„Provozieren, um zu testen“: Pflegekinder haben oft Probleme in der Schule – Studie beleuchtet Hintergründe

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SIEGEN. Pflege- und Adoptivkinder sind eine belastete Klientel. Das hat Konsequenzen für ihr Auftreten in der Schule: Ihr Leistungsniveau ist oft niedrig – und ihr Verhalten auffällig. Forscher der Uni Siegen haben jetzt eine Langzeitstudie gestartet, um mehr über das Leben von Pflegekindern erfahren. Das erscheint nötig: Das Zahl der Betroffenen ist in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen.

Immer mehr Kinder müssen aus ihren Familien herausgenommen werden. Foto: pixabay
Immer mehr Kinder müssen aus ihren Familien herausgenommen werden. Foto: pixabay

„Ich weiß noch, als wir eine Klassenfahrt unternommen haben, da brauchte ich ein Schreiben von der Schule, was ich meiner Pflegemutter geben konnte, die das wiederum beim Jugendamt beantragen musste – und ich weiß noch gut, dass ich mich gewunden hab wie ein Aal, dieses Schreiben zu bekommen und erinnere mich, dass der Lehrer fragte, ja wofür brauchst du das denn. Das war ganz furchtbar für mich, vor der ganzen Klasse zu sagen, ich brauche das für meine Pflegemutter.“

Diese Begebenheit aus der Grundschulzeit eines Pflegekindes, protokolliert von der Diplom-Pädagogin Daniela Reimer (die die neue Langzeitstudie leitet, siehe unten), ist eine Schlüsselszene, die das Kernproblem der meisten Pflege- und Adoptivkinder anschaulich macht: Bindungen zu den sie umgebenden Menschen können von ihnen nicht als stabil und selbstverständlich erlebt werden. Selbstsicherheit und Widerstandsfähigkeit, Grundvoraussetzungen für erfolgreiche Lernprozesse, sind massiv angekratzt. So wird alles, was das ohnehin als fragil erlebte Beziehungsgeflecht infrage stellt (wie ein Antrag beim Jugendamt), als besonders schmerzlich erlebt. Die Betroffene: „Dann wurde ich dann natürlich in der Pause drauf angesprochen, und ich weiß schon, dass das einigen sehr komisch vorkam und ich glaube auch, dass einige das zuhause erzählt haben und da auch entsprechend geimpft wurden. So nach dem Motto: Wenn die nicht mehr bei ihren Eltern wohnt, dann stimmt da irgendwas nicht.“

„Peinliche“ Situationen

Solche von Pflege- und Adoptivkindern als besonders „peinlich“ erlebten Situationen treten immer wieder in der Schule auf. Wenn Mitschülern auffällt, dass der Nachname der Pflegefamilie von dem des Kindes abweicht (weshalb viele betroffene Kinder darauf  bestehen, den Namen der Pflegeeltern für schulische Zwecke zu nutzen, auch wenn keine offizielle Namensänderung erfolgt ist). Wenn die Lehrkraft vor dem Elternsprechtag klären muss, dass die Pflegeeltern überhaupt Auskünfte bekommen dürfen. Oder wenn Kinder Fotos von ihrer Familie zum Unterricht mitbringen sollen – und dann das Thema Familienähnlichkeit in der Klasse diskutiert wird. Natürlich können Lehrkräfte nicht jede  solcher Situationen vermeiden. Sie können allerdings sensibel damit umgehen (anders etwa als jener Grundschulleiter, der Pflegeeltern unvermittelt fragte, wann das Kind denn wieder zu den leiblichen Eltern zurückmüsse – in dessen Beisein).

Die Zahl der betroffenen Kinder ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Das Statistische Bundesamt meldete für 2015 bundesweit mehr als 52.000 Inobhutnahmen aufgrund einer akuten Gefährdungslage in der Herkunftsfamilie – 2009 waren es lediglich rund 33.000.

„Die (…) Frage, ob ein Pflegekind ein besonderes Schulkind sei,  muss mit einem deutlichen Ja beantwortet werden: Ein Pflegekind ist ein besonders Schulkind!“, so schreibt der im Umgang mit Pflegekindern erfahrene Sozialpädagoge Heinzjürgen Ertmer. „Es (das Pflegekind) kommt erstens aus einem komplizierten Zwei-Familien-System und ist vor und neben der Schulzeit noch mit ganz besonderen Umständen beschäftigt. Zweitens hat das Pflegekind, bevor es die Schulzeit beginnt, öfter schon schicksalsschwere Erlebnisse durchlitten, hat vielleicht  schon früh sich mit Verlust, Unklarem und viel Fremden auseinandersetzen müssen. Daher benötigen Pflegekinder auch von Kindergarten und Schule besonders viel Wissen, Einfühlungsvermögen, Verständnis, Lob und Anerkennung.“

„Mangelnde Fügsamkeit“

Allerdings fangen hier häufig die schulischen Probleme an: Denn das Verhalten von Pflege- und Adoptivkindern ist allzu oft eben gerade nicht darauf ausgelegt, „Einfühlungsvermögen, Verständnis, Lob und Anerkennung“ bei seinen Lehrerinnen und Lehrern hervorzurufen – im Gegenteil.

„Ein Kind, das  in seiner frühen Kindheit der Willkür seiner Bezugspersonen ausgesetzt war und dabei existenzbedrohende Erfahrungen gemacht hat, wird sich keinesfalls wieder gerne in die Rolle des Abhängigen begeben. Dies aber wird spätestens in der Schule verbindlich von ihm erwartet. Das Kind wird weiter versuchen, unter allen Umständen über sich selbst zu bestimmen, die Kontrolle zu behalten. Dieses Bestreben ist mit dem schulischen Alltag nicht vereinbar. Es führt zu Schwierigkeiten, angemessenes Verhalten zu zeigen, zu mangelnder Fügsamkeit, Unsteuerbarkeit, nervösen Verhaltensproblemen (zum Beispiel Ticks) oder emotionaler Fehlanpassung. Ein Aufgeben dieser Haltung ist erst möglich, wenn das Kind durch seine eigene Leistung ein wenig Selbstachtung und Selbstwertgefühl erlangen konnte“, so berichtet die Erzieherin und Sonderschullehrerin Maike Lohmann. Weil allerdings sein unangepasstes Verhalten in der Schule in der Regel eher Reaktionen hervorruft, die es als Zurückweisung erlebt, ist es für das betroffene Kind kaum möglich, die fürs Lernen notwendige Widerstandskraft zu entwickeln. Ein Teufelskreis.

Zumal Pflege- und Adoptivkinder häufig anderes (für sie wichtigeres) im Kopf haben, als gute Leistungen in der Schule zu zeigen. „Sie müssen in der Gegenwart ankommen, sie müssen sich mit Vergangenem auseinandersetzen. Sie müssen sehr verschiedene Welten miteinander in Einklang bringen, zum Beispiel durch Besuchskontakte“, so heißt es im „Ratgeber Schule für Kinder in Familienpflege und Adoption“ von Henrike Hopp. Besuchskontakte – das sind meist regelmäßig stattfindende Treffen mit den leiblichen Eltern, die für die Kinder stark belastend sind. Denn Besuchskontakte stellen für sie immer wieder die Beziehungen zur Pflegefamilie infrage. Kein Wunder also, dass nach solchen Treffen häufig Auffälligkeiten in der Schule festzustellen sind.

Rückschritte drohen

Das bedeutet zum einen: Das ohnehin meist relativ niedrige Leistungsniveau bricht ein (Maike Lohmann: „Das Kind mit einem Bindungstrauma und demzufolge einhergehender mangelnder Ansprache in der frühen Kindheit wird große Schwierigkeiten haben, das Gehörte aufzunehmen und zu verarbeiten.“) Zum anderen: Das Sozialverhalten kann sich nochmal verschlechtern. Sowieso haben viele Pflege- und Adoptivkinder Probleme, sich in den Klassenverbund einzufügen. „Themen wie Schulängste, (..) andauernde Hausaufgabenproblematik, psychosomatische Leiden außerhalb der Ferien, starke Aggressionen, den Unterricht störendes Verhalten oder Kontaktlosigkeit in der Schule wiederholen sich“, so berichtet Lohmann.

Was Lehrkräfte unbedingt wissen müssen: Gerade wenn sich die Situation für ein Pflege- und Adoptivkind zu stabilisieren scheint, drohen dramatisch erscheinende Rückschritte. Denn: Ein solches Kind testet die Standfestigkeit der ihm wichtigen Beziehungen aus – immer wieder. „Gerade einen Lehrer, zu dem das Kind begonnen hat, eine positive Beziehung aufzubauen, wird es provozieren, um zu sehen, ob er es mit dem Wohlwollen gegenüber auch wirklich ernst meint. Ein Verhalten, das Pflegeeltern aus den ersten Jahren mit dem Kind nur zu gut kennen“, schreibt Maike Lohmann, „und das, bleibt man standhaft, meist dazu führt, dass das Kind langsam beginnt, eine tragfähige Beziehung aufzubauen“. Heißt: viel Geduld aufbringen! bibo / Agentur für Bildungsjournalismus

 

Wirklich eine richtige Tochter? - Studie zum Leben von Pflegekindern

AACHEN. «Gehöre ich mit zur Familie?» Auch Silvana hat sich diese Frage früher immer wieder gestellt. Forscher der Uni Siegen wollen in einer Langzeitstudie mehr über das Leben von Pflegekindern erfahren.

Die Jugendhelfer bemühen sich zunächst vorrangig um eine ambulante Unterstützung der Familien, bevor ein Kind herausgenommen wird. Foto: Lauri Heikkinen / flickr (CC BY 2.0)
Die Jugendhelfer bemühen sich zunächst vorrangig um eine ambulante Unterstützung der Familien, bevor ein Kind herausgenommen wird. Foto: Lauri Heikkinen / flickr (CC BY 2.0)

Ihre eigene Tochter ist sechs Jahre alt. So alt wie sie selbst damals. «Man vergleicht oft», sagt die 32-jährige Silvana (Name geändert) aus Nordrhein-Westfalen. Wie viel anders war doch ihre eigene Kindheit: Mit knapp sechs Jahren kommt sie in eine Pflegefamilie. Die ältere Schwester marschiert irgendwann zum Jugendamt und sagt, dass es so nicht mehr weitergehen könne: Die «Mama» trinkt, der «Papa» prügelt – die fünf Kinder betteln bei Mitschülern ums Schulbrot, sie sind ganz auf sich allein gestellt.

Als Silvana zum ersten Mal die Pflegeeltern besucht, ist der Tisch fein gedeckt. Für sie! Und als sie raus auf den Spielplatz geht, wird sie vorher eingecremt. Was für eine Fürsorge! Sie geht zur Schule, darf reiten. Sie gewinnt Freunde. Die erste richtige Krise kommt, als die Familie «in dieses Kuhdorf» zieht. Das Pflegekind fühlt sich von anderen Kindern gemobbt, hat es schwer, gibt den Eltern die Schuld.

Silvana hat ihre Lebensgeschichte Wissenschaftlern der Uni Siegen erzählt. In einer bisher beispiellosen Langzeitstudie wollen die untersuchen, wie sich das Leben von Pflegekindern bis ins Erwachsenenalter hinein entwickelt. «Die Wissenschaft weiß sehr viel über das Leben von Heimkindern, aber sehr wenig über Pflegekinder», sagt Studienleiterin Daniela Reimer auf Anfrage.

Biografische Interviews

Die Pädagogin und ihr Team haben schon vorher in anderen Forschungsprojekten mit 100 Pflegekindern zwischen 18 und 25 Jahren biografische Interviews geführt. Vier bis acht Jahre später lassen sich die Wissenschaftler von 15 Betroffenen die Fortsetzung der Lebensgeschichte erzählen: Wie ist der Übergang in den Beruf, das Verhältnis zu den leiblichen und zu den Pflegeeltern? Die Pflegekinder sind jetzt Erwachsene zwischen 25 und 35 Jahre alt. Mit einem Abstand von sechs Jahren sollen sie später noch einmal befragt werden.

Silvana ist alleinerziehend und lebt mit ihrer sechsjährigen Tochter in ihrer Eigentumswohnung. Sie arbeitet als Krankenschwester. «Aus mir ist was geworden», stellt sie etwas zögerlich fest. Die Pflegefamilie als positiver Wendepunkt, kein Einzelfall, finden die Wissenschaftler heraus.

Pflegekinder haben in der Regel deutlich schlechtere Startbedingungen: misshandelt, missbraucht, vernachlässigt, Mutter oder Vater süchtig – das sind häufig Gründe, warum Jugendämter Kinder aus den leiblichen Familien nehmen. Tendenziell gehen eher jüngere Kinder in Pflegefamilien – zum einen, weil sie die Familie brauchen und zum anderen, weil Pflegeeltern tendenziell mehr jüngere Kinder bis zu sechs Jahren aufnehmen wollen.

Die Aufnahme in Pflegefamilien könne zum kompletten Wendepunkt im Leben der Kinder werden, sagt Reimer. Dafür müssten Kinder ihre Persönlichkeit entwickeln dürfen, sich akzeptiert und aufgehoben fühlen. Ein sehr sensibler Punkt. «Eine zentrale Frage ist: Bin ich ein normales Familienmitglied?», sagt Reimer. Wenn Verwandte – wie von Pflegekindern in den Interviews geschildert – bei Familienfesten Fotos mit und ohne Pflegekindern machen, dann treffe das einen ganz empfindlichen Punkt.

«Mir hat es an nichts gefehlt», sagt Silvana. Und trotzdem: «Wenn es ein Problem gab, wurde das mit der Frau vom Jugendamt besprochen. Und bei mit kam immer die Angst hoch, dass ich gehen muss», sagt sie. Sie kann bleiben, selbst als sie 18 wird, wo Hilfen und das Pflegegeld des Jugendamtes laut Reimer noch mal extra beantragt werden müssen. «Ich war nicht in der Lage alleine zu leben», sagt Silvana.

Ihre Pflegeeltern nennt sie «meine Eltern». Als sie 21 ist, gibt es Streit mit ihnen wegen des Freundes. Sie zieht aus. Heute sind «Oma» und «Opa» für Tochter und Enkel da. Sie sehen sich alle regelmäßig. «Es war nicht einfach», sagt Silvana. Sie hat nur noch zu einem Bruder intensiven Kontakt. Der leibliche Vater ist tot, die leibliche Mutter sieht sie zwei Mal im Jahr. Sie trinkt immer noch. Von Elke Silberer, dpa

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Nicole Scott
4 Jahre zuvor

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich schreibe an einer Arbeit in meiner Erzieherausbildung über das Thema Pflegekinder und Inklusion. Bei meinen Reserchen bin ich auf Ihren Artikel gestossen: Provozieren, um zu testen“: Pflegekinder haben oft Probleme in der Schule – Studie beleuchtet Hintergründe“ und würde gerne in Erfahrung bringen, ob es noch mehr Informationen zu diesem Thema geben würde.
Ich bin selbst ein Pflegekind gewesen und kann mich mit diesem Artikel sehr gut auseinandersetzen.

Mit freundlichen Grüssen

Nicole Scott