Hätten Ärzte den Amoklauf von Winnenden verhindern können? Vater verklagt Psychiatrie

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HEILBRONN. 15 Menschen tötete der damals 17-jährige Tim K. 2009 bei seinem Amoklauf mit einer Waffe, die er im Kleiderschrank seines Vaters gefunden hatte. Ein halbes Jahr zuvor war er noch in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie ambulant behandelt worden. Der selbst wegen fahrlässiger Tötung verurteilte Vater des Amokschützen klagt nun gegen die Klinik. Dabei geht es um viel Geld.

Die Pistole liegt geladen im Kleiderschrank seines Vaters, die passende Munition dazu im Nachttisch. Der 17-Jährige greift sie, fährt zu seiner ehemaligen Schule in Winnenden und ermordet acht Schülerinnen, einen Schüler, drei Lehrerinnen und auf seiner Flucht noch drei Menschen. Sein Vater wird später mitverantwortlich gemacht für den Amoklauf und verurteilt.

Die Albertville Realschule, Hauptschauplatz des Amoklaufs von Winnenden vor sieben Jahren: Bild: Cubico / Wikimedia Commons
Die Albertville Realschule, Hauptschauplatz des Amoklaufs von Winnenden vor sieben Jahren: Bild: Cubico / Wikimedia Commons

Am Dienstag (22. März) ist der ehemalige Unternehmer selbst Kläger: Ärzte und Therapeuten des Zentrums für Psychiatrie in Weinsberg bei Heilbronn hätten ihn nicht gewarnt, welche Gefahr von seinem dort behandelten Sohn ausging. Nach diesem Kunstfehler müssten sie Teile der millionenschweren Schadenersatzansprüche tragen.

Als der 17-Jährige spätere Amokläufer vor der Bluttat von Experten im baden-württembergischen Weinsberg begutachtet wurde, hätten sie erkennen müssen, was für eine Zeitbombe er mit seinen Tötungsfantasien war, sagt Erik Silcher, der Anwalt des Vaters. Er spricht von einem «Kunstfehler» der Ärzte. Dieser sei eine Ursache für den Amoklauf gewesen.

Monika Baumhackel hingegen, Anwältin der Klinikexperten, will nicht mal von einer echten Behandlung sprechen. Termine habe es ein halbes Jahr vor dem Amoklauf gegeben, eine Therapie sei nie angetreten worden. Obwohl die Ärzte den Eltern zur Behandlung geraten hätten. Was genau die Fachleute den Eltern am Ende der Treffen geraten haben, wird im Mittelpunkt der Verhandlung vor dem Landgericht Heilbronn stehen. Rieten sie zu sozialen Kontakten? Oder rieten sie dem Vater sogar, seinen Sohn mit in den Schützenverein zu nehmen?

Tim K. hatte am 11. März 2009 an seiner einstigen Schule in Winnenden und auf der Flucht im nahe gelegenen Wendlingen 15 Menschen und sich selbst erschossen. Weil der 17-Jährige die Tatwaffe aus dem Kleiderschrank seines Vaters hatte, wurde der Sportschütze später wegen fahrlässiger Tötung in 15 Fällen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Das Landgericht Stuttgart entschied zudem, dass er für Behandlungskosten von Opfern und Hinterbliebenen aufkommen muss. Der Vater argumentiert, er habe nichts mehr. Seine Firma habe er verkaufen müssen. Andere sagen, er habe sie in Sicherheit gebracht.

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Ein Jahr und neun Monate Haft auf Bewährung lautete das erste Urteil des Landgerichts Stuttgart gegen den Vater. Sein Verteidiger entdeckte einen formalen Fehler, der ein zweites Verfahren nötig machte. Bei diesem gelang es dem Vater, seine Strafe um drei Monate zu senken. Seine erneute Revision blieb dann erfolglos.

Nach Ansicht von Opferanwalt Jens Rabe war die Verurteilung des Vaters im Strafprozess dennoch wegweisend für die Regelung der Geldforderungen gegen ihn. Ohne Prozess gab die Versicherung des ehemaligen Unternehmers rund zwei Millionen Euro. Rabe erinnert sich an «einen langen Kampf». Das Gros seiner mehr als 30 Mandanten bekam dem Vernehmen nach Summen zwischen 20 000 und 25 000 Euro. Ansprüche der Stadt Winnenden beglich die Versicherung mit 400 000 Euro. Die letzte größere Summe, die noch aussteht, sind Forderungen der Unfallkasse für Heilbehandlungen von Schülern, Eltern und Lehrern. Knapp eine Million Euro steht im Raum.

Gisela Mayer hat am 11. März 2009 ihre Tochter Nina verloren, die als Referendarin an der Realschule war. Nina starb kurz vor ihrem 25. Geburtstag. «Auch sieben Jahre danach tut es noch genauso weh», sagt ihre Mutter. Die Prozesse gegen den Vater seien hart, aus heutiger Sicht aber hilfreich gewesen. Hätten sie doch dazu beigetragen, die Bluttat eines jungen Menschen ein Stück weit zu verstehen. Heute wisse sie: Es war «purer Zufall», dass ihre Tochter Opfer wurde.

Amokschütze Tim K. habe Nina genau ein Mal im Leben gesehen. «Das Ganze war wie eine Naturkatastrophe, gegen die man machtlos ist.» Dass Ärzte dem Vater geraten haben könnten, seinen psychisch angeschlagenen Sohn mit zum Schützenverein zu nehmen, hält die Vorsitzende der «Stiftung gegen Gewalt an Schulen – Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden» für absurd: «Ich empfehle doch keinem Menschen, der auffällig ist, sich an der Waffe zu üben.» Aus ihrer Sicht müsse das Gericht auch fragen, ob der Vater den Ärzten gesagt hat, dass sein Sohn Zugang zu scharfen Waffen hatte.

Dazu besteht nun am Dienstag Gelegenheit. Mit einer Entscheidung in der Sache rechnet das Landgericht Heilbronn allerdings noch nicht. (Roland Böhm, dpa)

• zum Bericht: 7. Jahrestag des Amoklaufs von Winnenden – Jetzt beginnt ein Prozess gegen Vater des Schützen
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