BOCHUM. Klimakrise, Kriege, digitaler Dauerstress: Kinder und Jugendliche wachsen in einer Zeit voller Unsicherheiten auf. Psychische Gesundheitsfachkräfte sehen sie erstaunlich widerstandsfähig – doch die Zahl seelischer Probleme steigt spürbar.

Psychotherapeutin Andrea Stippel aus Hürth bei Köln spricht von einer starken Jugend, die sich insgesamt überwiegend gut mit aktuellen Themen und Herausforderungen auseinandersetzen könne. Psychiater Veit Roessner aus Dresden beobachtet: «Die Mehrheit ist psychisch stabil.» Die Bochumer Psychologin Silvia Schneider sagt: «Die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen ist psychisch gesund, wobei das nicht bedeutet, dass alle immer nur happy und glücklich sind.»
Aber: Die Zahl der Heranwachsenden mit seelischen Problemen nimmt zu
Die Experten sind sich einig: Die Belastungen haben spürbar zugenommen. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, denen es psychisch schlecht geht, steige seit Jahren, nicht nur in der Pandemie-Phase mit einem zusätzlichen Peak, sagt Schneider von der Universität Bochum, Direktorin des Forschungs- und Behandlungszentrums für psychische Gesundheit. Etwa ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen habe im Lebensverlauf einmal mit behandlungsbedürftigen psychischen Störungen zu tun.
Was macht seelische gesunde Kinder aus?
«Seelisch gesunde Kinder und Jugendliche verfügen über Fähigkeiten, die ihnen ein aktives und konstruktives Leben ermöglichen. Dazu zählen emotionale Kompetenzen wie das Wahrnehmen, Ausdrücken und Regulieren von Gefühlen, ein stabiles Selbstwertgefühl sowie das Vertrauen in die eigene Wirksamkeit», beschreibt Roessner, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Dresden. Nach Belastungen finden sie wieder ins Gleichgewicht.
Sie verfügen über Empathie, können Freundschaften schließen und Konflikte lösen, sind offen für neue Erfahrungen, bewältigen ihren Alltag in Schule und Freizeit. Therapeutin Schneider ergänzt: «Ein seelisch gesundes Kind fühlt sich akzeptiert und sozial verbunden, lernt mit Krisen umzugehen und hat die Gabe, mit einer gewissen Anpassungsfähigkeit gut mit unterschiedlichen Lebensumständen umzugehen und eine Balance zu finden zwischen Freude, aber auch Annehmen und Überwinden von Trauer.»
Es gibt bestimmte wichtige Faktoren und Voraussetzungen
Stabile Bindungen, ein unterstützendes und gewaltfreies familiäres Umfeld, materielle Sicherheit, soziale Teilhabe sowie ein positives Klima um die Kinder und Jugendlichen herum sind wichtige Faktoren. Solche Umweltfaktoren machen aber nur einen Teil aus, wie Roessner betont.
«Seelische Gesundheit entsteht im Zusammenspiel von genetischen Voraussetzungen, individuellen Ressourcen und förderlichen Umweltbedingungen.» Problematisch: Eltern mit eigenen psychischen Belastungen – und damit meist auch Risiko-Genen – könnten ihren Kindern oft nicht die nötigen stabilen Bedingungen verschaffen.
Kindheit und Jugendalter sind von zentraler Bedeutung
«Psychische Gesundheit – oder eben auch psychische Störungen – werden in Kindheit und Jugend angelegt», erläutert Schneider. Wer bis zum Alter von etwa 25 Jahren keine psychische Störung entwickelt habe, werde damit sehr wahrscheinlich auch im Erwachsenenalter nichts zu tun haben.
Fallen Kinder aus einem gesunden Entwicklungspfad raus, gehen etwa wegen Angststörungen nicht mehr in Schule und treffen sich nicht mehr Gleichaltrigen, könne das schwere Folgen haben. «Wer als Kind oder Jugendlicher psychisch nicht gesund ist, macht auch schlechtere Bildungsabschlüsse und ist schlechter gewappnet für die Anforderungen des Erwachsenenlebens.»
Welche seelischen Belastungen und Störungen sind häufig?
Am häufigsten sind Angststörungen, depressive Störungen, ADHS sowie ein gestörtes Sozialverhalten. Psychosomatische Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen können Hinweise sein. Die Entstehung psychischer Probleme kann mit Leistungsdruck, Mobbing, Konflikten mit Eltern oder auch sozialer Isolation zusammenhängen. Meistens kommen mehrere Risiken zusammen.
Kinder und Jugendliche sind Roessler zufolge besonders anfällig für seelische Störungen, denn: «In dieser Lebensphase finden tiefgreifende körperliche, emotionale und kognitive Umstellungen statt, die mit Herausforderungen in der Persönlichkeitsbildung und Identitätsfindung einhergehen.» Auch die hormonellen Veränderungen in der Pubertät spielen eine Rolle.
Risiken im digitalen Raum und sogenanntes Selfblaming
Jugendpsychiaterin Stippel spricht von einem «sensiblen Zusammenspiel zwischen Familie, Kind und Umwelt.» Die Widerstandskraft habe oftmals in der Pandemie-Situation nicht ausgereicht, um Isolation und Einsamkeit zu bewältigen. Die Fachärztin lenkt den Blick auch aufs Internet.
Sozialisierungsräume seien zu einem erheblichen Teil ins Netz verlagert und der digitale Raum sei mit Risiken behaftet, wenn keine Begleitung stattfinde, schildert Stippel, die sich im Aufsichtsrat der Stiftung Achtung!Kinderseele engagiert. Sorgen macht ihr eine häufig zu beobachtende Entwicklung zum «Selfblaming» – extreme Selbstkritik und eigene Abwertung.
Die Jugendlichen vergleichen ihren Körper, ihre Sprache, ihr Verhalten ständig mit Bildern aus dem Netz, fühlen sich unzureichend. «Und das wirklich Schwierige daran ist, dass sie sich dann aus der Scham heraus auch keine Hilfe holen oder sich sehr schwertun, ihre Belastung zu formulieren.» Viele seien derart damit beschäftigt, «richtig» zu sein nach Vorbildern aus dem Netz, dass ihre Identitätsentwicklung mit individueller Einzigartigkeit aus dem Blick gerate.
Prävention und breite Unterstützung so früh wie möglich
Präventionsprojekte und eine Begleitung der Familien etwa durch Erzieherinnen in den Kitas und beim Schulübergang seien wichtig, unterstreicht Stippel und verweist auch auf Angebote der Stiftung. Es brauche dringend einen Ausbau qualitativ gesicherter, gut erreichbarer und besser vernetzter Hilfsangebote, mahnt Roessner. Die Behandlung psychischer Störungen sei hochkomplex.
Expertin Schneider betont, psychische Gesundheitsförderung müsse schon ab Geburt beginnen, man solle sie in allen Lebensbereichen mitdenken, auch in der Ausbildung von Kita-Mitarbeitenden oder Lehrkräften. Und: «Dass Kinder seelisch gesund aufwachsen, ist nicht nur eine Aufgabe der Familien, sondern für die gesamte Gesellschaft.» Von Yuriko Wahl-Immel, dpa