Zu wenig Unterstützung für Grundschüler: “Ein Armutszeugnis für das Bildungssystem“.

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LEIPZIG. Mehr als ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler hatte einer Studie der Universität Leipzig zufolge während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 gar nicht oder nur sehr selten Kontakt zu Lehrkräften. Deshalb mussten die Elternhäuser einiges abfangen, stellten die Psychologen Henrik Saalbach und Susanne Enke Leipzig fest. Dies sei „ein Armutszeugnis für das Bildungssystem“. Im Interview erläutern sie weitere Ergebnisse ihrer Studie zum Zusammenhang zwischen der Unterstützung durch Eltern und Lehrer und den schulischen Fähigkeiten von Grundschülern während der COVID-19-Pandemie.

Kind stützt den Kopf auf die Hand und schaut aufs Heft, wo seine Mutter etwas mit dem Zeigefinger zeigt.
Wohl dem, der Unterstützung durch die Eltern hatte. Foto: Shutterstock

Wie groß sind die negativen Nachwirkungen des Lockdowns vor allem bei Grundschülerinnen und Grundschülern?

Henrik Saalbach: Unsere Studie, die wir gemeinsam mit Kolleginnen aus Freiburg und Landau durchgeführt haben, ist eine der wenigen veröffentlichten Studien, die die Leistungsentwicklung von Schülerinnen und Schülern der Grundschule über einen Zeitraum untersucht hat, der einen pandemiebedingten Lockdown mit einschloss, in unserem Fall den ersten Lockdown im Frühjahr 2020. Tatsächlich basierten die meisten bisher veröffentlichten Studien auf Eltern- und/oder Lehrpersonenbefragungen. Je nach Studie erwarteten etwa ein Fünftel bis zwei Drittel der Befragten negative Auswirkungen der Schulschließungen auf den Lernerfolg. In einer weiteren Studie unserer Gruppe konnten wir jedoch keine substanziellen Defizite durch die Pandemie erkennen. Dieser Befund deckt sich auch mit Ergebnissen von Studien anderer Kolleginnen und Kollegen, die zudem zeigen, dass die Varianz in der Leistungsentwicklung sehr groß war. Das heißt, manche Kinder zeigten tatsächlich große Rückstände, während einige sogar zu profitieren schienen.

Wie viel Prozent der Eltern haben schätzungsweise ihre Kinder als gute Unterstützer beim heimischen Lernen begleitet und wie viele Kinder sind komplett hinten runtergefallen?

Susanne Enke: So pauschal lässt sich das leider nicht beantworten. Hier müssen mehrere Faktoren Berücksichtigung finden: Sprechen wir von bildungsfernen oder bildungsnahen Familien? Hatten die Eltern die Möglichkeit und die Ressourcen, die Herausforderungen die mit Homeoffice, haushaltsbezogenen Aufgaben und Kinderbetreuung einhergingen zu bewältigen, zum Beispiel auch durch Unterstützung aus dem Freundes- oder Familienkreis? Es zeigt sich, dass insbesondere Kinder mit besseren selbstregulativen Fähigkeiten, also Kinder die sich weniger leicht ablenken lassen und besser an Aufgaben dranbleiben, eine größere Unabhängigkeit beim Lernen gezeigt haben. Insbesondere Grundschulkinder benötigen aber für die alterstypischen Entwicklung selbstregulativer Fähigkeiten noch die Unterstützung durch die Eltern und nicht alle Familien konnten dies durch die beschriebenen mannigfaltigen Anforderungen im Lockdown leisten.

Haben die Lehrerinnen und Lehrer in dieser schwierigen Zeit genug für ihre Schülerinnen und Schüler getan?

Henrik Saalbach: Die Ergebnisse unserer Studie deuten darauf hin, dass weniger die Unterstützung durch die Lehrkräfte als viel eher die Unterstützung im Elternhaus die Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler beeinflusst hat. Das könnte aber auch damit zusammenhängen, dass während des ersten Lockdowns mehr als ein Drittel der Schülerinnen und Schüler gar nicht oder nur sehr selten Kontakt zu Lehrkräften hatte, und somit die Elternhäuser einiges abfangen mussten. Das ist natürlich ein Armutszeugnis für das Bildungssystem beziehungsweise die Umsetzung des Fernunterrichts. Von den Rückmeldungen, die die Kinder in unserer Studie zu Schulaufgaben erhielten, wurden jedoch etwa 70 Prozent (Mathematik) beziehungsweise 77 Prozent (Deutsch) von den Eltern als hilfreich eingeschätzt. Eine Studie aus Österreich hat zudem ergeben, dass der sehr wichtige synchrone Online-Unterricht nur in unzureichendem Ausmaß stattfand. Auch wurden kognitiv anregende Aufgaben, die besonders wichtig für den Lernerfolg sind, wohl eher selten im Fernunterricht eingesetzt.

Welche Spätfolgen könnte der lange Schulausfall bei den Grundschülern haben?

Henrik Saalbach: Hier kann bisher nur spekuliert werden; es braucht noch weitere längschnittlich angelegte Untersuchungen. Trotzdem sollte schon jetzt über den Umgang mit möglichen Lernrückständen gesprochen werden. Die letzte Bundesregierung hat hierfür finanzielle Mittel bereitgestellt, um etwa Sommerprogramme oder unterrichtsbegleitende Förderung zu ermöglichen. Hierfür müssen gute und passgenaue Konzepte entwickelt werden. Wie bereits erwähnt, variieren die Lernruckstände sehr stark. Der Zugang zu Fördermaßnahmen sollte jedoch breit ermöglicht wird, damit so viele Kinder wie möglich unterstützt werden. Ob die Kompensationsangebote wirken und bei welchen Kindern weiterhin Förderungsbedarfe bestehen wird, kann etwa durch regelmäßige formelle und informelle Lernstandserfassung über die kommenden Schuljahre hinweg bewertet werden.

Mathematik oder Deutsch (Lese- und Schreibfähigkeit) – in welchen Bereichen gibt es besonderen Nachholbedarf?

Susanne Enke: Entsprechend aktueller Befunde wurde die Beschulung in den Kernfächern Mathe und Deutsch sowie Sachunterricht erfreulicherweise von den meisten Grundschulen ausreichend abgedeckt. Wobei „durch Unterricht abgedeckt“ nicht gleichbedeutend mit „Lernen“ ist. In den Bereichen Kunst, Musik und Sport hingegen gab es deutlich weniger Arbeitsaufträge bzw. Unterricht. Die Auswirkung der Schulschließungen zeichnet jedoch wie besprochen ein sehr heterogenes Bild und die Lernrückstände und deren Rückgang sollten längerfristig über Leistungsmessungen begleitet werden.

Welche Auswirkungen hatte das Homeschooling auf die Psyche der Grundschülerinnen und Grundschülern?

Susanne Enke: Diese Frage lag nicht im Fokus unserer aktuellen Untersuchung. Allgemein lässt sich jedoch sagen, dass soziale Kontakte für die Entwicklung und das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen sehr relevant sind. Virtuelle Kontakte können das nicht kompensieren. Erste Studien finden tatsächlich, dass das Risiko von psychischen Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie substantiell angestiegen und deutlich ausgeprägter als bei Erwachsenen ist.

Die Fragen stellte Susann Huster.

Psychologen und Ärzte schlagen Alarm: Präsenzunterricht um jeden Preis belastet Kinder massiv

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10 Kommentare
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rfalio
2 Jahre zuvor

Frühjahr 2020.
Situation: Kaum ein Lehrer hat einen Dienstcomputer, Bandbreite an der Schule minimal, keine Einigung auf Programme, auch keine vom Dienstherren zur Verfügung gestellt.
Eine völlig neue Situation für alle.
Distanzunterricht erfordert die doppelte Vor- und Nachbereitungszeit, nie sind alle Lernenden gleichzeitig erreichbar, bei vielen mangelt es an Endgeräten, vor allem wenn mehrere Kinder in der Familie sind.
Die meisten Lehrer haben ihr bestes (oder sogar mehr) getan, aber ohne Unterstützung geht halt nix.
rfalio

Hellus
2 Jahre zuvor
Antwortet  rfalio

Noch dazu im 1. Lockdown die Ansage aus dem KM, dass der Distanzunterricht nicht bewertet wird. Kein Wunder, dass ein Teil der SuS und Eltern das als Zusatzferien angesehen hat. Meiner Ansicht nach der Kardinalfehler, der die Ernsthaftigkeit und Wichtigkeit des Distanzunterrichts von Anfang an untergaben hat.

Andre Hog
2 Jahre zuvor

Dazu passend ein Interview mit dem Pädagogen Menno Baumann:

https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/interview-omikron-schulen-kitas-101.html

Bin gespannt, wann die Mehrheitsmedien auf diese KuMi-kritischen Positionen aufspringen…um am Ende des Spektakels nicht als Volldeppen dazustehen, die die skandalösen Vorgänge verpennt haben.

Rüdiger Vehrenkamp
2 Jahre zuvor

Die Studie behandelt also den ersten Lockdown. Dieser erste Lockdown ging nur wenige Wochen und es war – das darf nicht vergessen werden – der erste. Der wurde im Frühjahr 2020 wohl mehr als willkommene Ferienzeit mit einem Lächeln wahrgenommen. Die katastrophalen Zustände bei Kindern und Jugendlichen entstanden durch den ewig langen zweiten Lockdown mit Schulschließungen über mehrere Monate, gepaart mit der damit verbundenen Perspektivlosigkeit. Über die dunkle Jahreszeit hinweg, von Mitte Dezember 2020 bis weit in den Mai 2021, haben viele Kinder keine Schule oder andere Jugendeinrichtung von innen gesehen, Eltern verloren Arbeitsplätze, es fehlte an Freizeitaktivitäten und Gemeinschaften außerhalb des Elternhauses.

Dazu gibt es ja ebenfalls bereits mehrere Studien und die angespannte Situation in psychiatrischen Einrichtungen für Kinder ist wohl kein Geheimnis.

Chris
2 Jahre zuvor

Wir haben noch nicht mal Förderung erhalten, wahrscheinlich weil meine Tochter zu gut ist. Aber Defizite wird sie am Ende der 4.Klasse (also jetzt) sicher haben. Der Spagat zwischen Eltern, die in Berufen arbeiten, die als nicht systemrelevant, aber dennoch nicht Homeoffice tauglich sind, Hausarbeit und Homeschooling war organisatorisch eine Meisteraufgabe. Online – Unterricht wurde im ersten Lockdown gar nicht gegeben, im zweiten an drei Tagen eine halbe Stunde täglich. Mehr nicht! Das ist so peinlich für diese Bildungspolitik.

S.T.
2 Jahre zuvor

Was sich aktuell noch viel drastischer auswirkt, ist der extreme Leistungsdruck der schon auf die jüngsten Schüler aufgebaut wird. Anstatt auf die Idee zu kommen, den Lehrplan wenigstens etwas anzupassen, wird auf biegen und brechen alles in Rekordzeit in die kleinen Köpfe gehämmert. Endresultat sind 90 Min. Klassenarbeiten, mit zig Themen und das im ersten Halbjahr der 3. Klasse. Wie soll ein Kind mit 8 Jahren die Konzentration so lange aufrechterhalten???? Wenn ein Kind sensibel ist, bricht es unter dem Druck zusammen. Nicht außer Acht zu lassen ist der Panikmodus, der ständig aufgefrischt wird.
Es grenzt an seelischer Grausamkeit!!!

Rosa
2 Jahre zuvor

Die Folgen des Ausnahmeszustandes hat in der Entwicklung und Reifung bei den heranwachsenden Kindern tiefe Spuren hinterlassen. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/wie-sehr-leiden-kinder-unter-den-corona-massnahmen-17731946.html?xtor=EREC-7-%5BFamilie%5D-20220123&campID=MAIL_REDNL_AUDI_OWN_na_na_na_na_na_na_na_Familie_PEM21582 Das Aufholprogramm hat sich als Mogelpackung ohne Inhalt heraus gestellt und dies hat für eine Schülergeneration egal welcher Schulform schwerwiegende Folgen.

BL
2 Jahre zuvor
Antwortet  Rosa

Mogelpackung, Verwaltungs- und Bürokratiemonster… Warum nicht einfach mehr Personal einstellen, wenn die Lehrkräfte und Familien auf dem Zahnfleisch gehen? Das Bildungssystem gehört reformiert…und nicht eine Lücke gestopft

Rosa
2 Jahre zuvor

Der Wunsch nach der Forderung zu G9 zurückzukehren wird immer lauter und leider fehlt in BW bei Frau Schopper die Einsicht. Die G8 Schulen haben ein G7 Schuljahr absolviert und verzeichnen große Lernrückstände. Bei Grundschulabgänger stellt sich die Frage welche weiterführende Schule kann ich besuchen nach dieser schweren Lernphase und Lernbedingungen an Schulen. Frau Schpper als KM bekennt sich in einer Bildungskrise für alle Schularten zu den Gemeinschaftsschulen und dies ist ein herber Schlag für alle anderen Schulformen. Sich zu bekennen in einer schweren Lebensphase von vielen Kindern und Jugendlichen ist ein Armutszeugnis von Frau Schopper. Jeder sollte eine Wahlfreiheit haben welche Schule es besuchen möchte und als KM hat sich neutral zu Verhalten in einer schweren Bildungskrise.https://www.phv-bw.de/pressemitteilung-der-arbeitsgemeinschaften-gymnasialer-elternvertreter-arge-in-baden-wuerttemberg-und-des-phv-bw-zur-einfuehrung-von-g9-im-saarland-und-zur-umfrage-des-deutschen-philologenverbands-u/ Der Flickenteppich ist von Herrn Meidinger oft angeklagt worden und man ist nicht bereit einen neuen Bildungsweg einzuschlagen. Auch Herr Scholl vom PhV-BW hat mehrmals aufgerufen ein faires Aufholprogramm zu schaffen an den Schulen und eine gerechte Aufarbeitungszeit der Lernrückstände zu schaffen. Leider kam mit Frau Eisenmann und Frau Schopper keine respektvolle Zusammenarbeit auf Augenhöhe zustande und ist von den Damen auch nicht angestrebt worden. Man hat die Zusammenarbeit mit Füßen getreten und war auch von Machthaberin nicht erwünscht.

Teacher Andi
2 Jahre zuvor

Ein Armutszeugnis für unsere Bildungspolitik sind unsere 16 Kultusministerien, besetzt mit unfähigen Möchtegerns, die nun mal auf diesen Posten gesetzt wurden, ohne Ahnung davon zu haben, und die sich seit ich in diesem Zirkus dabei bin, im Kreis drehen und sich nicht wiirklich für die Belange von Schülern und Lehrern einsetzen. Die zwei großen „B“ (Budget und Bürokratie) wie eine Monstranz vor sich hertragend, der alles untergeordnet wird. Diese seit Jahrzehnten verfehlte und verfahrene Bildungspolitik, welche in die Hände dilettantischer Entscheider gegeben wurde, obwohl Bildung doch unser höchstes Gut sein sollte, wird jetzt verstärkt noch durch die erbärmliche Gangart während der Corona-Krise, gravierende Folgen für uns alle haben. Aber bis dahin sind die Verantwortlichen längst in einem anderen Ressort oder in einem Aufsichtsratsposten tätig und werden davon nicht mehr tangiert.
Es ist alles so unglaublich!!