Ein pädagogischer Irrweg? Besuch in einem Mädchengymnasium

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ESSEN. Die Geschlechter getrennt unterrichten – ein pädagogischer Irrweg oder zumindest zeitweilig eine Bereicherung für die Lehr- und Lernatmosphäre? Zu Besuch im Städtischen Mädchengymnasium Essen-Borbeck.

Lernt es sich unter Mädchen leichter? Foto: Old Shoe Woman / Flickr (CC BY-NC-SA 2.0)
Lernt es sich unter Mädchen leichter? Foto: Old Shoe Woman / Flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

An dem Städtischen Mädchengymnasium Essen-Borbeck lernen sie unter sich – ohne Jungen. Bringt das für die Mädchen Vorteile? Glaubt man dem amerikanischen Wissenschaftsmagazin „Science“ lautet die Antwort: Nein. „Die Pseudowissenschaft der Monoedukation“ lautete der Titel einer kürzlich erschienen Ausgabe, in der Psychologin Diane Halpern vom Claremont Mc Kenna College in den USA gemeinsam mit ihrem Autoren-Team Studien heranzog, die vor allem eins belegten: Monoedukation ergibt keinen Sinn. Ist das tatsächlich so?

Katy Wenning schüttelt beherzt den Kopf: „Sicherlich ist Monoedukation kein Allheilmittel und macht allein noch keine gute Schule aus“, sagt die Leiterin des einzigen öffentlichen Mädchengymnasiums in Nordrhein-Westfalen, dem Mädchengymnasium Borbeck in Essen (MGB). Als Pädagogin schlage ihr Herz sowohl für das ko- als auch das monoedukative System, führt Wenning fort – und lächelt. Sie sei aber trotzdem davon überzeugt, dass ihre Schülerinnen von dem „besonderen Angebot“, das ihre Schule bieten könne, profi tieren. An der Rückwand des geräumigen Büros der Schulleiterin prangt ein farbenfrohes Bild. Darauf eine Szene aus dem Märchen „Rapunzel“: die Prinzessin, der Prinz, der Turm – soweit bekannt. Nur hat die edelblütige Dame hier nach dem Herablassen ihrer Haare nicht sittsam auf ihre Rettung gewartet, sondern ist die Sache selbst angegangen: Mit Hilfe eines Düsenantriebs fliegt sie aus ihrem Turmzimmer heraus – der perplex dreinschauender Prinz klammert noch an ihrem Haar. Der Rollentausch als pädagogisches Konzept?

Mädchen könnten hier, so Wenning, unbeeinflusst von dem, was vermeintlich klassische Jungenfächer und -interessen seien, in alle Rollen schlüpfen, sich ausprobieren. Und so komme es, dass „die, die sehr technikbegabt sind, es dann auch zeigen.“ Das Kollegium sei bemüht, den Schülerinnen gerade klassische Männderdomänen bewusst zu öffnen. Ob Robotik-AG, die MINT-Angebote oder auch Projekte und Wettbewerbe im wirtschaftlichen Bereich: Dass die Borbecker Mädchen diese Angebote sehr erfolgreich nutzen, haben unter anderem die Europasiegerinnen im ersten Gründungsjahr des Junior-Wettbewerbs 1999 bewiesen: Sie waren, ebenso wie zahlreiche weitere Landes- und Bundessiegerinnen nach ihnen, Schülerinnen des MGB. Sicherlich sei Mädchenförderung auch in koedukativen Klassen möglich, räumt Wenning ein. „Die stellt in diesen aber eine sehr viel größere Herausforderung an das Lehrpersonal dar, da dieses sich zunächst an die unterschiedlichen Herangehens- und Lernweisen von Mädchen und Jungen anpassen müssen.“ Die Lehrerinnen und Lehrer hätten hier hingegen den großen Vorteil, sehr viel differenziertere Angebote an die Mädchen machen zu können.

Schülerinnen konzentriert über Experimentiertischen

Im Physikunterricht der Klasse 6a findet man 23 Schülerinnen konzentriert über ihre Experimentiertische gebeugt. Auch Julia, Yvonne und Lara führen gerade im sogenannten „Stationenlernen“ einen Versuch durch: In ein Bassin mit kaltem oder warmen Wasser wird eine Glasröhre getaucht, über deren oberen Ende ein Luftballon gestülpt ist. Die jungen Forscherinnen haben schnell begriffen: Warme Luft dehnt sich aus, kalte Luft zieht sich zusammen. „Total interessant“ findet Yvonne den Unterricht. „Es gibt einfach so viel zu entdecken.“ Julia und Lara nicken. Physik, eine Jungensache? „Wieso das denn?“ Blöde Frage, stimmt eigentlich.

„Gerade in der 5. und 6. Klasse ist die Freude bei Mädchen wie Jungen an dieser Lernform, bei der sie Aufbauten anfassen und selbst durchführen können, noch sehr groß“, erklärt Lehrer Dirk Müller-Seisel, der vor seiner Zeit am MGB auch an gemischten Schulen unterrichtet hat. „Mädchen verstecken sich aber in diesem Alter bei dieserart Aufgaben häufig hinter den Jungen, die etwas forscher herangehen.“ Dass die beiden Geschlechter während der Pubertät getrennt unterrichtet werden, bietet nach Meinung des Pädagogen viele Vorteile, besonders in den Naturwissenschaften: „Alte Schemata und Geschlechterrollen gibt es weiterhin, auch in den Köpfen von Eltern. Die müssen ganz dringend aufgebrochen werden.“ Unterricht nur für Mädchen bedeute für ihn, dass er mit den Schülerinnen beispielsweise den gesellschaftlichen Kontext eines Experiments erörtere, wie die Auswirkungen auf das Alltagsleben durch die Entdeckung des elektrischen Stroms. Das interessiere Mädchen besonders – und wecke Neugierde auf mehr. Und wenn die Pubertät durchgestanden ist? Das MGB kooperiert in der Oberstufe mit dem Gymnasium Borbeck, Mädchen und Jungen besuchen dann gemeinsame Kurse. Müller-Seidel hält das für ideal. „Zu dieser Zeit wird der Input vom anderen Geschlecht wieder zu einer großen Bereicherung, unsere Mädchen profitieren davon vor allem sozial.“

Bis zum zehnten Schuljahr sind die Mädchen aber darauf angewiesen, den Draht zum anderen Geschlecht in ihrer Freizeit zu finden und zu halten. Dass sie sich Jungen gegenüber durchsetzen können, fördert die Schule in gezielten Selbstbehauptungskursen, die im Rahmen des Sportunterrichts stattfinden. Ob das reicht, oder es zur normalen Sozialisation gehört, sich auch in der Schule mit dem anderen Geschlecht auseinanderzusetzen, ist Geschmacksfrage von Eltern und Schülerinnen. Ein Mädchengymnasium bleibt ein Schutzraum, das sagt auch Wenning: „Wir bieten hier ein besonders gutes und ruhiges Lernklima, das beispielsweise in der Pubertät vermeidet, dass Energien, die dem Unterrichtsstoff gelten sollten und können, in andere Richtungen verpuffen.“

Marleen ist sich sicher: Ihr hat das Konzept ihrer Schule gut getan. Kerzengerade und mit wachem, offenen Blick sitzt die 17-Jährige im Kreis ihrer Freundinnen. Sie sei jetzt froh, dass seit Beginn des Schuljahres in einigen Kursen auch Jungen in den Reihen säßen. „Das hätte mir schon gefehlt.“ Das Mädchen wirft seine langen Haare zurück und lacht. In den Jahren zuvor allerdings, „musste ich mir nie Gedanken darüber machen, was Jungen gut finden oder ob das, was ich tue, sonst von Jungen getan wird.“ Das habe geholfen, ein gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen – und herauszufinden, was man beruflich werden will. Marleen weiß heute: Der Journalismus ist ihr Ding. Sie moderiert Schulaufführungen, traut sich was – nicht nur vor Mädchen, wie sie inzwischen weiß.

Aus: Forum Schule 1/2012

 

 

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