„Bildung ist in Bewegung“: Künstler:in Kurze zum Bürgerrat Bildung und Lernen

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BONN. Das Ziel: Wichtige Diskussionen anstoßen, um Deutschlands Bildungssystem zukunftsfähig zu machen. Dafür kommen seit Oktober 2020 regelmäßig zufällig ausgeloste Menschen aus ganz Deutschland im Bürgerrat Bildung und Lernen zusammen – bislang waren es bereits über 700. Erste gemeinsame Empfehlungen haben sie bereits an politische Entscheidungsträger*innen übergeben. Die Diskussionen gehen unter der Frage „Chancengerechtigkeit: Wie viel Freiheit braucht das Lernen?“ weiter. Mit dabei ist Vincenz Kurze, Künstler:in und in der Hansestadt Stralsund kommunalpolitisch aktiv. Ein Interview über die Motivation sowie die Erwartungen an die Politik.

“Das Format bringt sehr viel Potenzial mit sich”: Künstler:in Vincenz Kurze beim Bürgerrat Bildung und Lernen. Foto: Christoph Soeder / Bürgerrat Bildung und Lernen

Im Mittelpunkt der Arbeit des Bürgerrats Bildung und Lernen steht die Frage, wie Bildung in Deutschland in Zukunft aussehen soll. Wieso engagieren Sie sich für dieses Thema? Was ist Ihnen in diesem Zusammenhang besonders wichtig?

Vincenz Kurze: Ich denke, das hängt mit meiner eigenen Biografie zusammen. Ich bin selbst nicht sehr gerne zur Schule gegangen und hatte immer das Gefühl, dass die Schule mir auch keinen Anreiz gibt, dort sein zu wollen. Ich bin jemand, der sehr leistungsorientiert gearbeitet hat und voll dabei war, wenn mich eine Sache interessierte. Aber wenn mich etwas nicht interessiert hat, fiel es mir schwer, mich darauf einzulassen. Das Schulsystem bietet in dieser Hinsicht oft wenig Raum für individuelle Entwicklung. Änderungen in diesem Bereich anzustoßen, das ist etwas, das mich motiviert. Ich finde es schade, dass das Bildungssystem in Deutschland auf der einen Seite sehr vielseitig ist, aber auf der anderen Seite sehr klassische Vorstellungen vertritt. Dinge wie Persönlichkeitsentwicklung sollten meiner Meinung nach einen größeren Schwerpunkt bilden. Kompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu erwerben, ist natürlich wichtig, aber gleichzeitig geht es auch viel um die eigene Entwicklung. Mehr Förderung in diesem Bereich wäre wünschenswert.

Der Bürgerrat setzt sich aus mehr als 700 zufällig ausgelosten Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus ganz Deutschland zusammen. Wie haben Sie diese Art der Beteiligung bislang erlebt?

Vincenz Kurze: Das Format bringt sehr viel Potenzial mit sich. Ich schätze unheimlich, wie strukturiert und ergebnisorientiert gearbeitet wird. Besonders bei den Abstimmungen und im gesamten Prozess war es beeindruckend zu sehen, wie viele verschiedene Punkte zusammengetragen und effizient auf einen gemeinsamen Nenner gebracht wurden. Obwohl so viele Personen mit eigener Bildungsbiografie und eigener Meinung aufeinandertreffen, geht der Fokus nicht verloren. Das könnte schnell in endlosen Diskussionen münden, dazu kommt es aber nicht. Diese Effizienz und Zielorientierung gefallen mir gut.

Ich würde mir allerdings noch eine längerfristige Begleitung wünschen, zum Beispiel jeden Monat einen Fachvortrag oder einen Workshop zum Thema. So würde Kontinuität in der Sache entstehen, und man könnte sich intensiver mit verschiedenen Aspekten beschäftigen, anstatt nur auf die eigene Erfahrung zurückgreifen zu müssen. Dadurch könnte man seine Erlebnisse neu bewerten und vielleicht andere Schlussfolgerungen ziehen.

Im Bürgerrat Bildung und Lernen sind Menschen unterschiedlichen Alters mit unterschiedlichen Berufserfahrungen vertreten: Wie funktioniert der Austausch miteinander?

Vincenz Kurze: Ich habe das Gefühl, dass wir uns alle auf Augenhöhe begegnen, und das finde ich sehr schön. Besonders gut gefällt mir der Austausch zwischen den unterschiedlichen Altersgruppen. Es ist interessant zu sehen, dass jede Gruppe aufgrund persönlicher Erfahrungen unterschiedliche Schwerpunkte setzt. Dadurch wird deutlich, dass Bildung als statisches Konzept, so wie wir sie heute oftmals betrachten, gar nicht existiert, stattdessen hat sie sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert. Bildung ist in Bewegung; viele von uns nehmen das nur nicht so wahr, weil wir uns nach dem Studium oder ähnlichen Abschlüssen oft nicht weiter damit beschäftigen. Das mitzuerleben, ist unheimlich spannend.

Der Bürgerrat Bildung und Lernen wurde 2020 ins Leben gerufen und hat schon einige Ergebnisse vorgelegt: 2021 hat er 15 allgemeine Vorschläge zur Verbesserung des deutschen Bildungssystems veröffentlicht, 2023 Empfehlungen für mehr Chancengerechtigkeit. Haben Sie das Gefühl, dass er von Gesellschaft und Politik gehört wird?

Vincenz Kurze: Das kann ich nur schwer einschätzen. Es gibt zwar Resonanzen aus der Politik, aber die Frage ist, welche Konsequenzen unsere Ergebnisse haben. Das ist einfach schwer spürbar, wenn man ein Ergebnispapier übergibt und an der weiteren Auseinandersetzung nicht beteiligt ist. Vielleicht setzt sich ein Gremium oder eine Arbeitsgruppe vertiefend mit den Vorschlägen auseinander und greift am Ende sogar ein, zwei Ideen von uns auf, um diese weiter zu verfolgen, aber das bekommen wir nicht mit.

Was die Wirksamkeit betrifft, fehlt mir oft die große politische Bühne – auch im Sinne von Teilhabe. Die Räte sollten einem politischen Gremium oder einer Arbeitsgruppe angegliedert sein, sodass wir regelmäßig an den Diskussionen zur Entwicklung des Bildungssystems teilnehmen könnten, statt nur ein Papier abzugeben und abzuwarten. Alternativ könnte ich mir für mehr Teilhabe aber auch vorstellen, dass wir – ähnlich dem Bereich der Lobbyarbeit – eine Vertretung vor Ort hätten, die kontinuierlich auf unsere Anliegen aufmerksam macht. Denn aus meiner eigenen kommunalpolitischen Erfahrung weiß ich, wie schwer es ist, eine Idee wirklich umzusetzen, selbst wenn sie gut ist oder breite Unterstützung erfährt.

Ursprünglich war die Arbeit des Bürgerrats auf drei Jahre angelegt und sollte 2023 enden. Nun wurde der Zeitraum allerdings um ein Jahr verlängert. Was steht als nächstes auf dem Programm? Und was erhoffen Sie sich insgesamt von der Arbeit des Bürgerrats?

Vincenz Kurze: Eine der Punkte, die als nächstes wichtig sein werden, ist die Frage, wie wir das, was wir bislang erarbeitet haben, mehr in die Öffentlichkeit und in die Politik einbringen und für unsere Ergebnisse mehr Aufmerksamkeit generieren können. Denn damit hängt einfach zusammen, wie wirksam letzten Endes unser Engagement auch ist. Anna Hückelheim, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.

Hintergrund: Der Bürgerrat Bildung und Lernen

„Der Bürgerrat Bildung und Lernen hat in den vergangenen Jahren gezeigt, dass er etwas bewegen kann, zum Beispiel bei den Themen Teilhabe und Chancengerechtigkeit“, sagt Sabine Milowan, Projektleiterin und Leiterin der Montag Stiftung Denkwerkstatt, die das Projekt initiiert hat.Es geht auch darum, vorhandene Freiräume zu nutzen, die das Bildungssystem ermöglicht.“

Regelmäßiger Austausch, das Abwägen von Pro- und Contra-Argumenten, Abstimmungen über konkrete Empfehlungen: All das gehört zur Arbeit von Bürgerrät*innen, die in den vergangenen Jahren in verschiedenen Bereichen auf sich aufmerksam gemacht haben. Ihr Ziel ist es, dass gesellschaftlich wichtige Fragen nicht nur auf parlamentarischer Ebene diskutiert werden, sondern dass Bürger*innen aktiv in die Suche nach Lösungen einbezogen werden.

Auch der Bürgerrat Bildung und Lernen hat nun über drei Jahre ganz unterschiedliche Menschen zusammengebracht, damit sie im Sinne einer lebendigen Demokratie gemeinsam über gesellschaftliche und bildungspolitische Fragen diskutieren. Welche Probleme und Herausforderungen müssen im Bildungsbereich dringend bearbeitet werden? Wie könnten bildungspolitische Reformen aussehen, die Probleme lösen und gleichzeitig in der Gesellschaft mehrheitsfähig sind? Und: Wie soll gerechte Bildung in Zukunft aussehen?

Die bisherigen Empfehlungen des Bürgerrats

Im Laufe des ersten Jahres haben die Bürger*innen ein Sofortprogramm zur Umgestaltung des deutschen Bildungssystems erarbeitet und der Politik übergeben. In den zwei folgenden Jahren folgten 15 Empfehlungen zum Thema „Chancengleichheit“, die im Juni 2023 an die Präsidentin der Kultusministerkonferenz übergeben wurden. Die übergeordnete Frage lautete: Wie müssen Rahmenbedingungen aussehen, um in der Bildung echte Chancengleichheit zu schaffen? Dabei haben die Autor*innen Vorschläge für die drei Bereiche frühkindliche Bildung, allgemeinbildende Schulen sowie berufliche Bildung formuliert. Zu diesen gehören beispielsweise „eine verbindliche Förderung der Sprachkompetenz in Kindertagesstätten“, „die Ausweitung des Fachpersonals an Schulen“, „längeres gemeinsames Lernen“ sowie eine „engere Verzahnung von Schulen und Betrieben“.

Hinzu kommen die 21 Empfehlungen des Jungen Bürgerrats. Die Schülerinnen und Schüler haben unter „#besserlernen“ eigene Vorschläge entwickelt und parallel einen offenen Brief an die Politik formuliert. Ihnen geht es beispielsweise um die Themen „Lernen fürs Leben“, „Respekt“ und „Individuelles Lernen“.

Insgesamt setzt sich der Bürgerrat Bildung und Lernen aus mehr als 700 zufällig ausgewählten Teilnehmer*innen aus ganz Deutschland zusammen. Zugleich ist er aktuell der einzige Bürgerrat, der auf Bundesebene aktiv ist und auch Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren einbezieht. Zunächst war die Arbeit des Bürgerrats auf drei Jahre angelegt und sollte Ende 2023 enden. Doch nun wurde der Zeitraum um zwei Jahre verlängert. Das Ziel bleibt das gleiche: trotz unterschiedlicher Sichtweisen gemeinsame Empfehlungen erarbeiten, die Einfluss auf die Bildungspolitik in Deutschland nehmen.

Ins Leben gerufen wurde der Bürgerrat Bildung und Lernen 2020 von der Montag Stiftung Denkwerkstatt. Diese unabhängige, gemeinnützige Stiftung gehört zu den Montag Stiftungen in Bonn und hat sich zur Aufgabe gemacht, gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen, den konstruktiven Austausch zu fördern und Veränderungsprozesse anzustoßen. Anders als die meisten Bürgerräte wurde der Bürgerrat Bildung und Lernen nicht von einem politischen Gremium beauftragt.

www.buergerrat-bildung-lernen.de

Bürgerrat Bildung und Lernen: Was normale Menschen sich für Kita und Schule wünschen (wenn sie sich intensiv damit beschäftigen)

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potschemutschka
1 Monat zuvor

“Künstler:in Kurze” – Wird jetzt auch schon in der Einzahl gegendert, oder soll das ein Hinweis sein, dass Vincent Kurze non-binär ist? Gäbe es da nicht eine “elegantere” Form?

potschemutschka
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Okay, danke! Das ist sein:ihr gutes Recht. Für mich ist es aber trotzdem verwirrend. “Künstler:innen” umfasst männliche, non-binäre und weibliche Künstler, so weit so klar. Aber in einer Person? Das macht auf mich den Eindruck einer multiplen Persönlichkeit. Wenn dem so ist, ist es auch in Ordnung, aber ist es von Vincent Kurze auch so gemeint? Wenn nicht, wäre vielleicht eine andere Anrede besser.

Unfassbar
1 Monat zuvor
Antwortet  potschemutschka

Künstler sind hin und wieder speziell.

Hysterican
1 Monat zuvor
Antwortet  potschemutschka

Nun ja,es kann aber auch der Eigenanspruch sein, besonders offen und in alle Richtungen orientiert zu sein … wir hatten vor einiger Zeit jemanden von der Uni für ein Praxissemester da, der / die sich als “Person … ” ansprechen ließ.
Die SuS waren anfangs sehr irritiert – dann irgendwann ging es.

Und der Künster:innenszene kann es jedoch auch als Etikett verwendet sein – nach dem Motto: ” Seht her, ich bin sowas von am Puls der Zeit”

Überlege gerade, mich für das bald anstehende Dienstjahr konsequent von SL, KuK, SuS und Eltern nur noch als “Einhorn H….” alternativ als “Kühlschrank H…” ansprechen zu lassen.

Das bleibt bestimmt nachhaltig in Erinnerung … ob negativ oder positiv ist dabei im Sinne Oscar Wildes völlig egal.

😉

potschemutschka
1 Monat zuvor
Antwortet  Hysterican

“Person xy” finde ich als Anrede- Variante für non-binäre Menschen (im Singular) besser als Sonderzeichen oder Sprechpausen, denn dann sind sie auch sicht- bzw. hörbar. Im Plural finde ich nach wie vor das generische Maskulinum (oder besser Sexum) am besten, da es alle einschließt, ohne einige als Sprechpause zu “verschlucken”. Aber das ist nur meine ganz persönliche Meinung. Bei allgemeinen Anreden (Doppelnennungen) könnte man ja, der Höflichkeit halber, erweitern: “Sehr geehrte Damen, Herren und andere Personen!”

Pit2020
1 Monat zuvor
Antwortet  Hysterican

@Hysterican

“Einhorn H…” 😉 ?
Alle, die
– nicht in der Mannschaft “alte weiße Männer” mitspielen …
– eine andere Art von Humor bevorzugen …
werden sich übelst getriggert fühlen.
🙂
Und Oscar Wilde war (auch) ‘ne coole Socke!

Unfassbar
1 Monat zuvor

Nach welchen Kriterien wird dieser Rat eigentlich zusammengestellt? Im Artikel steht nur Zufall, auf deren Seite nichts in die Richtung.

Michael Felten
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

Zufallsauswahl aus welcher Gundmenge?

potschemutschka
1 Monat zuvor
Antwortet  Redaktion

@Redaktion
Gibt es auch genauere Angaben zur Zusammensetzung des Bürgerrates z. B. nach Geschlecht, Alter, mit oder ohne Migrationshintergrund, ost-west-sozialisiert (bzw. nach Bundesländern), Stadt oder Land, Bildungsgrad … Es soll ja repräsentativ für die Bevölkerung sein. Leider habe ich dazu nichts gefunden.

potschemutschka
1 Monat zuvor
Antwortet  potschemutschka

Schade, denn das wäre wirklich von Interesse und sicher auch gut für die Resultate dieses Bürgerrates. Nur zufällig ausgewählt, nicht repräsentativ, hat auch nur zufällige Resultate. Wer von den zufällig angeschriebenen sich bereit erklärt wird genommen? Welche Gründe haben Menschen, die angeschrieben wurden für Teilnahme oder Ablehnung? Ich könnte mir vorstellen, dass gerade berufstätige Eltern mit schulpflichtigen Kindern eher ablehnen, aus Zeitgründen z. B., oder Menschen mit Migrationsjintergrund wegen Sprachproblemen, Menschen vom Land wegen der “Infrastruktur”. Es könnte also sein, dass die, die “übrigbleiben” nicht sonderlich repräsentativ für die gesamtdeutsche Bevölkerung sind. Ist nur eine Vermutung von mir, aber sollte dem so sein, ist das Ganze nur ein “Feigenblatt” für die Bildungspolitik.

Anaconda
1 Monat zuvor

Ich finde, alle sollen ihre Meinung sagen dürfen, aber Fachleute sollen entscheiden; Fachleute sind für mich nicht in erster Linie Wissenschaftler, sondern die “Praktiker”, also die Leute vor Ort, sprich die Lehrer. Es gibt auch unter ihnen nicht die eine einheitliche Meinung, aber jede Meinung fußt prinzipiell auf Erfahrungen aus der Praxis.

Einer
1 Monat zuvor

Das Problem liegt doch schon in der Selbstschreibung des Herrn Kurze: ” Ich bin selbst nicht sehr gerne zur Schule gegangen und hatte immer das Gefühl, dass die Schule mir auch keinen Anreiz gibt, dort sein zu wollen. Ich bin jemand, der sehr leistungsorientiert gearbeitet hat und voll dabei war, wenn mich eine Sache interessierte. Aber wenn mich etwas nicht interessiert hat, fiel es mir schwer, mich darauf einzulassen.”
Leben und Schule ist kein Ponyhof. Man muss nun auch mal Dinge, die keinen Spaß machen und nicht interessieren, lernen und leistungsorientiert machen.

A.J. Wiedenhammer
1 Monat zuvor

Bekommen wir nun die persönlichen Ansichten aller 700 Teilnehmer dieses Bürgerrates journalistisch aufbereitet kredenzt?
Oder nur ausgewählte?
Oder wird das auch ausgelist?

potschemutschka
1 Monat zuvor

Ich vermute und hoffe, dass nicht alle 700 hier vorgestellt werden, sondern nur ganz spezielle (besonders interessante) Menschen. 🙂