Deutschlands Kitas in der Krise: Studie attestiert akute Personalnot – mehr als 100.000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen

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GÜTERSTLOH. In Kitas herrscht Personalmangel – laut einer Studie ist das hochproblematisch. Die Zeit für die Kinder und ihre Förderung schrumpft, die Belastung der Erzieher wächst. Ein Trauerspiel, sagen Experten. Sie fordern mehr Geld, Unterstützung – und Tempo.

Steigende Ansprüche, jüngere Kinder, heterogene Gruppen: Die Arbeit in der Kita wird immer anspruchsvolller. Foto: Shutterstock

Die Kinder kommen immer jünger in die Kitas, die Gruppen werden heterogener, Betreuungszeiten länger – und zugleich wachsen die Aufgaben der Erzieher. Das Ganze bei problematisch wenig Personal, wie es in dem am Donnerstag veröffentlichten «Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme» der Bertelsmann Stiftung heißt. Betreuungsqualität und Erzieher seien belastet. Für eine kindgerechte Betreuung brauche es rund 106.500 zusätzliche Fachkräfte-Vollzeitstellen bundesweit in den Kindertagesstätten. Die Erwartungen an die Kita als Bildungseinrichtung seien gestiegen, nun müsse es auch endlich mehr Geld, Unterstützung und Tempo geben, mahnten zahlreiche Experten.

Im Alltag ist die Betreungsrelation in den Kitas noch schlechter als auf dem Papier

Unter den Bundesländern gibt es laut Analyse deutliche Unterschiede. Der Westen steht viel besser da als der Osten. Die frühen Bildungschancen hängen somit auch vom Wohnort ab. Wichtig ist der Personalschlüssel für die Kita-Qualität: 2018 betreute demnach eine Fachkraft zum Stichtag 1. März rechnerisch 4,2 Kinder unter drei Jahren. Und eine Erzieherin – in der großen Mehrheit sind es Frauen – war für 8,9 ältere Jungen und Mädchen zuständig, also ab drei Jahren bis zur Einschulung.

Studienautorin Kathrin Bock-Famulla zufolge ist aber empfehlenswert: Eine Erzieherin für höchstens 7,5 Jungen und Mädchen in Kindergartengruppen (ab drei Jahre) und eine Kraft für maximal drei Krippenkinder (bis zwei Jahre). Im Alltag ist die Betreuungsrelation noch wesentlich schlechter. Denn ein Drittel der Arbeitszeit entfalle auf nichtpädagogische Aufgaben wie Elterngespräche oder Bildungsdokumentationen. «Bereinigt» kümmert sich nach der «Fachkraft-Kind-Relation» (FKR) also eine Erzieherin um 13,3 Jungen und Mädchen in den Kindergartengruppen. Im Westen ist eine Kraft für 12,2 Kinder, im Osten eine für 17,7 Kinder zuständig.

Im Ranking steht Baden-Württemberg am besten da beim Personalschlüssel, gefolgt von Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Bremen und Bayern. NRW als bevölkerungsreichstes Bundesland liegt unter den West-Ländern etwa im Mittelfeld. Am dünnsten ist die Personaldecke im Osten. In einigen Ländern wie Bremen oder Thüringen habe sich die Ausstattung verschlechtert oder stagniere. Brandenburg, Sachsen-Anhalt oder Hamburg hätten sich klar verbessert. Mecklenburg-Vorpommern sei ein Qualitätssprung gelungen, es bleibe aber Schlusslicht. Dort kommt eine Person in den Kindergartengruppen auf fast 20 Jungen und Mädchen, sieht man die Fachkraft-Kind-Relation.

Die Arbeitsbelastung für die Erzieherinnen und Kitaleitungen ist sehr hoch

«Die Personalschlüssel verbessern sich vielerorts zu langsam», kritisierte Bock-Famulla. In zahlreichen Kitas könne der Nachwuchs nicht kindgerecht betreut werden, die Arbeitsbelastung für die Fachkräfte sei sehr hoch. Und die Anforderungen in den zunehmend heterogenen Gruppen sind gestiegen, die individuelle Zuwendung wird wichtiger, wie Wissenschaftlerin Gabriele Flösser von der Uni Dortmund der Deutschen Presse-Agentur sagte. «Da ist die sprachliche Förderung besonders für den hochgeschnellten Anteil zugewanderter Kinder oder auch die Inklusion, die dazu führt, dass sich eine Kraft eigentlich nur um ein Kind kümmern müsste.»

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Die Leiterin der Instituts für Pädagogik der Frühen Kindheit mahnte: «Wir brauchen eine ganz andere Fachkräfte-Kind-Relation. Wenn die Zeit pro Kind auf eine Viertelstunde am Tag zusammenschrumpft, ist das fatal.» In Gruppen mit wenig Personal sei die Erzieherin vor allem damit beschäftigt, «die Ordnung aufrechtzuerhalten», gab Bildungsforscherin Sabine Riedel vom Deutschen Jugendinstitut zu bedenken. Zurückhaltende Kinder würden dann eher übersehen.

Der Arbeitsmarkt für Erzieherinnen und Erzieher ist leer gefegt

Aber woher sollen die Fachkräfte kommen? Der Markt ist leer gefegt. «Wenn wir die Erzieherinnen im System behalten und neue Fachkräfte gewinnen wollen, müssen die Rahmenbedingungen verbessert werden», forderte Bock-Famulla. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi verlangte eine Reform der Ausbildung, eine angemessene Azubi-Vergütung, eine Aufwertung des Berufs und einheitliche, bessere Arbeitsbedingungen für Erzieherinnen. Die Bildungsgewerkschaft GEW mahnte eine «nationale Strategie» an.

Forscherin Riedel zufolge wird dem Erzieherberuf zu wenig Wertschätzung entgegengebracht. Die Ausbildung in Deutschland sei anspruchsvoll. Das Deutsche Kinderhilfswerk sprach von einem «Trauerspiel» und bemängelte: «Diese Bummelei bei der Verbesserung der Kita-Qualität ist fahrlässig und muss ein Ende haben.»

Dabei hat sich bereits etwas getan. Binnen zehn Jahren bis 2018 kletterte die Zahl des pädagogischen Personals um 54 Prozent auf gut 582 100 Mitarbeiter bundesweit. Aber das reiche nicht – und der Personalbedarf werde weiter wachsen, prognostizierte Bock-Famulla. Das belegten auch die neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes: Demnach gab es zum Stichtag 1. März 2019 bei den Kleinsten unter drei Jahren Zuwächse – fast 818 500 Knirpse besuchten eine Kita oder Tagesmutter. Und auch bei den Größeren ab drei Jahren – fast 2,13 Millionen Kinder – meldete Destatis am Donnerstag wieder Wachstum.

Das Geld aus dem „Gute-Kita-Gesetz“ müsste in die Qualität investiert werden

Die Studienmacher appellierten, die geplanten insgesamt 5,5 Milliarden Euro des Bundes, die demnächst aus dem «Gute-Kita-Gesetz» bis 2022 an die Länder fließen sollen, müssten möglichst für Personal ausgegeben werden – also nicht für Beitragsfreiheit. Die frühkindliche Bildung sei seit langem finanziell stark unterausgestattet, betonte auch Flösser. Von Yuriko Wahl-Immel, dpa

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

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Herr Mückenfuß
4 Jahre zuvor

Als Gegenmittel (Lösung) kommen zwei Varianten infrage:

a) abgeschaut von den Lehrern: Gehaltserhöhung

Nur dann wollen vielleicht alle Erzieher werden und keiner mehr Lehrer, Krankenpfleger, Polizist, Handwerker etc., also

b) Zuwanderer aus Mexiko, dem Kosovo und von den Philippinen anwerben (a la Spahn-Idee).

Die wären wohl glücklich über unsere Gehälter, aber wie schaffen wir die Integration und was/wer bleibt dann für die Kinder in den Heimatländern?