KMK geht aktuell von 300.000 Flüchtlingskindern aus – erstmals: Schule wird zur Notunterkunft

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BERLIN. Sinkende Schülerzahlen? Dieses Problem wird Deutschland in den kommenden Jahren wohl nicht mehr beschäftigen. Im Gegenteil. Allein 2015 muss sich Deutschland auf 300.000 schulpflichtige Flüchtlinge einstellen. Davon geht die Kultusministerkonferenz (KMK) nach einem Bericht der „Welt“ momentan aus – und fordert von den Ländern mehr Lehrerstellen als die bislang geplanten. In Minden wurden am vergangenen Wochenende erstmals 300 Flüchtlinge in einem Schulgebäude untergebracht. Dafür nimmt die Stadt auch Unterrichtsausfall in Kauf. Die Suche nach Kompromissen findet derzeit überall in Deutschland statt.

300.000 Flüchtlingskinder, so schätzt die KMK, werden 2015 die deutschen Schulen erreichen. Das Foto zeigt Jungen vor einem Flüchtlingscamp in Syrien. Foto: Freedom House / flickr (CC BY 2.0)
300.000 Flüchtlingskinder, so schätzt die KMK, werden 2015 die deutschen Schulen erreichen. Das Foto zeigt Jungen vor einem Flüchtlingscamp in Syrien. Foto: Freedom House / flickr (CC BY 2.0)

Mit ein paar Neuberechnungen können die Probleme jedenfalls nicht einfach gelöst werden, darauf weist die KMK-Chefin, Brunhild Kurth, hin. Die  Lehrerstellen in den Ländern wurden unter der Annahme geplant, dass es bis 2025 rund 1,6 Millionen weniger Schüler (17,1 Prozent) im Vergleich zum Jahr 2011 geben wird. „Wir müssen nun mit einem Schülerzuwachs über einen längeren Zeitraum rechnen“, so Kurth.

Geld, das durch sinkende Schülerzahlen eigentlich frei werden sollte, wurde in einigen Ländern als so genannt demografische Rendite an anderer Stelle für das Bildungswesen eingeplant – für den Ausbau von Inklusion und Ganztag. Andere Länder wollten dadurch einfach Geld sparen. Die Beschulung der Flüchtlingskinder droht die Landeshaushalte nun zu überfordern. „Schon wenn 200.000 Schüler kommen und wir alle qualifizieren wollen, dann brauchen wir etwa 16.000 zusätzliche Lehrer“, sagte die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marlies Tepe, gegenüber der Welt. Auch der Deutsche Lehrerverband fordert von den Ländern wegen der steigenden Flüchtlingszahlen erhebliche Neueinstellungen: Josef Kraus rechnet mit einem Bedarf von 15.000 bis 20.000 zusätzlichen Lehrkräften. Die Kosten dafür wären enorm: ein Lehrer kostet Minimum  50.000 Euro im Jahr.

Viele Bundesländer reagieren schon mit neuen Einstellungen. In einem dritten Nachtragshaushalt wird Nordrhein-Westfalen für das gerade begonnen Schuljahr 2625 zusätzliche Stellen schaffen, wie die „Welt“ berichtet. Baden-Württemberg habe die Pläne verworfen, 2015 rund 1830 Stellen zu streichen; stattdessen kommen laut Badischer Zeitung  900 neue Stellen, 562 für spezielle Flüchtlingsklassen. 430 neue Lehrer werden in Rheinland-Pfalz eingestellt, 300 in Sachsen, 232 in Mecklenburg-Vorpommern, 210 in Hessen, 143 in Bayern und 50 in Thüringen. Eine Liste, die immer länger wird; Zahlen die immer weiter steigen.

Hält die Schüler in Deutschland im Schnitt nicht für überlastet: Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Foto: Deutscher Lehrerverband
Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands rechnet mit einem Bedarf von 15.000 bis 20.000 zusätzlichen Lehrern. Foto: Deutscher Lehrerverband

„Natürlich ist es für alle Beteiligten – das Land, die Kommunen, die Schulen – ein enormer Kraftakt, den wir zu meistern haben. Aber die Kinder und Jugendlichen sind auch eine Chance für unsere Gesellschaft“, sagt die Schulministerin von NRW, Sylvia Löhrmann (Grüne) gegenüber der Welt (mehr zum Thema: Wie syrische Flüchtlinge eine Grundschule in Golzow retten). Josef Kraus allerdings plagt die Sorge, dass die Energie nur noch den Flüchtlingskindern gelten könnte.

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Ähnliche Sorgen treiben auch Eltern und Lehrer an der Jahn-Realschule in Minden um. Das Schulgebäude wurde vergangenes Wochenende überraschend zur Notunterkunft für 300 Flüchtlinge erklärt. Wie die Neue Westfälische berichtet wurde den Schülern erst am späten Freitagvormittag die Nachricht in die Hand gedrückt, dass sie das Gebäude mit dem Ende der fünften Schulstunde räumen sollen. Daraufhin mussten 150 Schüler der neunten und zehnten Jahrgangsstufe ihre Schulsachen einpacken und das Gebäude verlassen. Vom Landrat Ralf Niermann erfuhren die Schüler außerdem, dass sie den Rest der Woche frei hätten und der Unterricht danach an einer Nachbarschule fortgeführt werde. Wann an der Jahn-Realschule wieder unterrichtet werden kann, ist völlig offen.

„Die Bereitstellung der Räumlichkeiten für die Flüchtlinge ist nachvollziehbar. Diese Menschen brauchen eine Unterkunft“, sagte ein Vater im Gespräch mit der Neuen Westfälischen, „Was mich jedoch sehr stört, ist die Art und Weise, wie wir darüber informiert werden. Es kann nicht sein, dass man den Schülern einfach ein Stück Papier in die Hand drückt.“

Der Bayerische Realschulverband forderte am heutigen Montag eine gemeinsame Strategie, um die aktuellen Probleme besser zu beseitigen. „Wir müssen aufpassen und Maßnahmen ergreifen, damit die derzeitige Euphorie nicht bald in Ernüchterung umschlägt“, sagte der Vorsitzende des Bayerischen Realschullehrerverbands, Jürgen Böhm, in einer Pressemitteilung. Wenn monatelang der Sportunterricht nicht stattfinden könne, weil Turnhallen belegt sind, wenn sich die Unterrichtsbedingungen verschlechtern würden, weil sich die engagierten Lehrkräfte zusätzlich um die Integration der Flüchtlingskinder bemühen oder wenn die Kommunen anfangen müssen, das Geld für Schulen umzuschichten, um ihren Haushaltsplan zu halten, dann benötige man schnell praktikable Lösungen, um diese Herausforderungen zu bewältigen, so Böhm.

Deshalb schließt sich der brlv der Forderung seines Dachverbands VDR an, der einen zwischen Bund, Ländern und Kommunen abgestimmten langfristigen Integrationsplan für alle schulpflichtigen asylsuchenden Kinder und Jugendlichen verlangt. In dem Plant geht es um die Bereitstellung von qualitativ hochwertigen Unterrichtsangeboten zum Erwerb von Deutschkenntnissen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene,  die Vermittlung von sozialen, kulturellen und politischen Grundlagen sowie die Unterbringung von teils traumatisierten Schülern in speziellen Förderklassen. Darüber hinaus setzt sich der brlv für einen sofortigen Ausbau eines Fort- und Weiterbildungssystems für Lehrkräfte und für die Einstellung von weiteren Schulpsychologen und Schulsozialarbeitern ein.

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