„Mythos Bindungstheorie“: Ein Kind braucht mehr als nur die Mutter

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BERLIN. Fürsorglich sein und auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen – so hat sich im Westen das Bild einer Mutter durchgesetzt. Anlässlich des Muttertags lohnt ein kritischer Blick auf die Bindungstheorie.

Der Kontakt zu (vielen) Menschen ist wichtig, um soziale Fähigkeiten zu erwerben – dazu kann auch die Großmutter gehören. Foto: Shutterstock

Ein Baby kommt zur Welt, weint und findet Trost an der Brust. «Bonding» – so wird der erste Körperkontakt zwischen Mutter und Neugeborenem genannt, ein Schritt zur körperlichen Bindung. Am Verhalten des Kindes kann die Mutter später im besten Fall dessen Bedürfnisse erkennen und darauf eingehen. Doch soll sie für den Rest ihres Lebens ausnahmslos die hierarchisch wichtigste Bindungsperson für den Nachwuchs sein? Was ist mit dem Vateroder anderen Menschen im Umfeld des Kindes?

Die Erziehungsmethode, in der die Mutter auf alle Interessen des Kindes einzugehen versucht, hat ihren Ursprung in der Bindungstheorie. Die vom britischen Psychoanalytiker und Kinderpsychiater John Bowlby ausgehende Theorie ist in Kindertageseinrichtungen und einer breiten Öffentlichkeit hierzulande anerkannt. Sie setzt für die Entwicklung eines emotional gesunden Menschen voraus, dass er in der Kindheit genug Liebe von seiner Bindungsperson bekommt – sei es von Mutter oder Vater.

Als Bindungsperson gilt der Mensch, den das Kind beispielsweise sucht, wenn es von der Schaukel gefallen ist oder um den es bei einer Trennung besonders weint, wie der Kinder- und Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch erklärt, ein Befürworter der Bindungstheorie. Eine solche Nähe komme in etwa einem Jahr zustande, erklärt der Professor an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg (Österreich).

Zu den Eigenschaften einer Bindungsperson zähle etwa ein feinfühliger Charakter, der auf die Emotionen des Kindes reagiere, so Brisch. Gemeinsam Zeit zu verbringen reiche allein nicht aus. Nur wer fürsorglich sei, könne einem weinenden Kind Trost spenden. Erst dann handle die Bindungsperson bedarfsgerecht.

Dieser Anforderung gerecht zu werden sei allerdings schwierig, findet Heidi Keller, Psychologin an der Hebrew University in Jerusalem. In ihrem Buch «Mythos Bindungstheorie» kritisiert sie, dass die Bindungstheorie im Westen Allgemeingültigkeit beanspruche.

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«Kinder hierarchisieren in der Regel, je nachdem wer feinfühliger mit ihnen umgeht»

Keller zufolge ist es in vielen Kulturen nicht üblich, dass sich nur Mutter und Vater um das Kind kümmern – auch Verwandte, Nachbarn und Geschwister spielten bei der Erziehung eine große Rolle. Der Kontakt zu anderen Menschen sei besonders wichtig, um soziale Fähigkeiten zu erwerben und zu erweitern. Davon würden die Kinder nur profitieren. Ständige Verfügbarkeit könne bei manchen Frauen zudem Erschöpfung oder Burnout auslösen, meint Keller. Denn am Ende stehe die Mutter meist alleine da – oft auch ohne den Vater.

Psychiater Brisch bestätigt, dass Kinder priorisieren und meistens eine oder zwei Bindungspersonen haben: «Kinder hierarchisieren in der Regel, je nachdem wer feinfühliger mit ihnen umgeht». Dies müssten nicht unbedingt Mutter und Vater, sondern könnten auch andere Menschen sein. «Bindung hat nichts mit biologischer Verwandtschaft zu tun», sagt Brisch. Dass sich Kinder eher zu Blutsverwandten hingezogen fühlten, sei wissenschaftlich nicht belegt.

Keller verweist auf eine wegweisende Langzeitstudie der US-Psychologinnen Emmi Werner und Ruth Smith, die Hunderte 1955 auf der Insel Kauai geborene Kinder über 40 Jahre lang begleiteten. Ein Drittel von ihnen war durch schwierige Familienverhältnisse oder Armut einem hohen Risiko ausgesetzt, entwickelte sich aber trotzdem erfolgreich und ohne Verhaltensauffälligkeiten. Grund dafür waren der Studie zufolge nicht die Bindung an Mutter oder Vater – sondern Beziehungen zu Gleichaltrigen, Nachbarn, Lehrern oder auch Ersatzeltern.

Keller zufolge ist es förderlicher, die Kindererziehung mit Blick auf Ressourcen wie die verfügbare Zeit und die Anzahl der Personen zu gestalten. Die strikte Orientierung an eine Theorie könne nicht das Allheilmittel für eine gelungene Erziehung sein. Von Hilal Özcan, dpa

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Marion
1 Jahr zuvor

„Doch soll sie für den Rest ihres Lebens ausnahmslos die hierarchisch wichtigste Bindungsperson für den Nachwuchs sein?“ Für den Rest ihres Lebens? Also bitte! Wer hat denn sowas jemals gefordert?
Bei der Debatte heute geht es doch eher darum, ob es für Kinder wirklich förderlich ist, schon von kleinstauf Vollzeit in öffentlichen Betreuungseinrichtungen untergebracht zu werden. Kann man das Thema nicht mal ein bißchen versachlichen. Es gibt ja auch noch etwas zwischen totalem Übermutter – Kult und 6-9 Stunden täglich Kita ab einem Jahr. Es war mal üblich, Kinder ab 3 bis 4 vormittags in den Kindergarten zu schicken. Für den Rest der Zeit waren sie bei Mama, Papa, bei Freunden, bei Oma, Opa, den Nachbarn, Tanten, Onkeln etc.etc. Heute sind sie von Montag bis Freitag in vielen Fällen von morgens um halb ach bis nachmittags um halb fünf in der Kita. Oft schon mit einem Jahr.
Das ist nicht für jedes Kind gesund und förderlich, Punkt. Und nur darum geht es. Nicht darum Mütter zu lebenslanger „Knechtschaft“ für die Familie zu veturteilen. Was ist denn das für ein bodenloser Unsinn.
Fakt ist, das man heute, selbst auf dem Land, kaum noch Kinder auf der Straße sieht. Und wenn doch, dann meistens Hand in Hand in Zweierreihen brav hinter ihrer Erzieherin hermarschierend oder mit Rucksäckchen auf dem Rücken an der Hand von Mutti oder Vati auf dem Weg zur Kita oder zurück nach Hause. Dazwischen halten sie sich in häufig zu kleinen Räumen mit vielen, vielen anderen Kindern auf oder auf eingezäunten Flächen unter den wachsamen Augen von Erwachsenen. Freiheit? Rückzug? Etwas wagen, ausprobieren, gar was Verbotenes tun? – Fehlanzeige. Dafür optimale Förderung.
Pädagogisch wertvolles Spielmaterial. Von Erwachsenen angeleitete Projekte und „Angebote“, die super auf die Schule vorbereiten. In sog. Beobachtungsbögen eingeordnet, beurteilt, abgeheftet.
Gähn! So aufregend kann Kindheit heute sein. Bin ich froh, daß ich schon über 50 bin und mir das erspart blieb.

Johannes
1 Jahr zuvor
Antwortet  Marion

Meine Zustimmung!

mama51
1 Jahr zuvor
Antwortet  Marion

Ja, …“früher“ galt: Um ein Kind zu erziehen braucht es ein ganzes Dorf!
Heute wird man von den Eltern rund gemacht, wenn man dem Nachbarskind zum Beispiel erklärt, dass es die Tulpen aus einem fremden Vorgarten nicht einfach so pflücken darf…
Wo sind wir hinbekommen…?¿?¿

mama51
1 Jahr zuvor
Antwortet  Marion

…und wenn Drittklässler nicht wissen, wo sie wohnen (in unserem 6000-Seelen- Dorf!!!), Weil sie noch NIEMALS von irgendwoher ALLEINE heimgehen durften, …oder irgendwohin, ohne Aufsicht! Armes Deutschland!

Mary-Ellen
1 Jahr zuvor
Antwortet  Marion

Auch ich feiere noch heute, dass mir eine solche Kindheit erspart blieb und habe viel Wert darauf gelegt, meinem Sohn das Erleben eigener „Abenteuer“ und das Ausprobieren körperlicher und kreativer Fähigkeiten in „freier Wildbahn“ ohne permanente Beaufsichtigung zu ermöglichen, (d.h. Kita nur vormittags).

Die Entwicklung des Ganztagsbetriebs (nahtlose Durchtaktung, kaum Freispiel, wenig Rückzugsmöglichkeiten für SuS) in der GS, an der ich 15 Jahre als LuL-Krankheitsvertretung und päd. Mitarbeiterin im Ganztag gearbeitet hatte, war einer der Hauptgründe, warum ich dort nicht mehr tätig bin:
Durch und durch zeitlich und inhaltlich „verwaltete“ SuS waren nicht das, woran ich noch länger beteiligt sein wollte.

Danke, Marion, auch ansonsten sehe ich es so wie Sie.

Georg
1 Jahr zuvor

Ich habe gehofft, dass der Tenor des Artikels in Richtung traditioneller Familie gehen würde, sprich Vater bzw. Stiefvater und Mutter bzw. Stiefmutter in einem gemeinsamen Haushalt. Aber nein, ein noch extremeres Modell wie heute schon wird propagiert:

Kind soll möglichst früh zu irgendwem und gerne auch zu wechselnden Personen abgeschoben werden. Dass diese Personen sehr oft Frauen sind, kommt für die Jungen noch erschwerend dazu.

Diesbezüglich ist der muslimische Familienbegriff und -zusammenhalt viel besser. Nur ist die Rolle der Frauen und Mädchen problematisch, der Ehrbegriff katastrophal für eine westlich geprägte, freiheitliche Gesellschaft.

Katinka
1 Jahr zuvor
Antwortet  Georg

„Frühkindliche Bildung“ bis hin zur „Abschiebung“ – auch hier gibt es zig Facetten davon, wie man das nun nennen mag, mir sind beide genannten viel zu extrem. Ich bin auch mit 1 Jahr in die Krippe gegangen und es hat mir nicht geschadet. Die Beziehung zu meinen Eltern wurde durch ganz andere Dinge geprägt, was ich heute als Erwachsene mit vielen Jahren Abstand gut sehen kann, aber ganz sicher nicht die „Abschiebung“ oder „Fremdbetreuung“, wie es manche hier gern nennen. Zu der einen Oma bin ich nie gern gefahren, musste in den Ferien aber hin, weil meine Eltern arbeiten mussten. Wäre in dem Fall ja auch eine „Fremdbetreuung“ oder „Abschiebung“ und könnte geschadet haben?
Mir sind manche Ansichten dazu viel zu extrem. Meine Kinder sind auch ab 1-1,5 Jahre in die Kita gegangen (es wäre auch gar nicht anders gegangen) und sind immer gern gegangen. Sie sind fröhlich, haben dort gute Freunde gefunden und haben trotzdem eine enge und gute Bindung zu uns Eltern. Wo genau ist jetzt das Problem? Jeder soll es halt so machen, wie es für die eigene Familiensituation am besten passt, ohne irgendwelche Theorien über Bindungen usw… !

Last edited 1 Jahr zuvor by Katinka
Andreas.Müller
1 Jahr zuvor
Antwortet  Georg

Witziger, entlarvender Beitrag. Erst mit dem „traditionellen“ Familienbild sympathisieren, bei den traditionell die Frau die Betreuung übernimmt. Dann Betreuung durch Frauen für Jungen kritisieren. Dann ein pauschaler Seitenhieb auf Muslime bei gleichzeitigem Lob für deren „Familienbegriff“ und Kritik für die behauptete Rolle der Frau.

Jaja, Frauen an den Herd und zum Kinderhüten, aber dabei bitte nicht muslimisch und ausschließlich weiblich sein.

Georg
1 Jahr zuvor
Antwortet  Andreas.Müller

Wo habe ich behauptet, dass die Mutter die Betreuung zu übernehmen hat? Das sollen die Paare schon selbst untereinander klären. Dass es aus finanziellen Gründen oftmals für den Mann nicht infrage kommt, den Haushalt zu schmeißen, und Frauen häufiger als Männer Wert auf Wirk-Live-Balance legen, spielt dabei überhaupt keine Rolle.

Was finden Sie am Frauenbild im Islam eigentlich so erstrebenswert? Ihre letzten Sätze suggerierten das.

Indra Rupp
1 Jahr zuvor

Bindungsperson 1 : Mama
Bindungsperson 2 : Oma
Bindungsperson 3 : Grundschullehrerin/davor Erzieherin

Grund 1 :Mama ist Hauptbezugsperson und alleinerziehend, 2: Oma war Babysitter, wenn Mama arbeitete, 3 :Kinder verbrachten dann auch noch Zeit anderswo. Allerdings erst mit 3,5 bis 4 Jahren im Kiga und nur bis Mittag, genau wie später in der Grundschule. Gab dort auch Lehrerinnen und Erzieherinnen, die keine Bindungsperson hätten werden können… Hängt also schon von der intensiven Zeit und Abhängigkeit aber auch vom Typ ab.

Trotzdem schreiben so gut wie immer 100 % der Grundschulkinder ins Freundebuch bei „Lieblingslehrer“ die Klassenlehrerin! Bei uns immer 100%!

Zum Glück gab es dann später auch mal einen männlichen Klassenlehrer, der eine relevante Rolle als Bindungsperson einnahm. Wäre im Kiga auch schön gewesen, denn Familie kann nie alles ( jung und alt, männl/weibl, aktiv/passiv, positiv/negativ, ect) was es zum groß werden braucht, bieten. Deshalb heißt es ja auch : Zur Kindererziehung braucht es ein ganzes Dorf.

Das Dorf gibt es in D aber nicht mehr,wie Marion sehr schön beschrieben hat. Gute Kinder in D sind Kinder, die man nicht hört oder sieht. Ein gut erzogenes Kind in D ist ein Kind, das garnicht erst erzogen werden muss. Größter Stressfaktor für Eltern in D : Die ruheverwöhnte Gesellschaft, die sofort mit einer pathologischen Stammtischanalyse kommt, sobald sie ein Kind sehen oder hören. ADHS und Co und man kann es sich als Erwachsener bequem machen und muss nichts mehr aushalten können oder gar an seinem eigenen Nervenkostüm arbeiten – sind einfach alle Kinder heute gestört und liegt garnicht an den schwachen Nerven der Erwachsenen…

Da fallen mir alternde Junggesellen ein, mit Studium als Sozialpädagoge (aber ohne Anstellung) , Drogenlaufbahn, neurotischem Sauberkeitsfimmel, Hass auf Frauen und schwachem Selbstbewusstsein und Narzismus. Und da reicht es schon, dass eine Zweijährige dreimal um den Esstisch gallopiert für die Diagnose „Autismus Spektrum“! Leider hatte er dann doch noch mit 40+ eine Anstellung als Sozialarbeiter bekommen, weil dort händeringend Männer gesucht werden… und meinte selber, er sei dort fehl am Platz, aber gibt immerhin Kohle.

Die Erwachsenen spiegeln unsere neue neurotische Gesellschaft viel mehr als die Kinder!

Echt
1 Jahr zuvor

Die Frage ist doch aus welcher Perspektive der „Bindungstheorie“ begegnet wird. Aus Sicht der Kindes oder aus Sicht der wirtschaftlichen Verwertbarkeit von Familien. Weiterhin fällt mir auf, dass Elternschaft, insbesondere die Mutterschaft, zunehmend als reine Belastung dargestellt wird, wobei die Frage der Belastung durch die Berufstätigkeit hinteran gestellt wird. Gefüttert wird das Ganze von einem vermeintlichem Feminismus, der die Berufstätigkeit der Mutter, besonders auch mit kleinen Kindern als Recht auf Selbstbestimmung und Gleichberechtigung verkauft, während Mütter, die sich einige Jahre für die Erziehung ihrer Kinder aus dem Berufsleben zurückziehen, abgewertet werden.
Die Institutinalisierung der Kindheit wird als bedürfnisorienrierte beste Förderung der Kinder verkauft, die einzig deren Wohlergehen und bestmöglichen Bildungschancen dienen soll. Über die tatsächlichen Realitäten in den Bildungseinrichtungen wird hier täglich berichtet, daher erübrigt sich eine ausführliche Bewertung.
Ich bin bekennende Anhängerin der „originalen“ Bindungstheorie sowohl aus beruflicher als auch aus privater Sicht, mit einhergehenden langjährigen Erfahrungen.
Was mir und meinen Kollegen in der Familienarbeit in den letzten Jahren immer mehr auffällt, ist eine zunehmende Verunsicherung der Eltern und somit auch ihrer Kinder. Die Propaganda der letzten Jahre hat sich so sehr verfangen, dass tatsächlich immer mehr Eltern glauben, selber nicht gut genug für die Erziehung ihrer Kinder zu sein. Sie denken, dass das Kind frühzeitig in die Krippen muss, damit das Kind was lernt. Dies führt aber wiederum auch zu einer Haltung Erziehung zunehmend als Dienstleistung wahrzunehmen und Verantwortung abzugeben. Das ist besorgniserregend und reduziert Familien überspitzt dargestellt auf das Generieren von Humankapital, bei frühzeitiger Aufteilung der Familienmitglieder nach Art der Funktionalität.
Familien sind wirtschaftlich extrem belastet. Die Inflation verstärkt dies immer mehr. Aber wir zahlen auch hohe Steuern und Sozialabgaben, die in eine politisch gewünschte Familienförderung umverteilt wird, statt den Familien mehr selbstbestimmte wirtschaftlichen Freiräume zuzugestehen. Das Paradigma der Familienförderung ist mittlerweile rein wirtschaftlich und wird mit einer vermeintlich feministischen Ideologie untermauert. Freiraum für eine selbstbestimmte freie Lebensgestaltung bleibt vielen Familien kaum noch.
Wirtschaft und Politik denken zu kurz, wenn die familiären Leistungen für die Gesellschaft nicht stärker anerkannt werden. Familien sind keine Inseln, aber durch die Institutionalisierung entstehen keine langfristigen Verbindungen mehr. Familien verbringen weniger Zeit mit anderen Familien, sie engagieren sich weniger gemeinsam für die Gesellschaft (z.B. gemeinsame ehrenamtliche Tätigkeiten, Vereine, Organisation von Familien- und Gemeindefstefeste). Auch wenn diese gemeinsamschatlichen Ereignisse zum Teil genervt belächelt werden, trägt dies doch zum Gemeinwohl bei, kann Kontakte fördern, wirkt integrativ und sorgt für Identifikation. Das soziale Leben wird aber immer stärker auf Institutionen und Berufsleben reduziert.
Somit sind wir wieder beim Thema Bindung. Ich mache die Erfahrung, dass es zunehmend an Ver-bindlichkeit fehlt. In unserer Berufspraxis erfahren wir beispielsweise seit einigen Jahren immer mehr, dass das selbstverständliche Einhalten eines Termines immer weniger selbstverständlich ist. Bei den Kindern und Jugendlichen sind Verabredungen auch weniger verbindlich. Plötzliche Unlust oder ein anderes attraktiveres Freizeitangebot legitimieren selbstverständlich eine kurzfristige Absage. Auch viele Eltern hetzen zum Termin, zum Kindergarten, zur Schule, ausreichend Zeit zum Abschied oder Abholen wird oft wenig Bedeutung beigemessen. Die Kinder sollen frühzeitig lernen zu funktionieren und sich anzupassen.
Bindung braucht gemeinsame Zeit und Aufmerksamkeit. Bindung braucht Verbindlichkeit. Das sind wichtige Faktoren für die Entwicklung innerer Sicherheit. Diese Zeit sollte Familien auch in den ersten Lebensjahren der Kinder zugestanden werden, wenn wir uns eine solidarische und funktionierende Gesellschaft wünschen. In den ersten Lebensjahren brauchen Kinder eine Konstanz der Bindungspersonen und das sind im Regelfall Mutter und Vater. Dabei geht es nicht um beständiges Betüddeln oder Übermuttern, sondern um die Gewissheit das die Bindungsperson verlässlich und verfügbar ist, also einfach, dass sie da ist.

Georg
1 Jahr zuvor
Antwortet  Echt

Danke. Meine Meinung, auch wenn die Anzahl Daumen etwas anderes suggeriert.

Forumsleserin
1 Jahr zuvor

Danke. Solange es verfestigte Rollenbilder gibt, gibt es leider auch die verfestigten Vorstellungen von Männlichkeit. Es würde der Welt guttun, wenn Kompetenzen wie Fürsorglichkeit, Ausgleich, Voraussicht usw. nicht zu sehr auf Frauen festgelegt wäre.
Wir wären auf einem guten Weg gewesen. Wären.

Georg
1 Jahr zuvor
Antwortet  Forumsleserin

Hätte, Durchsetzungsvermögen, Mut, Risikobereitschaft usw. sollen die Männer ablegen? Frauen übernehmen das nämlich nicht.

Pälzer
1 Jahr zuvor
Antwortet  Forumsleserin

„verfestigte Rollenbilder“ gibt es kaum noch. Dafür gibt es immer mehr chaotische und erratische Beziehungen, in der Folge dann verunsicherte, seelisch kranke Kinder. Kann euch in meinen Klassen ein Dutzend Varianten zeigen.

Indra Rupp
1 Jahr zuvor
Antwortet  Pälzer

Bei den festgezurrten Rollenbildern sehe ich diese Varianten ebenfalls….
Man muss natürlich auch deuten, was man darunter versteht. Für den Staat ist die konservative Familie, vorzugsweise bäuerlich auf dem Lande lebend mit Großeltern im Haus und traditionell verteilten Rollen diejenige, die angeblich prozentual die gesündesten Kinder hervor bringt. Im Bezug auf ländlich leben, Natur, Tiere und Familienmitglieder, denen man bei der Arbeit zuschauen kann, sowie selber Verantwortung übernehmen und be“greifend“ lernen, sehe ich das auch so! Das ist aber auch ein Ideal von Ökos, von Waldorf ect und nicht automatisch Konservativ und an traditioneller Rollenverteilung gebunden. Was der Staat wohl viel eher als Ergebnis haben möchte und deshalb als sozial-emotional gesund bezeichnet sind Menschen, die mit 15 Jahren anfangen zu arbeiten, auf dem Bau, im Stollen, im Schichtdienst… und das dann fünfzig Jahre lang nicht in Frage stellen, sondern funktionieren, funktionieren, funktionieren…und dann Kinder hervorbringen, die ebenfalls nichts anderes für ihr Leben sehen. Das sind produktive Menschen für das Land und wenn die das auch garnicht hinterfragen, angeblich gesunde zufriedene Menschen ^^. Nein, Kinder sollen ruhig ein paar Mal in ihrem Leben den Beruf wechseln, wieder etwas anderes machen, ihr Leben umändern und neu gestalten und…. selber denken!

DerechteNorden
1 Jahr zuvor
Antwortet  Indra Rupp

Dagegen spricht, dass der Staat versucht, alle jungen Menschen mindestens in die Oberstufe zu bringen. Am liebsten sollen alle Abitur machen und studieren. Da ich das System bestens kenne, weiß ich auch, wie man das schafft.
Ich erlebe jedes Jahr nur wenige Neuntklässler*innen, die die Schule verlassen, um eine Ausbildung zu beginnen. Selbst meine Zehntklässler*innen streben alle die Oberstufe an, obwohl die nicht geeignet sind. Das System macht es aber möglich.

Dil Uhlenspiegel
1 Jahr zuvor

… dito „Mythos Bildungstheorie“

Cynthia
1 Jahr zuvor

Dieser Artikel ist auf Grund seiner Überschrift sehr irreführend: es ging Bowlby und Ainsworth ja nicht darum, dass die Mutter alleinige Bindungsperson ist. Zu der Zeit, als diese Bindungstheorie aufgestellt wurde, war es traditionell die Mutter, die den Großteil der Erziehung übernommen hat. Somit war sie in der Regel die Person, welche die stärkste Bindung zum Kind hatte. Es geht in der Bindungstheorie schließlich darum, die Art der Bindung zu werten/ einzuordnen. Fakt ist : Die Bindungstheorie ist kein Mythos, sie gilt heutzutage gleichermaßen. Dass in der heutigen Gesellschaft oftmals nicht die Mutter (alleinige) Bindungsperson ist, ist ein ganz anderes Thema.

Cornelia
1 Jahr zuvor
Antwortet  Cynthia

So sehe ich das auch. Man darf keinen Mythos draus machen.
Vor allem gab es früher auch drastische Formen der Fremdbetreuung aus der Not heraus.

Kinder wurden zum Beispiel einfach mal so in fremde Familien gegeben für einen gewissen Zeitraum, Wochen, Monate,ein Jahr, oder auch länger.
Das hatte verschiedene Gründe: Mutter mit vielen Kindern vorübergehend überfordert, Verwandte konnten bessere Erziehung und Ausbildung ermöglichen, Kinder konnten auf dem Land nach dem Krieg besser ernährt werden…. Kleine Kinder kannten nach dieser Zeit ihre Eltern und Geschwister nicht mehr!

Es gab frühe Trennungen von der Mutter, da Mütter oft viele Geburten hatten und das Wochenbett nicht immer überlebt wurde. Dann musste eine Stiefmutter her, dass die Kinder versorgt waren.
Mütter waren durch Landwirtschaft sehr in Anspruch genommen, Kinderbetreuung wurde von Großeltern, Tanten , älteren Geschwistern übernommen. Oder man musste schnell aufs Feld hetzen und die Kinder mitnehmen und dort sich selbst überlassen. Ähnlich war es oft auch in anderen Berufen des Mannes, die Mutter musste selbstverständlich zuerst mal bei der Erwerbsarbeit unterstützen. Viele wären froh gewesen, sie hätten mehr Zeit für ihre Kinder gehabt.

Aber auch bis in die neuere Zeit wurde wenig Rücksicht auf die Gefühle von kleinen Kindern genommen, rooming in bei Krankenhausaufenthalt des Kindes gibt es erst seit ca.30Jahren. In den 50ern wurden kleine Patienten mit Medikamenten ruhiggestellt und wenn die Eltern zu Besuch kamen, durften sie es nur durch eine Milchglasscheibe sehen.

Ich denke, auf diesem drastischen Hintergrund muss man die Bindungstheorie verstehen. Man kann nicht einfach Studien aus einer abgelegenen Insel auf unsere gesamtgesellschaftliche Situation übertragen.

Pälzer
1 Jahr zuvor

Na, hier versucht jemand etwas gegen die Bindungstheorie Stimmung zu machen. Ja, die Ergebnisse der Bindungstheorie stehen immer im Weg, wenn man das postmoderne Kinder“Bildungs“-Konzept durchziehen will.
Aber so hanebüchen simpel sollte man dann doch nicht argumentieren, das merkt jeder.