Kompetenz sinkt! Stiftung fordert mehr Verbindlichkeit fürs Lesen in der Grundschule

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MAINZ. Die Stiftung Lesen wirbt für mehr Verbindlichkeit und Verlässlichkeit in den Grundschulen bei der Leseförderung. Grundschulen hätten gute Erfahrungen gemacht, wenn es eine Art «Leseband» durch die ganze Woche gebe, sagte die Geschäftsführerin der Programme der Stiftung, Sabine Uehlein in Mainz zum Tag der Familie an diesem Montag. Damit Lesen jeden Tag im Unterricht Aufmerksamkeit bekommt, könne mit unterschiedlichen Methoden gearbeitet werden. 

Lesemotivation ist das A und O. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

«Grundschullehrer müssen heute drei bis vier differenzierte Materialien anbieten, so viele unterschiedliche Niveaus gibt es inzwischen in einer Klasse», berichtete Uehlein. Der Stadtstaat Hamburg (der bei der jüngsten IQB-Studie relativ gute Ergebnisse vorzuweisen hatte) engagiere sich in vorbildlicher Weise für das Lesenlernen. So seien dort unter anderem Sprachstanderhebungen schon mit 4,5 Jahren vorgeschrieben und danach verbindliche Fördermaßnahmen.

Leseförderung könne in Grundschulen dann etwa über Tandem-Lesen mit anderen Mitschülerinnen und Mitschülern, Stilllesezeiten oder Wortschatzübungen erfolgen und auch in unterschiedlichen Fächern praktiziert werden. Wichtig sei aber, dass es an jedem Tag einen Moment oder eine Phase im Unterricht gibt, wo Lesen eine Rolle spielt, erklärte Uehlein. Es sollte eine Art von Verbindlichkeit und Verlässlichkeit für die Kinder geben. Ideal wäre, wenn diese Übungen auch noch mit den Betreuungsangeboten am Nachmittag und mit dem Angebot in Ganztagsschulen verknüpft werden.

Wichtig sei in jedem Fall, das Interesse am Lesen zu wecken. «Lesekompetenz und Lesemotivation sind zwei Seiten einer Medaille. Wenn die Leseflüssigkeit und -geschwindigkeit nicht reicht, wird auch kein sinnentnehmendes Lesen möglich», beschreibt Uehlein die Folgen.

«Rund 6,2 Millionen der 18- bis 64-jährigen Deutsch sprechenden Erwachsenen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben»

Genau daran hapert es aber allzu oft. «Vier von zehn Kindern im Alter von ein bis acht Jahren wird zu Hause selten oder nie vorgelesen», sagt Uehlein. «Rund 6,2 Millionen der 18- bis 64-jährigen Deutsch sprechenden Erwachsenen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben.»

Dazu kämen viele andere Gründe: Unsicherheit oder Mangel an Vorbildern etwa. «Viele Eltern fühlen sich vom Vorlesen überfordert.» Andere hätten auch keine Zeit, keinen Raum oder keinen Spaß am Vorlesen. Andere wiederum seien der Meinung, ihre Kinder läsen nicht gerne oder sähen das als Aufgabe der Kitas und Schulen – oder ihnen fehle Material in ihrer Herkunftssprache. Auffällig sei, so Uehlein: «Insbesondere die männliche Perspektive fehlt.» Die Väter engagierten sich zu selten. Und diese Defizite haben durchaus Konsequenzen: «Was in den ersten sechs Jahren an Wortschatz und Spracherfassung nicht gelernt wurde, ist nur extrem schwer zu korrigieren.»

Nach Einschätzung der Fachleute ist es ein guter Weg, wenn Kindern jeden Tag 10 bis 15 Minuten vorgelesen wird. «Wir müssten den Kindern das Versprechen geben: „Wenn Du die Grundschule verlässt, kannst Du lesen“», sagt Uehlein. Vier von zehn Kindern verließen die Grundschule aber mit Schwierigkeiten beim Lesen – in der Pandemie habe sich dies weiter verschlechtert.

«Wir haben uns als Gesellschaft noch nicht klar gemacht, wie viele Kinder in Familien mit anderen Sprachen aufwachsen»

Deshalb würden nun in Kooperation mit sechs Kinderbuchverlagen neun beliebte Bilderbücher übersetzt und seien ab Herbst auch auf Arabisch, Farsi, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Türkisch und Ukrainisch zu haben. «Wir haben uns als Gesellschaft noch nicht klar gemacht, wie viele Kinder in Familien mit anderen Sprachen aufwachsen», sagte Uehlein. «Würde es das Buch nur auf Deutsch geben, würden diese Eltern gar nicht vorlesen», beschreibt sie die Zielgruppe. «Wir lassen zu viel Potenzial liegen, wenn wir sagen, für Dich gibt es nichts.»

Der Lesebegriff müsse zudem «aufgebrochen und vom Sockel geholt werden». «Es geht nicht um das gute Buch. Für jedes Kind und jeden Menschen gibt es die Geschichte, die passt», so Uehlein. «Es muss auch nicht immer ein Buch sein.» Auch mit digitalen Geschichten und in Media-Labs werde Lesen gefördert. «Bei Kleinkindern reicht es auch zu erzählen, was auf Bildern zu sehen ist – das ist auch Vorlesen.»

Nicht nur Eltern können vorlesen. Um mehr Lesepaten aller Altersstufen zu gewinnen, will die Stiftung Lesen am liebsten in allen Bibliotheken und Büchereien einen Hub einrichten, bei dem Leserinnen und Leser direkt angesprochen werden und nach einer kurzen Schulung eine Institution suchen könnten, um Kindern vorzulesen. News4teachers / mit Material der dpa

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Fräulein Rottenmeier
11 Monate zuvor

Ohne jetzt eine der bestimmt unendlichen vielen Studien zum Thema heranzuziehen, bin ich der 100 % igen Überzeugung, dass jede, wirklich jede Grundschule in Deutschland ab dem ersten Schultag des ersten Schuljahres alle Bemühungen unternimmt, die Kinder in ihrer Lesekompetenz zu fördern und nach Kräften zu unterstützen. Sofort nach Einführung der ersten Buchstaben wird gelesen, was das Zeug hält, in jedem Fach vielfach am Tag. Es gibt in sehr vielen Schulen gut ausgestattete Bibliotheken, wo sich Kinder Bücher ausleihen können (auch in anderen Sprachen ), es gibt Lesestunden, Förderbänder, Lesepässe, vielfach differenzierte Ganzschriften, Besuche in der Stadtbücherei, Lesepaten, ritaulisierte Vorlesezeiten und ganze Tage, in denen vorgelesen wird, es gibt Antolin und Anton, es gibt LeseMalHefte und und und…..

Was wir aber nicht können, ist sicherstellen, dass Kindern auch zu Hause unterstützt werden. Wir reden uns zwar den Mund fusselig und laden auch jedes Jahr wieder die Stiftung Lesen zum Elternabend ein, aber mehr als Überzeugungsarbeit können wir nicht leisten. Wenn zu Hause der Trend zum Zweitbuch geht, dann ist das so…..

Es wäre gut, die Eltern gleich nach der Geburt es Kindes davon zu überzeugen, wie wichtig es ist, vorzulesen, vorzusingen, viel zu sprechen. Sinnvoll könnte es also sein, dass schon Hebammen und Ärzte im Krankenhaus mit Eltern dies thematisieren, spätestens aber bei den U- Untersuchungen sollte dies Teil des Elterngesprächs sein. Üblicherweise nehmen Eltern Ärzte ernst und nehmen sich die Ratschläge zu Herzen…..

Lisa
11 Monate zuvor

Danke! Genauso läuft es!

Spätestens ab Klasse 3 gibt es kaum noch Eltern, die vorlesen,
insgesamt gibt es nur wenige Lesevorbilder in den Familien
und zur Beschäftigung nimmt man (Eltern und Kinder!) gerade in den sogenannten „bildungsfernen“ Familien lieber Handy, Tablet und PC zur Hand.

Zudem gibt es in den meisten Klassen so viele andere Baustellen: Verhaltensauffälligkeiten, Lernbehinderungen, LRS/Dyskalkulie und Kinder, die ohne ein Wort Deutsch zur Schule kommen,…

Da stehen wir in der Schule auf verlorenem Posten und können so viel Leseförderung machen, wie wir wollen – das reicht einfach nicht.

GriasDi
11 Monate zuvor
Antwortet  Lisa

Zitat:
„gerade in den sogenannten „bildungsfernen“ Familien lieber Handy, Tablet und PC zur Hand.“

Deshalb: noch mehr Tablets in den Unterricht, noch mehr Bildschirmzeit. Hilft bestimmt wie uns Medienpädagogen Glauben machen wollen.

PaPo
11 Monate zuvor
Antwortet  GriasDi

Mediengattungen statt -inhalte zu problematisieren, ist nicht besonders sinnvoll. Statt Printmedien digitale Medien zu verwenden, kann vorteilhaft sein, von der Reduktion des täglich mittels des Schulranzens zu transportierenden Gewichts der Schüler bis zur Gewöhnung an und Verbesserung im den Umgang mit entsprechenden Medien (d.h. Medienkompetenzen über das stagnative Niveau basalster Bedienung von Bildschirmmedien – das bedauerlicherweise das maximal erreichte Kompetenzniveau des Gros unserer Schüler darstellt – hinaus zu fördern), auch wenn ich die Erosion der Kulturtechnik des Lesens von Printmedien zutiefst bedauere.

Ob ein Text mittels eines Print- oder Bildschirmmediums rezipiert wird, wird nämlich nicht maßgeblich sein, problematisch ist hier doch insg., dass bei „Handy, Tablet und PC“ überhaubt keine zusammenhängenden Schrifttexte mehr in quantiativ (und qualitativ) hinreichendem Maße rezipiert werden. Würden unsere Schüler ihre Bildschirmmedien regelmäßig nutzen, um hinreichend derartige Texte auch über die Unterrichtslektüre hinaus zu lesen, würden wir solche Diskussionen nicht führen: Lew N. Tolstois Krieg und Frieden bleibt Lew N. Tolstois Krieg und Frieden, egal ob ich das Werk in Form eines Buches oder über einen Bildschirm rezipiere.

GriasDi
11 Monate zuvor
Antwortet  PaPo

Unsere Schüler steigen wieder auf das gute alte Buch um, obwohl sie schwerer tragen müssen. Mit den E-Books können Sie schlechter arbeiten, sagen Sie.

Kathrin
11 Monate zuvor
Antwortet  Lisa

Ich glaube, wenn wir der Leseförderung einen wirklichen Vorrang einräumen und auf Kosten anderer Inhalte (da müssen wir realistisch sein) ein tägliches Leseband von 20 Minuten einrichten, können wir die Lesekompetenz der Kinder verbessern. Hamburg ist das einzige Bundesland, im dem die Leseleistung sich verbessert hat. Dort gibt es an einem Drittel der Grundschulen (so mein letzter Kenntnisstand) ein Leseband.
Zum Thema „lieber Handy und Tablet zur Hand nehmen“:
http://www.mulingula-praxis.de/
Hier gibt es Kinderbücher, die in verschiedenen Sprachen vorgelesen werden. Ein Tipp, den man an buchferne Eltern weitergeben kann.

Sandrina
11 Monate zuvor
Antwortet  Lisa

Ach was vermisse ich den roten Daumen.

GriasDi
11 Monate zuvor

Abhilfe: noch mehr Schulfächer. Noch mehr Alltagsaufgaben und Reparaturarbeiten in die Schule verlagern. Dann wird es bestimmt besser.

Georg
11 Monate zuvor

Man könnte doch auch die Standards senken. Das ist einfacher …

GriasDi
11 Monate zuvor
Antwortet  Georg

Passiert doch eh laufend.

447
11 Monate zuvor

Keine Deputatstunden.
Keine dienstliche Anweisung.
Keine Lehr- und Lernmittel.
Keine extra Zeit, Einwirkungsmöglichkeiten, Personal.
Nicht einmal mehr ordentlich Platz im Raum.

Tschüss „Stiftung“ 473 b mit „wohlfeiler Förderung“ 386 a.

Kommt wieder, wenn ihr zu den Forderungen eurer Elitevorsitzenden im Elfenbeinturm MITTEL liefert.

Vorher nicht, danke, tschüss und ….
MESA.

GANZ dickes MESA obendrauf.

A.J. Wiedenhammer
11 Monate zuvor

„Andere (Eltern) hätten (…) auch keinen Spaß am Vorlesen.“
So, so…
Hätte ich beim Kindergroßziehen nur gemacht, was „Spaß“ macht, dann hätte ich vermutlich auch keine Windeln gewechselt.

Versteht mich richtig: leider habe ich beim Problem kein Patentrezept. Auch möchte wohl niemand, dass die Kinder die Defizite in der elterlichen Erziehung ausbaden müssen.
Aber trotzdem habe ich zunehmend den Eindruck, dass dieses Abfedern und Ausgleichen elterlicher Versäumnisse langfristig kontraproduktiv ist. Es scheint immer weiter die Anspruchshaltung mancher Eltern zu befeuern, dass doch gefälligst der Staat, die Schule, die Gesellschaft vollumfänglich für eine halbwegs gelungene Erziehung der eigenen Kinder zu sorgen hat.