Frau Wehs Kolumne: Jens und der Tod

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DÜSSELDORF. Witz, Charme und einen tiefen Blick in die Seele einer Grundschullehrerin erlaubt Frau Weh auf ihrem Blog “Kuschelpädagogik”, unter Oje Frau Weh” auf stern.de , und auf news4teachers.de. Frau Weh heißt im wahren Leben nicht Frau Weh, aber ihre Texte sind häufig so realitätsnah, dass sie lieber unter Pseudonym schreibt.

Es hat gerade zur großen Pause geklingelt, als Jens von seiner weinenden Oma aus der Schule geholt wird. Die Nachricht vom Tod seines Vaters trifft uns nicht unerwartet, aber plötzlich. Den Kampf gegen den Krebs konnte er nicht gewinnen.

Als ich den Viertklässlern berichte, warum Jens so überstürzt aus der Schule abgeholt wurde, sind sie so regungslos, dass die Stille fast schmerzt. Bei nicht wenigen sehe ich Tränen und auch ich bin von einer Traurigkeit erfüllt, die Gedanken und Handlungen lähmen will.

“Was ist mit unserem Ausflug morgen?”, platzt Schmitti da heraus. Seit Wochen freuen sich die Kinder auf den Besuch im Freilichtmuseum, wo wir unser Wissen über Umweltschutz und Recycling vertiefen, Papier schöpfen, picknicken und einen ganzen Tag lang Spaß haben wollen. “Kommt Jens da mit?”

“Das weiß ich nicht, Schmitti.”, antworte ich und schüttle leicht den Kopf. “Das wird die Familie entscheiden. Vielleicht möchte er auch lieber zu Hause bleiben.”

Am nächsten Tag werde ich am wartenden Bus von Kindern und Müttern belagert. Die Nachricht hat sich in Windeseile herumgesprochen. Alle sind bestürzt und wollen Infos, die ich nicht habe und nicht geben kann. Schon scheuche ich die Viertklässler in den Bus, als ich aus dem Augenwinkel Jens mit seiner Mutter bemerke, die ein Stück von der Gruppe entfernt stehenbleiben. Ich gehe auf die Frau zu, die wie eine gebrochene Hülle ihrer selbst vor mir steht, und greife stumm nach ihren Händen, hoffend, dass meine Blicke ausdrücken, was ich nicht in Worte zu fassen vermag. “Es tut mir so leid”, bringe ich hervor und sie blickt unter Tränen auf. “Ich würde gerne etwas Tröstendes sagen, aber ich weiß, ich kann nur mit Ihnen weinen.” “Passen Sie gut auf meinen Jungen auf”, bittet sie mich und blickt voller Kummer auf ihren Sohn. Ich nicke und lege Jens den Arm um die Schulter. “Ich rufe an, wenn wir wieder da sind, dann brauchen Sie nicht mit den anderen Müttern auf uns warten.” Sie scheint erleichtert und streicht ihrem Sohn zum Abschied über den Kopf.

Die kleine My ist das digitale Ich von Frau Weh. (Foto: Privat)
Die kleine My ist das digitale Ich von Frau Weh. (Foto: Privat)

Ich führe Jens, der müde und abgekämpft aussieht, an den betroffen zu uns herüberschauenden Müttern vorbei in den Bus: “Komm, die anderen haben sich bestimmt schon alle mit Kaugummis versorgt. Schauen wir mal, ob wir auch noch einen abkriegen.” Er nickt zaghaft und freut sich, als die Viertklässler sofort von ihren Sitzen aufspringen, sich um ihn scharen und Kaugummis, Gummibärchen, eine Schulter zum Ausweinen, einen Nachbarplatz zum Sitzen während der Fahrt anbieten. Ich bin erleichtert, dass die Gruppe ihn sofort umschließt und aufnimmt und drehe mich noch einmal zu den Müttern an der Haltestelle um. “Genießen Sie den Tag, wir kommen wieder!”

Jens sucht meine Nähe und so kommen wir während der Fahrt ins Gespräch. “Erzähl doch mal, wie war es denn gestern für dich?”, ich wähle bewusst einen leichten Tonfall, als ich mich zu ihm drehe. Er scheint froh über die Frage und sofort sprudelt es aus ihm heraus: Wie alle Familienmitglieder in dem engen Krankenzimmer Abschied genommen haben, dass die ganze Zeit über geweint wurde und dass er über eine Stunde neben Papa auf dem Bett lag und ihn einfach nicht loslassen konnte. Aufmerksam höre ich ihm zu, frage an manchen Stellen nach und bestätige, wonach er sucht – die Gewissheit, sich genau richtig von seinem Vater verabschiedet zu haben. “Das hast du prima gemacht, Jens! Du hast Papa gezeigt, wie lieb du ihn hast.” Eine kleine Pause entsteht, in der wir beide unseren Gedanken nachhängen. Die nächsten Worte wähle ich mit Bedacht: “Ich kann mir vorstellen, dass es schlimm für dich war, aber vielleicht auch ein kleines bisschen schön?” Jens blickt mich ernst an und dann – endlich – lächelt der Junge zum ersten Mal an diesem schrecklichen Tag. “Ja, das war auch schön. Ich bin ganz still liegengeblieben und habe meinen Kopf auf Papas Brust gelegt.” Ich schlucke den Kloß in meinem Hals sofort herunter und gestatte nicht das kleinste Bisschen Traurigkeit, als ich Jens ins Gesicht blicke und anlächle: “Du bist klasse! Schön, dass du bei uns bist!”

Im Laufe des Tages glättet sich die große Falte auf seiner Stirn mehr und mehr. Die Ringe unter Jens Augen zeugen von einer langen Nacht ohne Trost, aber sein Blick klart auf und ich bin froh darüber, dass die Mutter ihn heute hat gehen lassen und ihm so eine Auszeit von der Trauer ermöglicht. Die nächsten Tage, Wochen, Monate, ja, Jahre werden schlimm werden. Beim Picknick wird er mit Leckereien und Aufmerksamkeit überschüttet und ich sehe ihm an, wie gut es ihm tut, mit seinen Klassenkameraden in der unbeschwerten Ernsthaftigkeit, die Kindern eigen ist, über das Unaussprechliche zu reden. Die Sonne wärmt uns, niemand weint und für einen Moment scheinen die Schatten gebannt. Wir stehen in der Papiermühle am Schöpfbecken, als Jens mir mitteilt, wann die Trauerfeier stattfindet. “Kommen Sie auch?”, fragt er leichthin, aber ich bemerke doch den versteckten Unterton. In den letzten Monaten hat der Junge gelernt, seine Gefühle gut zu verpacken, um seiner Mutter nicht noch mehr Kummer zu bereiten. “Natürlich!”, versichere ich ihm mit einem Lächeln, “Ich will Papa doch auch Tschüss sagen. Aber…”, jetzt furche ich die Stirn etwas, denn schlussendlich ist es doch der Humor, auf dem wir uns treffen können, “ich lege mich besser nicht daneben, oder?” Jens platzt mit einem lauten Lachen heraus und schaut mich an, als hätte ich etwas wirklich, wirklich Verrücktes gesagt.

“Haha, das wäre aber komisch, Papa liegt doch in einem Sarg, Frau Weh!”

 

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