Geschichte fünf: Jeder zweite Schüler hält NS-Staat für keine Diktatur

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BERLIN. 17. Juni 1953? Da gibt es doch in Berlin diese große Straße. Und wer baute eigentlich die Mauer? Na ja, vielleicht die Amerikaner. NS-Deutschland, eine Diktatur? Wieso, da gab es doch Wahlen.

Adolf Hitlers Ansprache bei der Reichspräsidentenwahl 1932 in Berlin. (Bundesarchiv, Bild 102-14271B / CC-BY-SA)
Adolf Hitlers Ansprache bei der Reichspräsidentenwahl 1932 in Berlin. (Bundesarchiv, Bild 102-14271B / CC-BY-SA)

So ähnlich dürfte es in den Köpfen vieler Jugendlicher in Deutschland aussehen – zumindest legt dies eine neue Studie der Freien Universität (FU) Berlin nahe. Zeitgeschichtswissen: fünf – bescheinigt sie. Rund 7500 Neunt- und Zehntklässler aus Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen kreuzten dazu in den vergangenen drei Jahren Fragebögen an. Etwa 40 Prozent können demnach nicht zwischen Demokratie und Diktatur unterscheiden. «Das ist erschreckend», sagte Prof. Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat (FU).

Schon die Vorgängeruntersuchung von 2007 zum DDR-Wissen der Schüler in Ost und West hatte für einigen Wirbel gesorgt: Im Westen interessierte man sich kaum für die DDR, im Osten war das Bild bei vielen beschönigend verklärt, kam dabei heraus. Dieses Mal ging das Forscherteam noch weiter und befragte die Jugendlichen auch zu ihrem Wissen über NS-Zeit, alte Bundesrepublik und wiedervereinigtes Deutschland. Das Ergebnis: wenig besser. Quer durch alle Bundesländer und Schulformen zeigte sich, dass die Schüler über die NS-Zeit noch am meisten wissen, deutlich weniger über die alte Bundesrepublik, die DDR und schließlich das wiedervereinigte Deutschland.

Es gipfelt in der Gesamteinschätzung, dass nur rund die Hälfte der Schüler den NS-Staat und nur gut ein Drittel die DDR als Diktatur einordnet. Umgekehrt bezeichnet nur etwa die Hälfte der Schüler die alte Bundesrepublik und nur etwa 60 Prozent das wiedervereinigte Deutschland als Demokratie. «Die Geringschätzung historischen Wissens schlägt hier voll durch. Aber ohne Kenntnisse keine Kompetenzen», resümierte Schroeder.

Vier von Fünf Schülern ziehen ihr Geschichtswissen aus dem Unterricht

Viel stärker als Schulform, Herkunft der Eltern oder Parteipräferenz sei der Einfluss von Kenntnissen bei der Beurteilung der Systeme zu Buche geschlagen: «Und an dieser Stelle sind vor allem die Schulen gefragt», sagte Schroeder. In der Tat gaben vier von fünf Schülern an, ihr Geschichtswissen vor allem aus dem Unterricht zu beziehen. «Und generelles Interesse an Geschichte haben alle geäußert», so Schroeder. Aber die Schulen griffen es nicht auf, die Schulzeitverkürzung verstärke das Problem. In Nordrhein-Westfalen etwa, dem Schlusslicht der fünf Bundesländer, habe man bis zum vergangenen Jahr noch nach einem Uralt-Lehrplan unterrichtet, der eine «Diskussion über die Möglichkeit einer Wiedervereinigung» vorschlug.

Kulturstaatsminister Bernd Neumann sagte zu dem Studienergebnis: «Es muss alle Verantwortlichen in Deutschland wachrütteln.» Er forderte die Länder auf, ihren Beitrag in den Schulen deutlich zu verstärken. Der Bund habe in den vergangenen Jahren die Unterstützung für historische Gedenkstätten bereits aufgestockt.

Ein Besuch am Holocaust-Mahnmal oder in der Gedenkstätte Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen allein bringe aber wenig, betonte Schroeder. Eine Langzeituntersuchung an einem Teil der Schüler habe gezeigt, dass Vor- und vor allem Nachbereitung eines solchen Besuchs ausschlaggebend für den Erkenntnisgewinn seien. «Viele Schulklassen machen nur Gedenkstättenhopping. Das hat aber keinen Lerneffekt, sondern bleibt nur ein Event.»

Bei der Studie schnitten die Schüler aus Thüringen und Sachsen-Anhalt am besten ab, gefolgt von Bayern und Baden-Württemberg, am wenigsten wussten die Schüler aus Nordrhein-Westfalen. Berlin und Brandenburg, die bei der Vorgängeruntersuchung zum DDR-Wissen sehr schlecht abgeschnitten hatten, hatten nicht erneut mitgemacht. Schüler aus Mecklenburg-Vorpommern waren an beiden Studien nicht beteiligt. dpa

(27.6.2012)

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pfiffikus
11 Jahre zuvor

Ja, prima, diese Ahnungslosen sollen aber bereits mit 16 Jahren wählen dürfen! Halt! Würden Umfragen bei Erwachsenen mehr historisches Wissen zutage fördern? Ich habe da ernsthafte Zweifel. Wir leben doch in einer Zeit, wo jede(r) meint, mitdiskutieren zu können und zu müssen. Dass vor der Meinungsbildung die zugegeben manchmal auch mühsame Auseinandersetzung mit der Sache gehört, ist offensichtlich in Vergessenheit geraten.
Allerdings, was SchülerInnen heutzutage behalten, ist schon sehr traurig. Am Ende der UE „Leben in der Steinzeit“ können viele den Jäger und Sammler aus der Altsteinzeit nicht vom sesshaften Ackerbauern der Jungsteinzeit unterscheiden.
Bringt es evtl. schon etwas, die Stoffpläne auf das Wesentliche zu reduzieren, die Themen besser miteinander zu verzahnen und das Kind oder den Jungendlichen in das didaktische Zentrum zu rücken? Heutzutage werden doch immer noch viele Themen ohne jeglichen inhaltlichen oder historischen Bezug zueinander unterrichtet.
Es spielt bestimmt auch eine Rolle, dass im familiären Umfeld kaum über unsere Geschichte gesprochen wird.
Dann ist es auch nicht verboten, sich persönlich mit historischen Themen zu beschäftigen. Bei einem Blick ins Fernsehprogramm finde ich fast jeden Tag ausgezeichnete Sendungen.

pfiffikus
11 Jahre zuvor

Ein kleiner Nachtrag:

Nur wenn mir klar ist, wie viel Unfreiheit und Willkür Diktaturen für den Einzelnen bedeuten, kann ich mich mit ganzer Kraft für unsere demokratische Grundordnung einsetzen.
Da zu vielen Menschen diese Kenntnisse offensichtlich fehlen, gehen sie allzu leicht rechtsradikalen Rattenfängern auf den Leim.
Wer unsere Vergangenheit mit dem millionenfachen Mord an den Juden kennt, dem fällt es schwer, die antisemitische Haltung vieler Bundesbürger zu verstehen.
Schließlich kann ich nur ermessen, wie wertvoll freie Wahlen sind, wenn ich weiß, dass mir dieses Grundrecht in Diktaturen verwehrt wird. Dehalb fällt es mir schwer nachzuvollziehen, warum die Wahlbeteiligung so niedrig ist. Die immer wieder als Erklärung genannte Politikverdrossenheit lasse ich in diesem Zusammenhang überhaupt nicht gelten. Denn im Gegensatz zu Diktaturen kann ich mich in unserer Gesellschaftsordnung auf vielfältige Weise am Gemeinleben beteiligen.
Die Menschen des „Arabischen Frühlings“ kämpfen für mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Viele bezahlen diesen Einsatz mit ihrem Leben. Hierzulande scheinen viele Bundesbürger – evtl. aufgrund geschichtlicher Unkenntnis – überhaupt nicht zu wissen, dass es in Deutschland keine Epoche vorher gab, in der die Menschen so friedlich und frei leben konnten.

sofawolf
11 Jahre zuvor

Viele Dinge, die durchaus in Schulen unterrichtet werden, werden auch wieder vergessen. Warum? Ich meine, wir merken uns vor allem, was uns interessiert und was sich wiederholt. Aufgrund vollgestopfter Lehrpläne ist für Wiederholung wenig Zeit. Das nächste Thema muss geschafft werden. Interesse kann man hingegen nur wenig von außen „bewirken“. Natürlich, man kann es versuchen, aber man wird doch nie alle gleich erreichen. Weiß ich noch, was Permutationen sind? Kenne ich noch die Unterschiede zwischen den Kreuz- und den Lippenblütlern? Kann ich noch irgendetwas über die Sumerer berichten? Nein. Und alles habe ich mal gelernt. 🙁