der dünnen Oberfläche Richtung Strand, blicke panisch durch die Gegend und paddele um mein Leben. Das Ufer ist eine Ewigkeit entfernt. Atemlose Verzweiflung. Dann taucht eine kleine Welle auf, die ich einfach kriegen muss. Ich komme ins Gleiten und blicke in den Abgrund. Knapp zwei Meter. JETZT bloß nicht fallen. Der Gedanke mit meinem ganzen Körper ins Wasser zu plumpsen, lässt mich erschauern. Direkt auf den Speiseteller der hungrigen Bestie. Ich zittere am ganzen Leib und bin haarscharf konzentriert. Dann springe ich auf und reite die Welle zum Strand. Selbst die letzten, knietiefen Meter stürze ich aus dem Wasser, wobei ich über meine Beine stolpere, hinfalle, mich wieder aufrappele und weiter Richtung rettendes Ufer hetze. Als ich trockenen Sand an meinen Füßen spüre, blicke ich zurück. Nichts. Nur friedliche Ruhe.
Ein Balinese schlendert heran.
»What is?«
»Fuck Fuck Fuck! A shark!«, hyperventiliere ich.
»No, no, no shark, only dolfin! Yu sow dolfin.«
»It – was – a – shark!«
»Sometimes shark«, grinst er. »Yu scared?«
»No«, lüge ich und ziehe dabei meine Augenbrauen hoch.
Er lacht.
»Sometimes shark! Yes. But no problem, shark only eat fish!«
»Sometimes shark!? No problem?!«, fahre ich ihn an, löse die Leash und haue ab.
Ich wache schweißgebadet auf, mit einer Scheißangst in der Brust. Selbst als ich merke, dass ich in meinem Bett liege.
Mein T-Shirt klebt an meinem Rücken. Die Furcht, die in meinen Gliedern steckt, ist so stark, dass sie mir körperlichen Schmerz verursacht. Meine Stirn ist triefend nass. Die entsetzlichen Bilder, das Massaker aus der Tiefe, schimmern nach. Ich habe nur geträumt. Aber furchtbar real, von abgerissenen Gliedmaßen und spritzendem Blut!
Leider war die Begegnung am Nachmittag kein Traum.
Das war echt. Echt unfassbar. Unfassbar echt.
Es gibt Momente, die das Leben verändern. Momente, nach denen das Leben einfach weiter geht, aber nichts mehr so ist, wie es vorher war. Immer bleibt etwas zurück. Jeder Moment hat seinen Sinn. Die Zeit heilt viele Wunden, aber manches hält sich hartnäckig.
Die Begegnung mit dem Hai hat Spuren hinterlassen und lebt in meinem Kopf.
Sieben Wochen später in Frankreich rast mein Puls in die Höhe, als ich eine Finne etwa 30 Meter von mir entfernt erblicke. Ich reiße das Brett herum und sehe, dass es ein Vogel ist.
Haie in Frankreich? Lächerlich!
Manchmal, wenn ich morgens ins Wasser wate, kommen mir die Bilder von Haiangriffen in Florida in den Sinn. Hinterhältige Jäger, die sogar in knietiefem Wasser zuschlagen. Sie rauben Kinder und Körperteile. Hauptsache menschliches Fleisch.
Ich kann nichts dagegen tun, als weiter ins Wasser zu gehen und mir bewusst zu machen, dass jeder Meter im Auto gefährlicher ist. Wie meinte Paul in Südafrika:
Haie sind ein Problem im Kopf.
Und genau da sitzt meines jetzt. Es lauert keine Gefahr, sondern ein Kampf mit dem Geist.
Vielleicht sind das die schwierigsten Kämpfe im Leben.
Wieder eine Lektion aus dem Meer, eine, nach der ich nicht gefragt habe. Wenn der Kopf verrückt spielt. Wenn wir uns selbst in den Wahnsinn treiben. Große Wellen muss nur der Körper bewältigen. Luft anhalten und der Terror hat ein Ende. Krankheit tut nur weh. Man kann sie auskurieren. Heiße Milch mit Honig oder vier Tage Schlaf. Über kurz oder lang stellt sich Genesung ein.
Der Geist aber ist ein geschickter Gegner. Unberechenbar und nicht zu kontrollieren. Buddha lässt grüßen. Haie, Existenzängste, Sehnsüchte. Liebeskummer, Kündigung, Älterwerden.
Alles vergeht, das universelle Gesetz.
Also kein Problem – eigentlich. Aber darüber Bescheid zu wissen hilft nicht, denn der Geist vermag uns trotzdem, das Leben zur Hölle zu machen. Wenn die Gedanken in Schwung kommen. Zu jeder Zeit und an jedem Ort. Selbst wenn wir sicher im Bett liegen, erwacht plötzlich ein tödlicher Schmerz, der uns um den Verstand bringen will.
Der Kampf im Kopf lässt Monster aus der Tiefe auftauchen, und er weiß genau, wie er uns quält. Mit Hammer und Meißel: Mit dem was wir gerade nicht haben, oder mit dem, was uns passieren könnte. Alles nur mental?
Ja.
Und es gibt nichts Schlimmeres!
Naja, am besten einfach nicht dran denken.
Das erinnert mich an Frau Ramacher, meine Grundschullehrerin.
Sie hat uns manchmal eine verblüffende Aufgabe gegeben.
»So, und jetzt alle NICHT an ein rotes Feuerwehrauto denken!«
Und in der ganzen Klasse fuhren rote Feuerwehrautos kreuz und quer durch unsere Köpfe.

 

Zum 7. Teil Andi lernt Salsa lieben

Zum 6. Teil Andi trifft eine Entscheidung

Zum 5. Teil Andi findet Edelsteine auf Sri Lanka

Zum 4. Teil Andi landet auf Sri Lanka

Zum 3. Teil Heimaturlaub

Zum 2. Teil Andi reist nach Australien

 Zum 1. Teil Andi reist nach Bali

Zum Interview mit Andreas Brendt geht es hier

Zur Webseite des Buchs geht es hier

 

 

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