Tschernobyl und die Folgen: Weißrussische Kinder tanken Kraft in Deutschland

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MELLE. Mehr als ein Vierteljahrhundert ist die Atomkatastrophe von Tschernobyl schon her – doch Kinder aus der Region sind noch immer anfällig für Krankheiten. Damit die Kinder sich erholen können, gibt es Ferienfreizeiten in Deutschland – bis heute.

So sehen schöne Ferien aus: Kinder tollen durch ein Freibad, springen ins Becken, planschen herum oder kicken auf dem Rasen. 46 Kinder und zwei Mütter mit Kindern aus der Gegend rund um das weißrussische Gomel sind einen Monat lang die Gäste von Familien in Melle. Ihre Heimat gehört zu den am stärksten betroffenen Gebieten der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im April 1986. In diesem Jahr werden von Juni bis Ende August jeweils einmonatige Freizeiten angeboten. Insgesamt sind 650 Kinder aus Weißrussland in Niedersachsen.
2015 wird es die Hilfe für die Kinder aus Weißrussland seit 25 Jahren geben. Alles begann mit der Privatinitiative eines Ehepaars aus Neuenkirchen, die schnell Schule machte. Seit 1991 ist die Tschernobyl-Hilfe fester Bestandteil der Arbeit der Evangelischen Landeskirche Hannover. Ehrenamtliche in 28 Kirchenkreisen organisieren die Freizeit, darüber hinaus gibt es weitere Vereine und Organisationen. «Allein in Niedersachsen werden es in den vergangenen 24 Jahren wohl bis zu 45 000 Kinder gewesen sein, die hier ihre Ferien verbracht haben», erklärte Lars-Torsten Nolte von der Arbeitsgemeinschaft Hilfe für Tschernobyl-Kinder.

Gisela Bungard aus Melle ist schon seit 23 Jahren dabei. Mittlerweile organisiert die 67-Jährige alljährlich die Ferienfreizeiten für den örtlichen Kirchenkreis. «Es passte damals einfach. Meine drei Kinder waren frisch aus dem Haus», sagte Bungard. Eines der Kinder, die sie betreute, ist inzwischen selber Mutter. Eugenia Timoschkowa war drei Mal bei den Bungards in den Ferien. Inzwischen hat die heute 22-Jährige einen zweieinhalb Jahre alten Sohn, Nikolai. Auch sie steht strahlend am Tischkicker im Freibad und vergnügt sich, während Nikolai bei Gisela Bungard auf dem Schoß sitzt.

Die Zahl der Gastfamilien gehe seit einigen Jahren zurück, sagte Bungard. «Das liegt oft an der Berufstätigkeit der Frauen.» Wenn beide Ehepartner arbeiten, gebe es nicht mehr die Zeit, sich auch um die Gastkinder zu kümmern. Und: Heute habe der Osten seinen Reiz für viele verloren, stellte Nolte nüchtern fest. Manche fragten sich auch, ob so viele Jahre nach der Katastrophe eine solche Hilfe noch notwendig sei.

Gedenkveranstaltung 25 Jahre nach dem Reaktorunfall (Wien 2011) 2000 Kerzen zur Erinnerung an die Katastrophe von Tschernobyl 1986 bei einer Gedenkveranstaltung 25 Jahre nach dem Reaktorunfall sowie zur Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 auf dem Stephansplatz in Wien. (Manfred Werner/Wikimedia (CC BY-SA 3.0)
2000 Kerzen zur Erinnerung an die Katastrophe von Tschernobyl 1986 bei einer Gedenkveranstaltung 25 Jahre nach dem Reaktorunfall  2011 auf dem Stephansplatz in Wien. (Manfred Werner/Wikimedia (CC BY-SA 3.0)

Dennoch finden sich immer wieder neue Gasteltern. In Melle ist das etwa Britta Borgmeier. Ursprünglich wollte sie nur ein Kind nehmen, dann wurden es doch die beiden Mädchen Taisija und Nastjia im Alter von acht und neun Jahren, erzählte die 46-Jährige. Jetzt ist die Familie Borgmeier begeistert, vor allem die eigenen Kinder Johanna (11) und Lennard (8). «Unsere Johanna hat schon gesagt, die beiden sollen nächstes Jahr wiederkommen», sagte Borgmeier. Die Verständigung klappt, auch wenn niemand von den Gasteltern Russisch spricht. Drei Dolmetscher betreuen die 46-köpfige Kindergruppe im Alter von acht bis 14 Jahren.

Zu den gesundheitlichen Folgen der Reaktorkatastrophe für die Menschen gebe es kaum offizielle Zahlen, erklärte Nolte. Das Thema sei in Weißrussland politisch brisant. Doch auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Katastrophe mache sich der Unfall bemerkbar. «Man stellt zum Beispiel fest, dass Schilddrüsenkrebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen dort ansteigen», sagte der Mitarbeiter der Landeskirche.

Die deutschen Helfer wüssten, dass in den Familien immer wieder Menschen krank werden und sterben. «Und bei den Kindern fällt doch sehr stark auf, dass sie anfällig sind für alle Arten von Krankheiten», sagt Nolte.

So gesehen sei Ferienfreizeit wichtig für die Erholung und Gesundheit der Kinder, betonte Bungard: «Die tanken hier richtig auf, das kann man sehen.» Und den Gästen gefällt es. «Es ist hier alles anders als bei uns zu Hause», sagte die achtjährige Taisija. «Für mich war es damals der erste Aufenthalt im Ausland überhaupt», schilderte Eugenia. «Es war für mich unbeschreiblich neu.» Elmar Stephan

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